Subversive Schatten an der Wand

In dem Sammelband „Gegen die Wand“ beleuchten Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen am Beispiel des Motivs der Wand subversive Positionierungen von Kunstschaffenden

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn in Werken von Literatinnen und bildenden Künstlerinnen öfter einmal metaphorisch aufgeladene Wände eine größere Rolle spielen oder sie gar im Zentrum des literarischen Geschehens oder des Kunstwerkes stehen, ist das bei Lichte betrachtet wenig verwunderlich. Daher ist es wohlbegründet, dass sich die Vorträge einer im Sommersemester 2018 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder veranstalteten Ringvorlesung mit diesem Phänomen befassten.

Julia Freytag, Alexandra Tacke und Astrid Hackel haben nun unter dem Titel Gegen die Wand einen auf der Veranstaltungsreihe basierenden Sammelband herausgeben. Zwar haben sie seine zwölf Beiträge nicht zu thematischen Gruppen zusammengefasst und als solche im Inhaltsverzeichnis rubriziert, doch ist eine bestimmte Anordnung unverkennbar, die von literarischen Texten über Werke der bildenden Künste zu (Bühnen-)Performances gelangt, wobei sich Astrid Hackel den (Foto-)Performances von nicht weniger als sechs Künstlerinnen zuwendet.

Entgegen der Ankündigung im Untertitel des reich und teilweise farbig bebilderten Buches behandeln sie allerdings nicht nur Werke von Frauen, sondern auch solche von Autoren und Künstlern. Einer der Beiträge befasst sich sogar ausschließlich mit diesen. Zuvor weisen die Herausgeberinnen in ihrer aufschlussreichen Einleitung jedoch zu Recht darauf hin, „dass es vor allem weibliche Kunstschaffende sind“, „die sich nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch zu Wänden positioniert haben“. Dies hänge mit den „häuslichen, mütterlichen und fürsorglichen Pflichten“ zusammen, „die Frauen ihren Platz innerhalb des Hauses zuwies[en]“, wohingegen Männer „im geschmeidigen Passieren von Grenzen versiert[.]“ seien.

Gerade im 20. Jahrhundert, insbesondere aber seit dem feministischen Aufbruch der 1970er Jahre setzen sich Literatinnen und Künstlerinnen „im Gestus der Emanzipation sowie der damit einhergehenden Subversion“ mit verschiedensten metaphorischen oder realen Wänden auseinander. Dabei sei die Wand, „an der sich Künstlerinnen abarbeiten, in die sie eingehen, zu der sie werden, gegen die sie rebellieren und von der sie doch letztendlich verschluckt zu werden drohen“ oft „weniger ein reales, sondern vielmehr ein imaginäres Objekt, das paradoxer Weise den Zugang zur Außenwelt verschließt und abschirmt, zugleich aber einen Durchblick und Ausblick eröffnet“.

Liegt das Hauptaugenmerk des Bandes auf der künstlerischen und literarischen Bearbeitung des Motivs in Werken von Frauen, so behandelt Alexandra Tacke im ersten Beitrag neben dem um 1900 entstanden Text einer Autorin auch Bilder zweier zeitgenössischer Maler. Anhand Édouard Vuillards Interieurs und Gustav Klimts Frauenporträts sowie Charlotte Perkins Gilmans Roman Die gelbe Tapete wendet sie sich „verschlingende[n] Wände[n] und sprechende[n] Tapeten“ zu. In ihrem luziden Aufsatz zeigt sie, dass die Ästhetik und die Technik der Frauen „verschlingende[n] Wände“ Vuillards sich zwar von der „üppige[n] Ornamentik“ der vergoldeten Frauenporträts Klimts eklatant unterscheiden mögen, jedoch sowohl Vuillards „postimpressionistische[.] Interieurs“ wie auch Klimts „repräsentative[.] Frauenporträts“ die „geschlechterpolitischen Veränderungen“ ihrer Zeit „kritisch reflektier[en]“, indem beide „auf das Motiv der Wand zurückgreifen“. Nicht nur in den Werken der beiden Maler, auch in Perkins Gilmans gelber Tapete werde „die Frau in der Wand […] zum symbolisch-verdichteten Bild für die damalige Situation der bürgerlichen Frau“. Dabei wirkten Vuillards „Un/heimliche Frauenbilder“ in Perkins Gilmans Erzählung geradezu wie „verlebendigt“.

