Unzuverlässige Kriegsberichterstatter

Miljenko Jergovićs Roman „Der rote Jaguar“, eine Abrechnung

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Derart unzuverlässige Berichterstatter muss man lange suchen, jedenfalls in der Welt der Literatur. Allein, die beiden Hauptfiguren dieses Romans – beide kommen aus Bosnien und sind doch keine Bosniaken, der eine ist Serbe, der andere Kroate –, die hier unentwegt erzählen und erzählen und dabei immerzu versuchen, sich ins rechte Licht zu setzen, sind in ihrem Selbstverständnis alles andere als überspannt oder unredlich, vielmehr durch und durch seriös, unbestechlich, grundanständig, vertrauenswürdige Reporter in einer Zeit permanenter Umbrüche und Kämpfe, in der fast alles aus dem Ruder läuft. Es ist nämlich nur scheinbar eine Zeit des Friedens; der Krieg wird nicht mehr erklärt aber weiter fortgesetzt.

Zeit der zentralen Handlung: 30 Jahre nach den so genannten Jugoslawienkriegen in den 1990er Jahren, die zur Auflösung des Vielvölkerstaates und zur Zerrüttung unendlich vieler, wenn nicht aller eingespielten Sicherheiten (vor allem in sozialen Belangen) geführt haben. Vielleicht 2026/27, circa. Die bosnischen Schriftsteller schreiben nach wie vor „über die Schrecken von Kriegs- und Nachkriegszeiten“, aber Zoran, der Serbe, liest ihre Bücher schon lange nicht mehr, eben darum. 

Zoran braucht eigentlich überhaupt keine Literatur; er möchte und könnte denn auch keinen Roman schreiben, bekräftigt er hin und wieder, obwohl er zugleich x-fach einräumen muss, dass ihm die Pferde gerne durchgehen, wenn er schon einmal ins Erzählen kommt. Er stammt aus Sarajevo. Aber nicht etwa mitten im Krieg, sondern erst danach verlässt er die Stadt, von einem Freund dazu ermuntert, gemeinsam mit seiner Frau Borka (d. i. die Kämpferin) nach Wien überzusiedeln und sich dort neu einzurichten. 

Das muss ich mir mal erklären lassen, von einem Psychiater, Anthropologen oder Schriftsteller, wie das sein kann, dass wir nie ans Weggehen dachten, dreieinhalb Kriegsjahre lang den Kopf hinhielten und dann, ohne uns noch einmal umzudrehen, das Feld räumten.

Indessen, er vermisst auch keine diesbezügliche Erklärung; es genügt ihm vollauf zu sehen, was sein Freund in Wien erlebt hat. Kasim, der früher einmal als Fähnrich in der kommunistischen Armee gedient und sich mehr oder weniger, also eher weniger rechtschaffen durchgeboxt hat, hat sich mittlerweile in Österreich als Sternekoch etabliert. Ähnliches schwebt auch Zoran vor. Auf jeden Fall: die bosnische Herkunft abzuschütteln und wenigstens die Kinder einmal aus der „Gefahrenzone“ zu befreien. Die Zwillinge, die in Wien zur Welt kommen (und deren Vornamen nicht mehr an ihren Familienverband, sondern an Figuren der Weltliteratur erinnern), lernen deshalb Deutsch und sie sprechen bald auch nur mehr Deutsch, später werden sie studieren, Adrian in Prag, Nora in Berlin, und sie werden somit von dem fatalen Merkmal ‚Migrationshintergrund‘ definitiv loskommen.

Die zwei, sagt Zoran, mit Blick auf seine Zwillinge, „sind Österreicher“. Die Eltern müssen sich dagegen letzten Endes eingestehen, dass sie nirgendwo dazugehören, „wir sind, was wir nicht mehr sind“. Serben, „schuld an allem, das Muslimen angetan wurde.“ Zoran macht sich da nichts vor: „Jeder Muslim, ganz gleich, […] ob er Bosnisch oder Arabisch spricht, Bier trinkt oder Biertrinkern den Kopf abhackt, kann sich in diesem neuen jugoslawischen Sarajevo im Gegensatz zu uns auf das muslimische Leid im belagerten Sarajevo berufen und es uns anlasten.“ Er wehrt sich gegen diese Bilder, die ihn belasten, lässt aber das Nachdenken darüber gleichwohl lieber sein, gewohnheitsmäßig sozusagen, weil er doch schon in jungen Jahren, noch in Sarajevo, nach dem Konzert einer Punkrockband seine ganz persönlichen Erfahrungen mit den Konsequenzen jeglicher Auflehnung – im Haus der Staatssicherheit – gemacht hat, „von morgens neun Uhr bis nachmittags um fünf“, und er hält sich seitdem tunlichst Gegenbilder vor Augen, in denen die Ustaschas eine zentrale Rolle spielen, 1941 z. B. in Bihać und Prijedor oder 1992 in Čapljina und Mostar. So wird das Verhältnis zwischen Serben und Kroaten, darüber gibt es auch aus seiner Sicht keine Zweifel, „ein für allemal zementiert.“ Also belässt er es dabei, in den Mond zu gucken. – Sie kommen übrigens in der ganzen Welt herum; aber über lange Jahre hinweg käme es Zoran und Borka niemals in den Sinn, einmal auch in die alte Heimat zurückzufahren.

