Immer diese verdammte Vorweihnachtszeit

Mit „Crossroads“ legt Jonathan Franzen den ersten Teil einer epischen Romantrilogie vor

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jonathan Franzens Kampf um einen zeitgenössischen literarischen Realismus geht in die nächste Runde, und mit seiner geplanten Trilogie Ein Ende aller Mythologien will er es wirklich wissen: Nicht nur einer, sondern gleich drei voluminöse Romane müssen her, um die Geschichte einer amerikanischen Durchschnittsfamilie aus dem Mittleren Westen über mehrere Generationen zu erzählen. Franzen wandert ja schon seit geraumer Zeit auf den Spuren Balzacs, aber allem Anschein nach versucht der amerikanische Schriftsteller, dessen Comédie humaine für das 21. Jahrhundert neu zu schreiben.

Viel wurde angesichts Franzens letzten Romanen Freiheit und Unschuld über seine Einstellung zum literarischen Realismus sowie über die oft mehrere Generationen umfassende, epische Breite seiner Prosa diskutiert. Auch Das Ende aller Mythologien soll also die Protagonist*innen über drei Generationen begleiten, von den frühen 70er Jahren (mit Rückblicken bis in die 50er) bis heute. Allerdings liegt nun zunächst Crossroads, der erste Roman der Trilogie, vor, und der umfasst auf den ersten rund 400 seiner über 800 Seiten ausschließlich die Handlung eines einzelnen Tages im Jahr 1971. In der zweiten Hälfte bewegt er sich etwas schneller, und am Ende landen wir im Jahr 1974, bevor uns Franzen – soviel darf wohl verraten werden – mitten in der Handlung aus dem Geschehen entlässt.

Das ist auch gut so, denn nach einem fast 1000 Seiten langen Porträt einer Pfarrersfamilie aus der Nähe von Chicago ist man als Leser*in erst einmal viel zu erschlagen, um noch erfahren zu wollen, was die Eltern Russ und Marion sowie ihre vier Kinder Clem, Becky, Perry und Jay mit ihrem Leben denn noch so vorhaben. Schließlich befinden sie sich allesamt an jenem schicksalshaften 23. Dezember im Jahr 1971 an der titelgebenden Wegkreuzung: Ersatz-Pfarrer Russ Hildebrandt möchte eine Affäre mit einer attraktiven, ihn aktiv anflirtenden Witwe aus seiner Gemeinde beginnen. Mutter Marion, die mit den Jahren aufgrund starker Gewichtszunahme in ihren Augen an Attraktivität verloren hat, beschließt plötzlich (ohne Kenntnis der Affäre ihres Mannes, wohlgemerkt), ihr Leben zu verändern. Der älteste Sohn Clem entscheidet sich, sein Studium zu schmeißen und freiwillig in den Vietnamkrieg zu ziehen. Tochter Becky findet zu Jesus (und verliebt sich in den Rockmusiker Tanner, der nicht nur aussieht wie Jesus, sondern ebenso großherzig ist). Sohn Perry verfällt endgültig seiner Drogensucht. Und der 8-jährige Judson spielt komischerweise überhaupt keine Rolle, aber man kann mit Recht darauf hoffen, dass er im nächsten Band seinen großen Auftritt hat.

Man ahnt es bereits: Jede dieser Figuren bekommt alternativ mal längere, mal kürzere Kapitel zugestanden, die aus deren Sichtweise erzählt sind, so dass wir die Geschichte der Familie quasi multiperspektivisch serviert bekommen. Im Mittelpunkt des Reigens steht das an Russ‘ Gemeinde angegliederte christliche Jugendzentrum „Crossroads“, das von dem charismatischen Rick Ambrose geführt wird – ein Hippie-Theologe, der als eine Art christlicher Guru auftritt und über die Gabe verfügt, so ziemlich jeden Jugendlichen um den Finger zu wickeln. Weil Ambrose nicht zur Familie Hildebrandt gehört, bekommt er leider von Franzen auch keine eigene Perspektive gegönnt; das ist schade, denn gerade über ihn und seine wahre Motivation, den Club auf die einschmeichelnde, aber letztlich latent faschistoide Art des typischen 70er-Jahre Sektengurus zu führen, hätte man gerne mehr erfahren.