Die Schriften zweier Autorinnen behandelt Inge Stephan in ihrem Aufsatz Geheimnisvolle Zeichen. Es sind dies ein fiktionaler und ein non-fiktionaler Text. Zum einen leuchtete Stephan die, wie sie sagt, bei der ersten Lektüre leicht zu übersehende „Tiefe“ in Virginia Woolfs wenig bekannter Kurzgeschichte Mal an der Wand aus. Zum anderen wendet sie sich dem ersten Teil von Hilda Doolittles Huldigung an Freud zu, in dem die Freud-Schülerin unter dem Titel Die Schrift an der Wand von einer bei ihrem Lehrer durchgeführten Analyse berichtet, die ein Schreibblockade auflöste, die durch eine Schrift ausgelöst worden war, die ihr Jahre zuvor an einer Hotelwand erschienen war. Geht Stephan den „rätselhaften Sendungen des eigenen Unbewussten“ nach, von denen Doolittles Huldigung handelt, so analysiert sie Woolfs Text als „Träger[.] beängstigender Botschaften von außen“. Beiden gemeinsam sei, dass sie auf der „Suche nach Sinn und Bedeutung“ die Wand als „Motiv und Metapher [benutzen]“.

Mitherausgeberin Julia Freytag wiederum geht, nicht zuletzt unter Rekurs auf Elke Brüns’ Studie außenstehend, ungelenk, kopfüber weiblich, dem Schreiben hinter der Wand bei Marlen Haushofer nach. Dabei legt Freytag ihr Hauptaugenmerk auf deren wohl bekanntesten Roman Die Wand, in dem „[d]as Thema weiblicher Autorschaft […] besonders eindrücklich […] verhandelt“ werde. Denn der Roman „erzählt davon, wie sich ein inneres und äußeres Eingeschlossensein in einen schöpferischen Raum verwandelt, während die Wand in ihrer Ambivalenz zwischen Idylle, Schutz und Begrenzung bestehen bleibt“. Dabei stelle sie „auch einen inneren seelischen Raum dar, der aus traumatischen Erfahrungen hervorgegangen und mit Phantasien der Idylle besetzt ist, um Ängste zu bannen“.  Darüber hinaus zeigt Freytag, dass „begrenzende, trennende aber auch schützende, abschirmende Wände“ in anderen Werken der Schriftstellerin wie etwa in Die Mansarde und Die Tapetentür, aber auch in Wir töten Stella und Himmel, der nirgendwo endet ebenfalls „ein zentrales Motiv“ sind.

Nach dem interessanten und erhellenden Beitrag Freytags geht Kerstin Rose der Problematik von (Ab-)Trennungen in Ingeborg Bachmanns „katalytische[n] Schlüsseltext feministischer Lektüren“ Malina nach. 

Mit Elfriede Jelinek wendet sich Julia Prager einer dritten Österreicherin zu. In dem theoretisch anspruchsvollsten, wenn nicht gar etwas hermetischen, jedenfalls recht hoch im Elfenbeinturm angesiedelte Beitrag nähert sie sich dem „bereits in die Jahre gekommenen“ V. Prinzessinnendrama Jelineks unter Bezugnahme auf die „feministische wie auch neu-materialistische Quantenphysikerin“, Diffraktions-Theoretikerin und Schöpferin des Konzepts der Intra-Aktion Karen Barad, um zu zeigen, dass „Konfrontationen von Wänden als erkenntnistheoretische Metaphern, literarische Motive der Abgrenzung und Isolation, theatrale Wahrnehmungsdispositive und Bühnenrequisiten in einen Zusammenhang mit (literarischer) Diffraktionsforschung zu bringen“ sind. Zuvor aber erläutert sie kurz das hierzulande nicht allzu bekannte Konzept der Diffraktion:

Anstelle einer hierarchischen Methodik, die verschiedene Texte, Theorien und Denkrichtungen gegeneinander ausspielt, versucht die diffraktive Praxis unterschiedliche Texte und intellektuelle Traditionen ‚durcheinander hindurch’ zu lesen und dabei kreative wie unerwartete Ergebnisse zu produzieren.

Doch nicht nur die Literaturwissenschaft könne diffraktiv verfahren, Prager will zudem „herausarbeiten“, dass V. Prinzessinnendrama selbst „diffraktiv verfährt“. Welchem Geltungsanspruch für seine Darlegungen und Folgerungen der diffraktive Ansatz erhebt, wird bei all dem allerdings nicht ganz klar.

Zwar konzentriert sich Prager auf Jelineks Stück, doch wirft sie auch einen Blick auf Bachmanns Roman Malina, dessen

rücksichtslose Verkopplung von Figuren, Personen und Texten […] die ins Leere laufende Destruktivität inversiv angelegter feministischer Forderungen [exponiert], die einer dichotomen Weltordnung verpflichtet bleiben, insofern die Machtverhältnisse lediglich verschoben oder sogar umgekehrt werden und Entitäten wie ‚Mann’ und ‚Frau’ unangetastet bleiben. 

