Eine Stadt mit zwei Gesichtern

Mit „Kinder von Hoy“ legt Grit Lemke ein dokumentarisches Porträt ihrer Generation und des Landes, in dem sie lebte, vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 31. August 1955 war Grundsteinlegung. 35 Kilometer südlich von Cottbus und 55 Kilometer nordöstlich von Dresden begann man, aus dem kleinen, verschlafenen Heidestädtchen Hoyerswerda, inmitten sorbischer Dörfer gelegen, eine „sozialistische Wohnstadt“ zu machen. Platz für viele wurde gebraucht, denn hier sollten die zugezogenen Arbeiter des neu erbauten Gaskombinats „Schwarze Pumpe“ nebst ihren Familien eine Heimat finden. Nach und nach entstanden 10 Wohnkomplexe – WK I bis WK X –, Kindergärten und Schulen, Kaufhallen, Gaststätten, Dienstleistungsbetriebe und sogar ein Planetarium.

Waren es zuerst „wilde Habenichtse und Halsabschneider“ – woanders rausgeschmissen oder direkt aus dem Knast in die Stadt an der Schwarzen Elster gekommen –, die hier ihr Glück suchten, blieben letztlich doch nur die, die gewillt waren, „in Pumpe zu arbeiten“. Und sie brachten Kinder mit oder bekamen welche, nachdem sie sich niedergelassen hatten. Deren Geschichte hat nun die in Hoyerswerda aufgewachsene Autorin und Dokumentarfilmerin Grit Lemke in Kinder von Hoy erzählt.

Lemke hat für ihre „kollektive“ Erinnerung 16 jener in den 1960er und 1970er Jahren als Kinder in Hoyerswerda Aufgewachsenen befragt, Freundinnen und Freunde von einst. Aus deren und den eigenen Erinnerungen der Autorin entstand ein Buch, das erzählerische Momente mit solchen einer Oral History verschränkt. Äußerungen eines mosambikanischen Vertragsarbeiters, der von 1979 bis 1991 in der DDR lebte und Hoyerswerda nach den rassistischen Exzessen vom September 1991 verlassen musste, wurden ihr von der befreundeten Journalistin und Dokumentarfilmerin Julia Oelkers zusätzlich zur Verfügung gestellt.

Die Stimmen der mit ihren Vor- oder Spitznamen Auftretenden – biografische Daten zu den 16 Befragten, von denen die meisten selbst längst Kinder haben, finden sich im Anhang zusammen mit einem Verzeichnis der verwendeten Literatur und Zitatnachweisen – wechseln sich ab mit zumeist im Präsens gehaltenen Erzählpassagen, in denen die individuellen Aussagen in einen größeren Rahmen gestellt werden. Unterm Strich entsteht auf diese Weise das spannende Porträt einer Generation, die sich zunächst ihre ganz eigene, staatsferne Freiheit schuf, ehe die Wende den Niedergang nicht nur ihrer Stadt, sondern auch ihres Zusammengehörigkeitsgefühls einleitete und Hoyerswerda sich 1991 seinen traurigen Ruf als fremdenfeindlicher Ort erwarb.

„Es gibt einfach zu viele Kinder in dieser Stadt“, heißt es gleich zu Beginn des Buches über die Anfänge des neuen Hoyerswerda. „So viele Schulen sie auch bauen – immer, wenn sie die nächste feierlich eröffnen, wird sie schon wieder zu klein sein. Die Zahl der Kinder steigt schneller, als sich die Kräne drehen.“ Was auf der einen Seite zu einem Problem für jene wird, die die zugezogenen Eltern als junge und belastbare Arbeitskräfte brauchen, um mittels Kohle Gas und Energie im Akkord zu erzeugen, begründet andererseits den ganz eigenen Reichtum dieser DDR-Musterstadt. Denn die sich hinter Namen wie Schudi, Röhli, Hanni oder Hausi verbergenden Menschen, die Lemke zu Wort kommen lässt, wachsen in einem Kollektiv auf, das nicht nur Halt gibt, sondern, je älter die Kinder werden, auch deren Kreativität fördert.

Während die Eltern im Drei-Schicht-System dafür sorgen, dass im Kombinat „Schwarze Pumpe“ und den Tagebauen ringsum die Lichter nie ausgehen, entwickeln die Kinder eine Kultur- und Kunstszene, an der sie auch festhalten, nachdem sie selbst mangels anderer Möglichkeiten an jedem Arbeitstag die Schichtbusse Richtung „Pumpe“ besteigen müssen.