Ende der 60er Jahre war Ambrose plötzlich in der Gemeinde aufgetaucht und hat das zuvor biedere Jugendprojekt „Crossroads“ zu einem hippen Schuppen gemacht, so dass ihm die coolsten Jungs und die hübschesten Mädchen die Bude einrannten. Da war der spießige Russ fehl am Platze und wurde von Ambrose mit Hilfe einer perfiden Intrige aus dem Club ausgeschlossen. Ein traumatisches Erlebnis, dessen Aufklärung den ersten, sehr langen (und besten) Teil des Romans einnimmt: Nicht nur darf Russ nicht mehr auf die jährliche Freizeit nach Arizona in das von ihm heißgeliebte Navajo-Reservat mitfahren, sondern wurde ihm auch durch die Blume unterstellt, die minderjährigen Crossroads-Mädchen zu begehren.

Man sieht schon, hier passiert so einiges, leider ist das meiste zwar interessant, und bisweilen sogar packend zu lesen, doch bis auf den sich in der Midlife-Crisis befindenden Endvierziger Russ sind die Figuren nicht nur uninteressant, sie wirken so konstruiert, dass man überhaupt nicht wissen will, wie sich ihr Schicksal weiterentwickelt. Perry ist das wandelnde Klischee eines „komplizierten“ und verhätschelten Kindes, das vor lauter Intellekt und Mutterliebe zum extremen Drogenkonsumenten und -dealer wird. Clem benimmt sich durchweg wie ein Idiot und man weiß nicht einmal, warum, weil es Franzen nicht gelingt, seine Traumata, Verletzungen oder Komplexe so zu beschreiben, dass die Leser*innen auch nur im Ansatz verstehen können, was ihn antreibt. Und Becky ist das wandelnde Klischee des Highschool-Cheerleaders: Hübsch, ein wenig doof, aber eine treusorgende Seele – zumindest bis sie – allerdings völlig zurecht – mit ihren Eltern bricht, die Beckys von ihrer Tante geerbtes Geld zweckentfremden, um die Drogenklinik-Aufenthalte Perrys zu bezahlen. Und die Mutter Marion wirkt wie eine Karikatur der pseudo-emanzipierten 70s-Ehefrau, die nach nur in ihrem Kopf stattfindenden eigenen sexuellen Eskapaden treudoof zu ihrem Ehemann zurückkehrt, der wirklich rumgevögelt hat. Allerdings, das sollte der Fairness halber erwähnt werden ist, sorgt Marions Backstory für die besten Momente des Buchs, auch wenn diese Episoden wie abgeschrieben aus Hanya Yanagiharas Roman Ein bisschen Leben wirken. Und so ist der kleine Judson die interessanteste Figur des Romans, einfach, weil man nichts über ihn erfährt, er kaum vorkommt und er ähnlich wie Rick Ambrose keine eigene Stimme erhält, als sei ein Achtjähriger nicht in der Lage, seine Umwelt sehr genau zu beobachten.

Bei all der Häme, zu der dieser letztlich völlig misslungene Roman einlädt, sollte trotzdem konstatiert werden, dass der Reiz des Ganzen in seinem (angekündigten) epischen Ausmaß liegt. Das erinnert ein wenig an Karl Ove Knausgards Min Kamp-Zyklus oder an Gerhard Henschels Martin Schlosser-Romanreihe, bei denen ja auch der epische Grundgedanke und das Wissen um das zügellose Erzählen viel spannender sind als die Texte an sich. Nur schreiben Knausgard und Henschel mehr oder weniger über sich selbst während Franzen sich fatalerweise eine Familie im amerikanischen Mittleren Westen als Modellprojekt zusammenreimt. Immerhin ist das Cover des Buches ziemlich gelungen, transportiert es die Leser*innen doch in die selige Zeit der frühen 70er Jahre, als man mit Wandergitarre und Schlaghosen noch die Welt erobern konnte.

Titelbild

Jonathan Franzen: Crossroads.
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
832 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783498020088

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch