Es ist nie zu spät für etwas Neues

Karin Kalisa erzählt in „Bergsalz“ vom Wiederaufleben einer dörflichen Gemeinschaft

Von Simone WalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Walter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Franziska Heberle, Franzi genannt, ist eine Frau gestandenen Alters und lebt allein in ihrem Haus, das sich in einem Dorf am Fuß der Allgäuer Berge befindet. Die Kinder sind schon seit längerer Zeit aus dem Haus und ihr Mann ist verstorben. Franzi hegt eine Leidenschaft, der sie Tag für Tag nachgeht: das Kochen. Aber tief in ihrem Inneren fehlt ihr die Gesellschaft: „An kleine Mengen konnte Franzi sich nicht gewöhnen. So klein wie für eine Person konnte man nicht denken und konnte man nicht kochen.“ Mit dem Problem ist sie nicht allein. Den verwitweten Frauen in der Nachbarschaft geht es genauso. Und so kommt es, dass Johanna unter einem Vorwand bei Franzi vor der Tür steht und nach Mehl fragt. Sie ist der Auslöser für das Zusammenfinden der Frauen in der Nachbarschaft. Ein Startpunkt für gemeinschaftliches Beisammensein, leckere Gerichte und kreative Ideen, die darauf warten, umgesetzt zu werden.

Das Allgäu ist Karin Kalisas zweite Heimat und das merkt man. Detailliert bildet sie die Marotten und ungeschriebenen Gesetze in dem 500-Seelen-Dorf des Romans ab. Jede Frau hat ihre eigene Art und Vergangenheit, die Kalisa mit viel Sorgfalt und Liebe ausschmückt. 

Hätte irgendeine von ihnen, wären sie nicht an diesem Mittagsesserinnen-Tisch gelandet, je erfahren, dass sich die Resi Namen besser als Gesichter merken konnte, ja, dass sie sich Namen nicht nicht merken konnte, Gesichter dagegen kaum? Dass die Resi, wortkarg und nüchtern und vor allem praktisch und zupackend, jetzt die Hexchen wie am Schnürchen hererzählen konnte? 

Die Themen Verbundenheit und Verwandlung sind nicht nur in ihrem aktuellen Roman erkennbar, sondern stehen auch in ihrem Beststeller-Roman Sungs Laden (2015) im Zentrum. 

Je mehr Frauen zusammenkommen und gemeinsam essen, desto mehr Platz brauchen sie. „Eine Küche müsste es geben, in der sie mittags alle zusammen kochen und essen konnten, mit Geschirrspüler und ausreichend langer Arbeitsplatte – und etwa gleich weit für alle.“ Sie kommen auf eine Idee: „Das Rössle“ – ein stillgelegtes Gasthaus, das zur Flüchtlingsunterkunft wurde. Die Küche musste aus Sicherheitsgründen geschlossen werden und so kommt eins zum anderen. Die ehemalige Gasthausküche wird durch den Eifer der Frauen wieder in Stand gesetzt und schließlich als „Offene Küche“ geöffnet. Dem Wohlwollen der Frauen stehen Gegenwind und Feindseligkeiten gegenüber. Die Autorin greift die Flüchtlingsthematik auf und konfrontiert die Leser mit rassistischen Haltungen mancher Dorfbewohner: „Ja, wer hätte das gedacht, dass jetzt bei denen für uns gekocht wird?“. 

Kalisas Protagonistinnen Franzi, Esma und Sabina könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie stammen aus drei Generationen und bringen Bewegung ins Dorfleben. Im Gegensatz zu der einheimischen Franzi ist Esma eine syrische Geflüchtete mittleren Alters und mit ihrer Familie im „Rössle“ untergekommen. Sie kann zeichnen, kochen und sich vor allem gut durchsetzen. Sabina ist eine junge Frau und extravagante Persönlichkeit, die schon früh erwachsen ist und sich ihre Freiheiten nimmt. Sie schaut sich die Welt an und kommt mit vielen neuen Erfahrungen zurück ins Dorf. Jede Frau hat ihre Geschichte und gemeinsam schreiben sie mit der offenen Küche eine neue. 