Ćumur, der Kroate, der aus Zenica stammt und eigentlich Ante Gavran heißt, ist in einem Heim für Schwererziehbare groß geworden. Auch wenn er dort, gut möglich, noch nie etwas gehört hat von Ante Pavelić, dem von Benito Mussolini nach Kräften unterstützten „Führer der Kroaten“, so schätzt und verehrt er ihn inzwischen schon längst und er ist ungemein glücklich darüber, dass er seit etlichen Jahren auch wieder ganz offen stolz sein darf auf seinen Großvater, der seinerzeit in der Ustascha-Bewegung Karriere gemacht hat. Doch auch ihm selber hat das Schicksal einen steilen Aufstieg vorgezeichnet: Er arbeitet zunächst, von seiner Schwester, einer Nonne, dazu angehalten, als Krankenpfleger und dann als Heizer in einem Krankenhaus, ehe er sich in den 1990er Jahren endlich freiwillig zum Kriegsdienst melden kann und dann spontan den kroatischen Verbänden anschließt. „Der Heimatkrieg“, so zieht er schließlich selbstbewusst Bilanz, „war meine Universität, meine Promotion und meine Akademie der Wissenschaften.“ Hat er’s doch im Krieg „gegen die großserbische und […] die türkische, muslimische und islamisch-mudschaheddinische Aggression“ immerhin bis zum General gebracht. – Seither allerdings fühlt er sich regelrecht umzingelt von Feinden, Partisanen, Kommunisten, mit einem Wort: „Verrätern“, er darf es kaum mehr riskieren, denkt er, offen zu sagen, was „die reine Wahrheit ist“, und er sieht sich nicht zuletzt verfolgt und desavouiert von Journalisten und Schriftstellern, die nach seiner Wahrnehmung „mit ihren Lügen Kroatien verleumden“, wie Boris Dežulović, Ante Tomić oder auch Miljenko Jergović.

Letzterer ist Autor des vorliegenden Buches und indes durchaus bereit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Er beobachtet daher auch, von einer höheren Warte aus, dass Ćumurs Weg in vielem vorgezeichnet gewesen (und erst daraus angemessen nachzuvollziehen) ist. Die Fußstapfen seiner Ustascha-Vorfahren, die Erziehung im Heim, die ihn immer wieder darauf hingewiesen hat, dass ihn „der Teufel verführt“ hätte … Ćumurs ganzes Leben steht unter keinem guten Stern. Kein Wunder also, dass er, selbst ein armer Teufel, sich umgeben sieht von Mächten, die alle „den Sinn ihrer Existenz in der Vernichtung der Kroaten“ gefunden hätten: „die […] Römer, Pontius Pilatus und die – den Namen nenn ich nicht, das ist gefährlich –, die unseren Herrn Jesus Christus ans Kreuz genagelt haben, Türken, heuchlerische Venezianer und Österreich-Ungarn“ usw.; sie alle seien allerdings sang- und klanglos untergegangen, stellt Ćumur befriedigt fest, während Kroatien den enormen Fähigkeiten seiner tapferen Soldaten und namentlich dem „Beistand der Jungfrau Maria“ sein Weiterbestehen verdanke und immer danken werde. „Warum sollte man da mit Dežulović,Tomić und Jergović seine Zeit verschwenden?“ Er braucht auch keine Literatur.

Zoran und Ćumur: Die Empfindungen, Überlegungen, Haltungen und Lebensführungen der beiden Protagonisten nehmen den weitaus größten Teil des Romans ein und stehen, das versteht sich, dennoch keineswegs repräsentativ für alle politischen Positionen, die in Serbien, Kroatien oder Bosnien-Herzegowina anzutreffen wären. Sie sind jedoch signifikant (und eben deshalb weitläufig Punkt für Punkt in den Roman aufgenommen), essenziell für alle Gesichtswinkel, die unter dem Vorzeichen des Nationalismus schon immer eng gewesen sind und nach jedem Vorfall, der den aufgewühlten Chauvinisten als Bestätigung dienen kann, noch enger werden. 

„Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität“. Mit dieser Feststellung hat seinerzeit schon Franz Grillparzer die Tragödien des 19. und 20. Jahrhunderts vorausgesehen; Jergović schließt sich diesem Befund entschieden und in souveräner Manier an, indem er schonungslos die Erzählungen seiner Figuren und die von ihnen übernommenen ideologischen Verbiegungen aufdeckt, ohne dabei aber unter einem diese Erzähler partout ganz im Stich zu lassen und an den Pranger zu stellen. 

Im letzten (vergleichsweise kurzen) Kapitel seines Romans, man schreibt mittlerweile endlich 2026/27, überschlagen sich die Ereignisse dann ganz ungezügelt. Während in Belgrad ein Fußballspiel zwischen Serbien und Kroatien ausgetragen wird, kommt es in Dalmatien zu einem tragischen „Vorfall“, in den, wie nicht anders zu erwarten, Zoran und Ćumur eingebunden sind; nebenbei jedoch auch noch ein junger Mann namens Herkul und ein roter Jaguar. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Über den „Tumult“, den der Zusammenstoß am Ende auslöst, berichten serbische, kroatische und bosnische Medien jeweils aus ihrer längst schon festgezurrten Perspektive, es gibt demnach drei Versionen über das Geschehen, mithin Schilderungen und Auslegungen, die in keinem Punkt zusammenstimmen; von dem einen abgesehen: sie alle haben mit der Realität nichts mehr gemein.

P.S.: Der Originaltitel der kroatischen Ausgabe lautet, alles andere als blass, vieldeutig: Herkul. Weiß der Himmel, wie Der rote Jaguar (völlig nichts sagend dagegen) auf die Titelseite der deutschsprachigen Version geraten ist?

Titelbild

Miljenko Jergovic: Der rote Jaguar.
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783895613890

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