Sir Karl Popper und George Soros
Stationen einer spiegelbildlichen Beziehung
Von Dirk Kaesler
Krach, Knall, die Türen waren zu! Es war im Michaelmas Term des akademischen Jahres 1968/69 an der London School of Economics and Political Science (LSE). Etwa 50 Studierende aus aller Welt waren ab nun eingesperrt, im historischen „Old Theatre“, dem ehrwürdigen Hörsaal im ältesten Gebäude der „Old Lady of Houghton Street“. Es war, wie jede Woche, ein Dienstag, von 16 bis 17 Uhr. Professor Sir Karl Popper bot seine Lehrveranstaltung „Introduction to Scientific Method“ an. Alle, die daran teilnehmen wollten, hatten sich mit einem Bewerbungsschreiben melden müssen und wurden aufgenommen, oder auch nicht. Obwohl ich „nur“ als „General Course Student“ für insgesamt drei terms eingeschrieben war – also keinen Abschluss anstrebte, sondern vollkommen frei Lehrveranstaltungen aller Fächer auswählen durfte –, war ich aufgenommen worden. Ein Privileg! Wahrscheinlich hatte geholfen, dass ich angegeben hatte, dass ich bereits in München an der LMU in Poppers Logik der Forschung gelesen hatte. Noch heute besitze ich mein Exemplar; die zahlreichen Anstreichungen belegen, dass ich es wirklich durchgearbeitet habe.
Die nachmittägliche Sonne schien auf die versammelten Menschen, die im „Parkett“ dieses theaterartigen Hörsaals auf den Beginn der Vorlesung warteten. Nur flüsternd wurde sich unterhalten, die meisten warteten schweigend. Plötzlich ging die hintere Tür auf, zwei junge Frauen kamen den Mittelgang langsam hinunter: Sie schnüffelten hörbar, wie Jagdhunde auf der Pirsch. Wir Teilnehmer wussten: Sir Karl war äußerst geruchsempfindlich, die Anweisung war, jedes Parfum tunlichst zu vermeiden, auch Deo oder Haarspray waren untersagt. Als die beiden Frauen den Raum wieder verlassen und niemanden rausgeschickt hatten, dauerte es nur noch wenige Minuten, bis sich die seitliche Tür oben auf der Bühne öffnete: Ein kleiner Mann in einem doppelreihigen, dunklen Anzug erschien, er steuerte in die Mitte der Bühne, hoch oben über den Zuhörern unter ihm im Parkett. Da stand er, schaute prüfend nach unten auf die Menschen, ging ruhig zur Tafel hinter sich, nahm ein – zufällig? – dort liegendes Stück roter Kreide in die Hand und sagte, mit diesem sehr stark österreichisch-deutschen Akzent: „With what right can we say that this piece of chalk is red?“
An diese Frage reihte sich ein faszinierender Monolog von exakt 55 Minuten, Wissenschaftstheorie at it’s best! Es gab keine Fragen, keine Diskussion. Der kleine Mann mit dem großen Kopf ging durch die Seitentür von der Bühne ab. Wir Zuhörer streckten uns, sortierten unsere Notizen und verließen ruhig und gedankenvoll das „Old Theatre“.
An diese – und diverse andere – Erlebnisse mit Sir Karl musste ich denken, als ich vor Kurzem auf Einladung der „Karl Popper Foundation“ einen Vortrag an der Universität Klagenfurt halten durfte. Als Höhepunkt für mich persönlich entpuppte sich mein Besuch der „Karl Popper Sammlung“ in der dortigen Universitätsbibliothek. (https://www.aau.at/universitaetsbibliothek-klagenfurt/karl-popper-sammlung/)
Deren derzeitiger Leiter, Dr. Thomas Hainscho, führte mich hingebungsvoll durch die Bestände und informierte mich über die Geschichte dieser Sammlung, welche seit 1995 die aus dem Nachlass des Philosophen erworbenen Bücher, Korrespondenzen, Manuskripte und andere Schriften bewahrt und diese zur wissenschaftlichen Auswertung bereitstellt. Im Anschluss an die Führung fragte Thomas Hainscho, ob ich ein spezielles Interesse hätte. Spontan fragte ich nach eventuell vorhandenem Material zur Beziehung zwischen dem österreichisch-britischen Philosophen Karl Raimund Popper (1902-1994) und dem ungarisch-amerikanischen Investor und Philanthropen George (György) Soros (Jahrgang 1930).