Mit diesem, wie ein Fußnotenverweis auf „Butlers Kritik an einem essenzialisierend operierenden Feminismus“ zeigt, kritisch gemeinten Befund baut Prager allerdings einen ‚feministischen’ Pappkameraden auf. Zwar mögen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren feministische Utopien wie Gerd Brantenbergs Egalias Døtre und Ésme Dodderiges The New Gulliver erschienen sein, in denen die patriarchalen Geschlechterverhältnisse auf satirische Weise umgekehrt wurden. Doch werden schwerlich FeministInnen zu finden sein, denen dies tatsächlich erstrebenswert erscheint. Zudem dürfte es gar nicht so einfach sein, heutzutage FeministInnen auszumachen, die einer dichotomen Weltordnung verpflichtet bleiben. Denn an den „Entitäten“ Frau und Mann festzuhalten, bedeutet noch lange nicht, einer dichotomen Sichtweise anzuhängen. Und Machtverhältnisse zu „verschieben“, ist so schlecht ja auch nicht. Was Prager stattdessen vorschwebt, sagt sie nicht. Die Auflösung aller Machtverhältnisse in allgemeiner Anarchie? Das wäre wahrhaft utopisch. 

Etwas Verwunderung ruft schließlich noch hervor, dass Prager an dem Titel Der Fall Franza zur Bezeichnung eines Fragments aus Bachmanns Todesarten-Projekt festhält, von dem sich die Forschung schon lange zugunsten Das Buch Franza verabschiedet hat. Britta Herrmann legte 2002 Im Ingeborg Bachmann Handbuch den Grund dafür dar: 

Wie die kritische Ausgabe des Todesarten-Projektes von 1995 belegt, stützt eine Reihe von Briefen […] die Vermutung, daß Bachmann sich zuletzt für Das Buch Franza entschied.

Instruktiv ist hingegen Julia Boog-Kaminskis Beitrag, der sich sehr detailliert mit der Bildsprache des Kinder-Bilderbuchs The Wolves in the Walls von Neil Gaiman und Dave McKean befasst. Etliche Abbildungen machen ihre Argumentation leicht nachvollziehbar.

Nicht für Literatur, sondern für die Kunstform der Fotografie interessiert sich Anne Vieths Aufsatz Der Wand als Raumkonstituente begegnen, in dem sich die Autorin zunächst mit Fotografien des KünstlerInnenpaars Vera Lehndorff und Holger Trülzsch, sodann mit Arbeiten von Brigitte Jürgenssen, deren berühmtes Selbstporträt Ich möchte hier raus auf dem Umschlag des Buches prangt, und schließlich mit je einem Werk von Monica Bonvicini und Johannes Esper befasst. Für die „Wandbilder“ von Lehndorff und Trülzsch wurde Lehndorffs Körper so bemalt, dass sie vor der Wand, vor der sie steht, kaum zu erkennen ist, um den „den häufig bemühten Topos [zu visualisieren]‚ ‚in der Wand verschwinden [zu] wollen’“ als auch „den damit einhergehenden Wunsch [zu thematisieren], sich aufzulösen und sich selbst zu entkommen“. Ähnlich wie das KünstlerInnen-Duo und seine Fotografien befassen sich auch die Arbeiten der anderen genannten KünstlerInnen mit „der sozialen Funktion sowie der geschlechtsspezifischen Bedeutungsaufladung von Wänden und Räumen“. 

Ganz den Werken von Monica Bonvicini gilt der Beitrag von Elena Zanichelli, während Andrej Mirčev den Strategien der (Ent-)Subjektivierung in den Fotografien von Francesca Woodman nachgeht und die These vertritt, dass die Wand „eine entscheidende Rolle für die zwiespältigen, affektiv-körperlichen Inszenierungen“ der Künstlerin spielt. Nebenbei bemerkt handelt es sich bei ihm um den einzigen Mann, der mit einem Aufsatz in dem vorliegenden Band vertreten ist.

In einem weiteren lesenswerten Beitrag schlägt Mariama Diagne einen weiten Bogen von der bei Plinius erwähnten Erfinderin der Kunst des Schattenrisses (einer bei dem antiken Dichter selbst namenlos bleibenden Tochter des Töpfers Butades) über Ballettpantomimen des 19. Jahrhunderts und Pina Pauschs Inszenierung Café Müller bis hin zu den „kolonialen Wandschatten“ in Zwoisy Mears-Clarkes 2019 in Berlin uraufgeführter Performance Worn and Felt. Dabei gilt ihr Interesse vorrangig „der Verknüpfung von (unsichtbaren) Wänden, dem Werfen von Schatten und der Rolle weiblicher Figuren“. Wie sie an verschiedenen Beispielen aus Tanztheater und Performance überzeugend verdeutlicht, „stehen die klassischen Schlagschatten der europäischen Kunst- und Bühnengeschichte vornehmlich in Verbindung mit Bühnenfiguren, die das jeweils herrschenden Bild der Frau repräsentieren“.

Wie nicht selten so sind auch die Beiträge des vorliegenden Bandes von unterschiedlicher Qualität und Überzeugungskraft. Die ganz überwiegende Mehrzahl aber ist kenntnisreich, erhellend und instruktiv.

Titelbild

Julia Freytag / Astrid Hackel / Alexandra Tacke (Hg.): Gegen die Wand. Subversive Positionierungen von Autorinnen und Künstlerinnen.
Neofelis Verlag, Berlin 2021.
344 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783958082557

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