Kalisa zeigt auf einfühlsame Weise das realitätsnahe Leben und die festgefahrenen Strukturen verwitweter Frauen wie Franzi und lässt die Leser an den Geschichten, Gedankenkreisen und Eigenheiten der Frauen teilhaben. So banal manche Gesprächsthemen zwischen den Frauen auch sein mögen, so ernst sind die Gedanken in einem anderen Moment: „Konnte man denn jemanden kennen, der tot war? Oder war es dann mit dem Kennen aus und vorbei?". Kalisa verknüpft beides, den lockeren Plausch unter Nachbarinnen und die ernsten Themen des Lebens, denen man nicht entkommt. Auch sprachlich wird ihre Vorgehensweise deutlich. Überwiegend wird die Umgebung oder das Innere einer Person durch eine personale Erzählperspektive beschrieben, nur zwischendurch finden kurze Dialoge zwischen den Frauen statt. Als Rezipient wünscht man sich für den Lesefluss mehr direkte Rede, doch liefern gerade die Beschreibungen Informationen über Personen und ihre Einstellungen. So zum Beispiel, als nach Johanna auch noch Elsbeth vor Franzis Tür steht, um ein Paket abzuholen. Elsbeth fällt sofort auf, dass der Geschirrstapel größer ist, als sie ihn bei einer Person im Haushalt erwartet hatte, und sieht Johanna in der Küche sitzen. „Und wie die Elsbeth so dastand und sah, dass da kein zweites Paar Schuhe im Flur stand und trotzdem jemand, der da nicht hingehörte, am Küchentisch saß zur Mittagszeit; und zwar mit Küchenschürze – mit Küchenschürze in einer fremden Küche zur Mittagszeit –, da wusste sie, dass etwas Ungeheuerliches im Gange war.“ Hier zeigt sich die personale Erzählweise und der berichtende Schreibstil Kalisas, durch die der Argwohn Elsbeths zum Ausdruck kommt. Zudem spiegelt gerade der geringe Anteil an direkter Rede die oberflächlichen Bekanntschaften der Frauen wider. 

In Bergsalz finden nicht nur gesellschaftliche, sondern auch historische Themen ihren Platz. Immer wieder werden in die gegenwärtige Romanhandlung Rückblenden eingeschoben, die Überschriften tragen wie zum Beispiel „aynöde“. Kalisa spielt bei den Titeln mit mittelhochdeutschen Begriffen, um eine Verknüpfung zum Inhalt der Einschübe herzustellen. Thematisch werden die Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts aufgegriffen. Zentral ist die Figur Fidel Endres, dessen Geschichte man in den Rückblenden erfährt. Er war Hofbesitzer und der Erste, der eine Vereinödung erfahren hat. Bis zum Ende des Romans sind die Einschübe aber eher ein Störfaktor als ein gut eingebundener Rückblick in die Vergangenheit. Es fehlt der Zusammenhang zum eigentlichen Erzählstrang, da der direkte thematische Bezug erst zum Ende hin ablesbar wird. Auch beinhaltet der Erzählstrang mehrere Abzweigungen. Während das erste Drittel des Romans einen guten Überblick über die dörflichen Verhältnisse gibt, aufzeigt, wie Einsamkeit gegen Gemeinschaft ausgetauscht wird und die geschmiedeten Pläne der offenen Küche angegangen werden, steht im dritten Kapitel die Rückkehr Sabinas ins Dorf im Zentrum. Ein spezieller Charakter, der sehr gewöhnungsbedürftig ist und die emotionalen Reaktionen während des Lesens sowie den Lesefluss hemmt. Kalisa erweckt damit den Eindruck, dass eine Frau, die in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hat und der es an Vitalität fehlt, mit dem Wiederaufbau des „Rössle“ ihre Lebenskraft zurückerlangen soll. Kurz darauf geht es auch um den Quartiermanager Ben, der eine wichtige Rolle für das „Rössle“ und Sabina spielt. Dem Leser wird durch das Figurenspektrum und die kleinen Nebenerzählungen eine Vielfalt eröffnet, die zwar letztlich schlüssig, aber beim Lesen doch zu viel Füllstoff ist. Immer mehr tut sich auf und immer wieder kommen neue Figuren hinzu, die den gerade mal 208 Seiten langen Roman ziemlich überladen und den Leser verwirren.

Kalisa gibt den Lesern mit auf den Weg, dass mit Zusammenhalt und Ehrgeiz viel erreicht werden kann. Gerade in der aktuellen Corona-Zeit findet sich der Leser in den einsamen Frauen wieder und weiß, dass Alleinsein relativ ist und es Möglichkeiten gibt, in Kontakt zu treten. Die Schriftstellerin und Japanologin nimmt ihre Leser mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. Durch den Titel Bergsalz wird ihre Message eindeutig: Dem Leben kann jederzeit Würze gegeben werden. Was im aktuellen Roman jedoch fehlt, ist eine klare Struktur mit aufeinanderfolgenden Sinnabschnitten. Zwar fallen sowohl der bilderreiche und sanfte Einstieg als auch die Aktualität des Romans durch die Flüchtlingspolitik und den Alltagsrassismus positiv auf, doch nimmt die Qualität gerade durch die Masse an Figuren und die vielen Nebenerzählungen ab dem zweiten Drittel des Romans ab. Bleibt abzuwarten, ob es Kalisa im nächsten Roman besser gelingt, den Leser bis zum Ende in den Bann zu ziehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Karin Kalisa: Bergsalz.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2020.
208 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783426282083

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