Es bedurfte nur eines einzigen Mausklicks und zwei umfangreiche Folder der Korrespondenz zwischen beiden Männern öffneten sich. Ein schnelles Durchscrollen und ein flüchtiges Überfliegen weckten meine Neugier und Wissbegier. Als ich zwei Tage später wieder an meinem häuslichen Schreibtisch saß, wartete eine E-Mail auf mich, an die die gesamte Korrespondenz zwischen Popper und Soros angehängt war. Sie liefert das Material für die folgende Skizze der jahrzehntelangen Beziehung dieser beiden Männer.
Der Master-Student und der Professor: Wie es begann
Der erste Brief der Sammlung stammt aus der Feder – buchstäblich, denn er wurde mit der Hand geschrieben – des 21-jährigen Studenten George Soros an den „Dear Professor Popper“ und ist auf den 29. April 1952 datiert. Darin teilt Soros dem Briefempfänger mit, dass er soeben die Lektüre von dessen Buch The Open Society and Its Enemies (EA 1945) beendet habe: „and it made a profound impression on me“.
Der Herr Student, der erst ein Jahr zuvor seinen B.A. Econ an der LSE erworben hatte, absolvierte zu dieser Zeit ein part-time-Studium des M.A. „Welfare Economics“ ebenfalls an der LSE. Er suchte, wie der Brief sehr deutlich macht, „Führung“ in seinem aktuellen postgraduate-Studium, denn er schreibe derzeit „entirely on my own“. Sein wissenschaftliches Interesse ziele auf das „Studium der menschlichen Entwicklung in allen Formen der Gesellschaften“. Besonders die soeben beendete Lektüre des Popperschen Buches habe ihn davon überzeugt, dass dessen Autor ihm eine große Hilfe sein könne. Er sei sich dessen bewusst, dass er um einen „unrewarding service“ bitte, umso mehr wäre er Popper verbunden, wenn er ihm einen Termin an einem beliebigen Tag nach 18 Uhr anbieten würde.
Wer sich ein wenig in die Biographie von Soros vertieft, weiß, dass dieser Sohn eines ungarischen Esperanto-Lehrers aus Budapest im Anschluss an einen Esperanto-Jugendweltkongress nach England emigrierte und während seines Studiums an der LSE seinen Lebensunterhalt als Kofferträger und Kellner bestritt. Daher rührte dieser sicherlich eher ungewöhnliche Terminvorschlag des Studenten. In der Korrespondenz findet sich keine Antwort des damals 50-jährigen Professors, der seit 1945 an der LSE lehrte. Popper muss sich jedenfalls mit Soros getroffen haben, wie man einem – erneut handschriftlichen – Brief des Studenten vom 16. Mai 1952 entnehmen kann: Darin teilt dieser mit, dass er in der kommenden Woche die Lektüre aller jener Artikel beendet haben werde, die der Professor ihm empfohlen habe. Und so bittet er um ein erneutes Treffen, wofür er sich auch zum Lunch oder am frühen Nachmittag freimachen könne.