Nach Erwin Strittmatters (1912–1994) autobiografischer Roman-Trilogie Der Laden (1983, 1987, 1992) benennt man den Klub, in dem bald nicht nur der charismatische Musiker und Baggerfahrer Gerhard Gundermann – Grit Lemkes für den Grimme-Preis nominierter Dokumentarfilm Gundermann Revier von 2019 porträtiert den 1967 nach Hoyerswerda Gezogenen im Kontext seiner Generation und Zeit – auftritt, sondern auch Bands und Theatergruppen mit umso abenteuerlicheren Namen, je näher die Wendezeit kommt. Dass man mit einem am Dadaismus sich orientierenden und entsprechend auf vollkommene Sinnfreiheit zielenden Kunstverständnis bei jenen anecken musste, die verantwortlich dafür waren, dass auch die Jugendkultur nicht aus dem dogmatisch-enggesteckten Rahmen des „sozialistischen Realismus“ ausbrach, macht den jungen Leuten rund um die „Brigade Feuerstein“ und deren immer anarchistischere Bühnenprogramme aber kaum mehr Angst.

„Auf einmal haben alle Kunst gemacht“, umreißt einer der von Lemke Interviewten die Situation Ende der achtziger Jahre – und liefert damit wohl auch eine indirekte Begründung dafür, dass Gerhard Gundermann sich nach der Wende von einigen seiner früheren musikalischen Begleiter trennte. Und obwohl Perestroika und Glasnost bei den „ominöse[n] Kreisleitungen“ – „Faultierhaus“ nennt das Volk das Gebäude im Eingangsbereich des Kombinats Schwarze Pumpe, in dem die Partei residiert, Planziffern vorgibt und über die Arbeitsmoral wacht – auf wenig Gegenliebe stoßen, ist man nicht nur in Hoyerswerda überzeugt davon, dass auch in der DDR bald ein anderer Wind wehen wird.

Allein die mit der friedlichen Revolution endlich für alle anbrechende Freiheit, die vielen in der ersten Euphorie noch wie die lang ersehnte Reise ins Schlaraffenland erscheint, hat auch ihre Kehrseite. Denn bald stehen die ersten Arbeitslosen auf Hoyerswerdas Straßen – 20.000 Bewohner der Musterstadt werden im Laufe der 90er Jahre ihre Arbeit verlieren –, Tagebaue werden geschlossen, Kraftwerke und Gasanlagen abgebaut, Drei-Schicht-Betrieb und Busverkehr zu den verwaisten Betrieben eingestellt. Grit Lemke kommentiert: „Eine ganze Literaturrichtung war nach Brigitte Reimanns Beschreibung einer ‚Ankunft im Alltag‘ benannt worden. Von nun an wird alles Abschied sein.“

Für die Kinder von Hoy setzt mit der neuen Freiheit – Lemke hat den Untertitel für ihr Buch, Freiheit, Glück und Terror, sehr bewusst gewählt – auch die Notwendigkeit ein, sich neu orientieren und entscheiden zu müssen. Soll man sich denen anschließen, die gehen und anderswo ihr Glück suchen, oder bleiben, wo man sich in gut zwei Jahrzehnten Leben in einer Stadt, die nie fertig wurde, eine Heimat erarbeitet hat? Und schließlich brechen auch im Jahr nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die Gräben zwischen linken Autonomen und rechten Skinheads auf. Plötzlich ist es (überlebens-) wichtig zu beobachten, ob einer mit weißen oder roten Schnürsenkeln seine Springerstiefel bindet. Banknachbarn aus der noch gar nicht so lange zurückliegenden Schulzeit finden sich plötzlich und ohne dass viele genau sagen könnten, was sie in die jeweilige Gruppierung gebracht hat, in unterschiedlichen Lagern und weichen sich auf der Straße aus.

Als das Ganze schließlich in der Pogromwoche vom September 1991 kulminiert, in der tagelang Ausländerwohnheime von einem rassistischen Mob belagert und angegriffen werden und die Angreifer, zu denen sich nicht wenige Einwohner der Stadt gesellen, nur dadurch unter Kontrolle gebracht werden können, dass die Verantwortlichen der Kommune und eine überfordert wirkende Polizei die mosambikanischen und vietnamesischen Vertragsarbeiter mit Bussen aus der Stadt bringen lassen, stehen Lemkes Protagonisten dieser Entwicklung zunächst so fassungs- wie hilflos gegenüber, ehe sie selbst zu Zielen rechter Gewalt werden.

Grit Lemkes Buch endet mit einem Blick auf die letzten beiden Jahrzehnte. Und dem Bild von einer einstigen Tagebaulandschaft, die sich in dieser Zeit in eine Seenlandschaft verwandelt hat. Eine „Tagebaufolgelandschaft“ freilich, in deren Untergrund es nicht still geworden ist, Schwankungen stattfinden, die zu Rutschungen an der Oberfläche führen können. Das Vergangene, Zugeschüttete und „Verkippte“ ist eben nicht für immer vergangen, sondern arbeitet weiter im Verborgenen, von wo es jederzeit wieder ausbrechen kann. Deshalb hat sich auch in Hoyerswerda eine neue Generation aufgemacht, die Erinnerung an das wachzuhalten, was inzwischen der Vergangenheit angehört, aber nicht vergessen werden sollte.

Titelbild

Grit Lemke: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
255 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518471722

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