Die Beziehung zwischen „Dear Professor Popper“ und – „Yours faithfully“ – George Soros hatte begonnen, auch wenn sie für lange Zeit eher einseitig blieb, wie sie sich in der mir vorliegenden Korrespondenz darstellt. In seinem Brief vom 19. April 1963 bezieht sich Soros, nun schon unter einer Postadresse in New York, auf ein Treffen mit Popper in London, das ihm viel Anregungen vermittelt hätte. Ungeachtet der Tatsache, dass er sich in letzter Zeit nicht der Philosophie widmen konnte – „because I was too busy with business“ –, legt er seinem Londoner Mentor ein 33-seitiges Manuskript einer „Kritik der Freudschen Psychoanalyse“ bei. Er bittet um Poppers Einschätzung, „because I shall have to do more of this as I go along.“ Erst sieben Monate später, am 5. November 1963, antwortet Popper und teilt Soros mit, dass er nun mit der Lektüre des Zugesandten begonnen habe, dass sein erster Eindruck „very good“ sei und dass Soros „gut schreiben“ könne – „which is rare nowadays.“ Es bleibt beim „Yours sincerely“ auf Seiten Poppers, wobei Soros sich bereits mit „good wishes for your health“ verabschiedet.
Man mag sich ein wenig wundern über diese wissenschaftlichen Aktivitäten des George Soros M.A., wenn man bedenkt, dass dieser bereits 1954 seine Finanzkarriere bei der Londoner Handelsbank Singer & Friedlander begonnen hatte, 1956 nach New York City gegangen war, um ab 1969 mit seinem „Soros Fund“ (später: „Quantum Fund“) mit dem Kapital anderer zu spekulieren. Was trieb den Fondsmanager zu seinen ausführlichen Kommentaren über Sigmund Freud? Was führte er dabei im Sinn? Strebte er eine Promotion an? Die Korrespondenz gibt dazu keine Auskunft.
Am 20. Januar 1964 teilt Soros Popper brieflich mit, dass er im Laufe des Februars auf einem kombinierten Geschäfts- und Erholungs-Trip durch Europa auch nach London komme und sich freuen würde, seinen verehrten Mentor zu treffen. Und erneut hängt er zwölf Seiten eines maschinenschriftlichen Manuskripts an, in dem es um „imperfect knowledge“ und über „Popper’s philosophy of social science“ geht. In dem zuletzt genannten Text kritisiert Soros Popper ziemlich heftig, indem er sich vor allem an dessen Ausführungen in der Logic of Scientific Discovery reibt, bei denen Popper fordert, dass sozialwissenschaftliche Hypothesen genauso streng empirisch überprüft werden müssten wie Hypothesen in den Naturwissenschaften.
Obwohl Soros nachdrücklich betont, wie sehr ihn Poppers Gedanken über die „Offene Gesellschaft“ beeinflusst haben, weist er diese methodologische Forderung Poppers vehement zurück. „I maintain that the study of society requires a fundamentally different approach from the study of nature.“ Obwohl er die „Entdeckung“ Poppers einer Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation für dessen „größten Beitrag“ für die wissenschaftliche Methodenlehre hält, fordert Soros, gerade für eine Wirtschaftstheorie:
Social science should develop a method of its own which allows the formulation of hypothetical systems and uses testing not to falsify them but merely to establish the degree of their relevance. […] To exclude general theories just because they cannot be tested in the manner we have become accustomed to in natural science would be a betrayal of the spirit of scientific enquiry. […] It seems to me that Popper’s failure to recognize the difference between natural and social science is but one manifestation of a more fundamental deficiency which pervades his entire book.
Bedauerlicherweise findet sich in der Korrespondenz keine schriftliche Reaktion Poppers auf diesen Brief und dessen durchaus sehr kritische Anlage. Der „Schüler“ kritisiert den hohen Meister! Wie mag der so Kritisierte darauf reagiert haben? Popper ist nicht dafür bekannt, dass er Kritik an seiner eigenen Position sonderlich zu schätzen wusste.
In seinen Lehrveranstaltungen jedenfalls, soweit ich 1968/69 an ihnen teilnahm, gab es niemals laut geäußerte Kritik. In der Vorlesung waren Diskussionen von vornherein nicht vorgesehen: Der Professor dozierte, die Studierenden schrieben mit. Im Seminar „Philosophy of the Social Sciences“, das Sir Karl zusammen mit Alan Musgrave jeden Dienstag von 11 bis 12 Uhr gab, hielten wir studentischen Teilnehmer zwar unsere Referate, aber auch da gab es keinen argumentativen Austausch: Unmittelbar nachdem das Referat gehalten war, dozierte Popper monologisch und unbeirrbar seine Kommentare, zumeist äußerst kritisch bis vernichtend. „Total rubbish“, „you did not understand anything of what I have written.“ – das waren die häufigeren Kommentare, die ohnehin nur als Startpunkt für die langen Solo-Ausführungen des Professors dienten.
Am schrecklichsten ist mir jenes Schauspiel in eben diesem Seminar in Erinnerung, als der 40-jährige Noam Chomsky als eingeladener Gast in genau dieser Art und Weise niedergemacht wurde. Poppers rabiater Hauptvorwurf an den Kollegen vom M.I.T. war, dass sich dieser zu jener Zeit so massiv öffentlich gegen die US-Kriegsführung in Vietnam geäußert und damit jede „scholarly respectability“ verloren habe. Der weltberühmte Vater der „Generativen Grammatik“ saß auf seinem Stuhl wie ein Schüler, dem sein Lehrer gerade barsch klargemacht hatte, dass er zu überhaupt gar nichts tauge. Der renommierte US-amerikanische Gast wagte es nicht, dem aufgebrachten Sir Karl zu widersprechen!
Ich selbst kam nach meinem Referat über Max Webers Konzept der „Werturteilsfreiheit“ einigermaßen gut weg. In seiner Logik der Forschung nennt Popper Weber kein einziges Mal, nicht einmal da, wo es um „Wertungen“ geht! Sein Kommentar auf mein Referat – „quite interesting“ – war wahrscheinlich ein großes Lob. Ich traute mich jedoch nicht nachzufragen, was Sir Karl „interessant“ gefunden hatte. Das erschien damals und in dieser einschüchternden Atmosphäre als ungehörig.
Auch wenn sich aus der Popper-Soros-Korrespondenz nicht erschließt, was Popper von den vielen Seiten, die Soros ihm geschickt hatte, hielt, so muss es jedoch wenigstens einen Brief gegeben haben, denn Soros bedankt sich mit Datum vom 1. Februar 1964 für einen solchen und kündigt seinen Besuch von Poppers Seminar am 18. Februar in London an; mit Brief vom 31. Januar 1964 verschiebt Popper diesen Termin auf den 17. Februar für 12:30 Uhr. Es scheint zu diesem persönlichen Treffen gekommen zu sein, denn am 27. Dezember 1964 schreibt Soros erneut und bezieht sich auf Kommentare von Popper, die ihn zur erneuten Revision seines Textes geführt hätten. Erneut legt er eine vollständige Fassung seines Manuskripts bei, betont zugleich, dass Popper keineswegs alles erneut lesen müsse, die veränderten Passagen seien leicht erkennbar, denn sie seien mit einer größeren Schrift getippt worden – wir sind noch in den Zeiten der Schreibmaschinen! Obwohl er darauf verweist, dass er Poppers Unterstützung braucht – „At this point I need your help“ –, teilt er selbstbewusst mit, dass er eine weitere Kopie seines Manuskripts an die Harvard University Press geschickt habe: „to find out what my chances are. I believe they are rather slim.“
Soros, ungeachtet seiner immer ausgedehnteren und überaus erfolgreichen Spekulationstätigkeiten in jener Zeit, scheint mit seinen wissenschaftlichen Ausarbeitungen nicht wirklich aufgehört zu haben: Am 9. August 1965 teilt er dem „Dear Professor Popper“ mit, indem er nun die letzte Version von Kapitel I beilege, dass er glaube, dass er mit seiner „theory of reflexivity“ wissenschaftlich etwas zu sagen habe, aber nun doch sehr auf Poppers Urteil gespannt sei. Erneut erwähnt er, dass Popper ihn zum wiederholten Mal darum gebeten habe, ihn „nicht unnötig“ zu behelligen, aber nun brauche er eben dessen Hilfe. Zugleich bittet er darum, ihm das ursprüngliche Original und die neue Fassung wieder per Post zurückzuschicken. Am 5. Dezember 1975 schickt er nochmal ein überarbeitetes Manuskript, zugleich mit der Kopie eines Artikels aus dem Wall Street Journal, das über seine „business activities“ berichtet.
Die geänderte Postadresse (25 Central Park West, heute das „Century Condominium“) signalisiert den ökonomischen Erfolg des Briefeschreibers; die Tage jener Briefe, die davor aus dem Greenwich Village gekommen waren (45 Christopher Street), waren vorüber. Bereits einen Monat später, am 12. Januar 1976, antwortet Popper in schulmeisterlich anerkennend-kritischer Manier: Die Schreibweise von Soros sei „most attractive“, seine Ideen jedoch seien „far from new“, wenn man in Poppers Buch Poverty of Historicism unter dem Stichwort „Oedipus Effect“ nachsehe, ein Abschnitt 13 sollte vollkommen wegfallen („historically quite untrue“), das Restliche „I liked quite a lot“, er empfiehlt die Veröffentlichung.
Das scheint das Ende dieser ersten Runde gewesen zu sein, wie sie sich in der mir vorliegenden Korrespondenz niederschlägt. Was mag aus den vielen von Soros eng beschriebenen Seiten geworden sein? Zu einer tatsächlichen Publikation jedenfalls scheint es nicht gekommen zu sein. Sowohl das Verzeichnis der zahlreichen Publikationen auf der Homepage von George Soros (https://www.georgesoros.com) als auch der Katalog der Library of Congress weisen keine einzige Publikation von Soros nach, die thematisch auch nur in der Nähe seines Vorhabens über Freuds Psychoanalyse Mitte der 1960er Jahre liegen könnte.
Der Millionär George und der verehrte Sir Karl
Der handschriftliche Brief, den Popper am 19. Januar 1982 an „My dear Soros“ schrieb, dürfte für den Empfänger vermutlich ein ziemlicher Schock gewesen sein:
Today I received your address from South Africa. Let me first thank you for not having forgotten me for something like ?26? years. I am afraid I forgot you completely; even your name created at first only the most minute resonance. But I made some effort, and now, I think, I just remember you, though I do not think I should recognize you. (Nor would you recognize me, I should say.)
Nach dieser verblüffenden Einleitung bedankt Popper sich bei Soros, dass er seine Stiftung „Open Society Fund“ genannt habe, was er akzeptiert habe, da es für ihn selbst nicht nur eine große Ehre sei, sondern auch von Soros „a wise move“ gewesen sei. Wieso er das derart einschätze, würde er Soros lieber im persönlichen Gespräch mitteilen, wofür es gut wäre, wenn dieser ihn in England besuchen würde: „I am anxious to talk to you.“
Aus der überlieferten Korrespondenz lässt sich ablesen, dass erst fünf Jahre später, ab dem August 1987, die Zahl der wechselseitigen Briefe sich ein wenig erhöht. Mehrfach berichtet Soros Popper von seinen diversen Aktivitäten – beispielsweise von einer Konferenz im chinesischen Wuhan über Poppers Philosophie im April 1987 –, vor allem aber von seinen Plänen für den „Open Society Fund“. Bemerkenswert ist, dass die Briefe von Soros an „Dear Sir Karl“ adressiert sind, wohin gehend Popper mit „Dear Soros“ adressiert und in einem Brief vom 10. September 1987 sogar schriftlich moniert: „Did we not agree to call each other Soros and Popper?“ Diese Einladung zu einem etwas persönlicheren Ton nimmt Soros zwar an, auch wenn er in späteren Briefen immer wieder auf „Dear Sir Karl“ zurückkommt.
Faszinierend ist es nachzulesen, wie ausführlich Soros dem von ihm so verehrten Lehrmeister erklärt, was er mit seinem „Open Society Fund“ beabsichtigt. Hier sei nur eher kursorisch zitiert: „The Open Society Fund is trying to do what its name implies: foster an open society and a critical mode of thinking which is indispensable to it.“ Soros erwähnt ein „Karl Popper Fellowship“ an der Cape Town University in Südafrika, diverse Vorhaben in Chile, den Philippinen, vor allem aber in Osteuropa, insbesondere in Ungarn, aber auch in Polen und der Sowjetunion. In zwei Briefen bittet Soros darum, dass Popper sich an einer zu gründenden „Karl Popper Stiftung“ in der Schweiz beteiligen möge, was dieser jedoch mit einem Brief vom 11. November 1987 dankend ablehnt. „But I cannot accept the honour – and the great responsibility – of serving on its Board and becoming its Chairman Emeritus.“
Aus der Korrespondenz wird deutlich, dass sich die Qualität der Beziehung zwischen den beiden Männern erheblich geändert hat: War es vorher der Nachwuchswissenschaftler, der sich ehrfurchtsvoll dem Professor anzunähern versuchte, so wird es nun der zurückgezogene Emeritus, der die Nähe des Milliardärs sucht. So schreibt er am 22. Oktober 1987 an „My dear Soros“: „Somehow – for whatever reason, probably it is shyness – we never got near to each other. Perhaps it is not too late to correct this? Yours ever, Karl Popper.“
Das Antwortschreiben vom 4. April 1989, mit dem Briefkopf des „Soros Fund Management“ (888 Seventh Avenue, New York) an den „Dear Sir Karl“ liest sich eher wie ein Business Report über die diversen Aktivitäten in der Sowjetunion und die Installation der Karl Popper Stiftung in der Schweiz als ein freundlich-persönlicher Brief. Erst am 2. Oktober 1992 wird die Korrespondenz wieder ein wenig vertrauter, wenn Soros zum 90. Geburtstag des „Dear Sir Karl“ gratuliert. Bemerkenswert erscheint, dass Popper an keiner Stelle für sich selbst um materielle oder ideelle Unterstützung durch Soros bittet, abgesehen von einem Bettelbrief vom Juli 1989 für eine tschechische Doktorandin, die die Studiengebühren an der Universität Cambridge in Höhe von 9.270 Pfund nicht selbst bestreiten könne; aus der Korrespondenz ergibt sich nicht, ob Soros bzw. seine Organisation geholfen hat.
Am 2. Oktober 1992 diktiert Soros einen Brief an den „Dear Sir Karl“, in dem er diesem ausführlich von seinen Aktivitäten in diversen osteuropäischen Ländern berichtet. Vor allem die Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik von Jegor Gaidar – diesem ehemaligen Wirtschaftsminister unter Boris Jelzin, der von Juni bis Dezember 1992 sogar kommissarischer Ministerpräsident von Russland war, bis er im Lauf des Jahres 1994 die Regierung Jelzins verließ – beunruhigen Soros erkennbar zutiefst. Er sieht in Russland nur noch Chaos und Anarchie, freut sich jedoch sichtlich über das heilsame Wirken seiner Stiftungen:
Strangely, the worse the conditions get, the better the foundations are working. I increase the scope of our activities even though I consider the situation hopeless. […] I envision our activities as building a kind of intellectual Noah’s Ark, trying to preserve their intellectual and cultural values for the time after the flood. The situation is much better in the former satellite states, although I have been shocked by the resurgence of neo-Nazi thinking in Hungary. But that is a threat we ought to be able to overcome. The Central European University has become more important than ever. I have also made some progress in understanding the historical process, but it would take me too long to write about it. My car is waiting.
Dieser Gratulationsbrief zum 90. Geburtstag von Popper (28. Juli 1992) macht es unmissverständlich klar: „After all, your writing has been the most important intellectual influence in my life.“ Die Grußformel betont das Verhältnis: „With great respect, George Soros.“
Die Antwort Poppers vom 27. Oktober 1992 zeigt, dass der inzwischen verwitwete und erkennbar verbitterte Emeritus bis dahin nichts von der Central European University in Budapest gehört hatte. Er bittet um Informationen dazu. Im November schickt ihm Soros durch seine Sekretärin eine Broschüre über die CEU. Wenig später, mit einem Brief vom 9. Dezember 1992, meldet Soros dem verehrten „Dear Sir Karl“, dass er dafür gesorgt habe, dass eine russische Übersetzung des Popperschen Buches über die Offene Gesellschaft durch ein Team um den russischen Philosophen Vadim Sadovsky erstellt wurde und im Dezember 1992 erschienen ist. Das schlichte „George“, als Unterschrift unter der zweizeiligen Mitteilung, machte den Empfänger erkennbar glücklich: „My dear George, thank you for signing ‚George‘“, und er erkundigt sich nach der Zahl der gedruckten Exemplare der russischen Übersetzung.
Am 17. März 1993 informiert Popper über einen Besuch von Vadim Sadovsky bei ihm in London, über Details der anscheinend recht mühsamen Übersetzungs- und Korrekturarbeit und darüber, dass Sadovsky eine Pressekonferenz in Moskau im Zusammenhang mit der Bucherscheinung organisieren möchte. Popper bittet Soros darum, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen: „Such a press conference could help to find new readers and promote the ideas of ‚The Open Society‘ within Russia.“ Der Brief endet mit „Yours sincerely Karl (Popper).“ Relativ umgehend reagiert Soros und sagt seine Beteiligung an einer derartigen Veranstaltung für den Juni 1993 zu. Im April 1993 schreibt Popper an den „Dear George“, dass er nicht glaube, nach Moskau kommen zu können, und im Juli desselben Jahres, eine Woche nach seinem 91. Geburtstag, berichtet er von einigen „mini-strokes“, die er inzwischen erlitten habe.
Der letzte Brief, der mir zugänglich gemacht wurde, stammt vom 12. Juni 1994: In ihm dankt Popper Soros dafür, dass er einen „Open Society Award“ ins Leben gerufen und ihm den ersten verliehen habe. Es muss eine Veranstaltung dazu gegeben haben mit einer Rede von Soros: „My bad hearing prevented me from hearing anything of your address, or anything that went before.“ Eine Einladung an die CEU für den 18. Juni hätte er ablehnen müssen wegen einer anderweitigen Verpflichtung in Deutschland, aber eine Einladung nach Budapest für die Tage vom 30. September bis zum 2. Oktober habe er angenommen: „Love Karl.“ Zu diesem Besuch in Budapest kam es nicht mehr, Karl Popper verstarb am 17. September 1994 in London.
Dass jedoch die Verehrung Poppers durch Soros bis zum heutigen Tag angehalten hat, zeigt sich auch an der Tatsache, dass erst im Jahr 2020 bei Princeton University Press eine Neuausgabe von The Open Society mit folgender Verlagsankündigung erschien: „One of the most important books of the twentieth century, The Open Society and Its Enemies is an uncompromising defense of liberal democracy and a powerful attack on the intellectual origins of totalitarianism.“ Und eben diese Neuausgabe wird begleitet von einem Vorwort von George Soros, wie der Verlag stolz verkündet: „In a new foreword, George Soros, who was a student of Popper, describes the ‚revelation‘ of first reading the book and how it helped inspire his philanthropic Open Society Foundations.“
Erwähnte Bücher
Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [The Open Society and Its Enemies]. Teil 1: The Spell of Plato. Routledge, London 1945. Auf Deutsch als: Der Zauber Platons. Francke Verlag München 1957. Viele weitere Auflagen.
Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [The Open Society and Its Enemies]. Teil 2: The high tide of prophecy: Hegel, Marx and the aftermath. Routledge, London 1945. Auf Deutsch als: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, Francke, München 1958. Viele weitere Auflagen.
Karl R. Popper: Logik der Forschung. Zweite, vermehrte Auflage. Tübingen: J.C.B.Mohr 1966. [The Logic of Scientific Discovery. Hutchinson, London 1959] Viele weitere Auflagen.
Hinweis
Für die freundliche Genehmigung der Aufnahme der Zitate aus den Briefen Poppers dankt der Autor der Universität Klagenfurt (Karl-Popper-Sammlung). Die originalen Briefe liegen bei der Hoover Institution Library & Archives (Karl R. Popper papers).