Der Fluch des Anthropozäns

Martin Bieris politische Gedichte loten in „Unentdecktes Vorkommen“ Tiefen & Höhen unseres Planeten aus

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

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Mensch und Gestein – das ist eine dunkle, oftmals befremdliche Allianz. Eine steinalte, bisweilen unmenschliche Geschichte über den Raubbau an der Erde. Das rücksichtslose Eindringen in deren Tiefen, das Aufreißen, manische Graben, Schürfen und Buddeln hat deutliche, für Jahrhunderte unauslöschliche Spuren über und unter Tage hinterlassen. Während Novalis und seine NachfolgerInnen die in Erde und Gestein sichtbare ,Chiffrenschrift der Natur‘ als verschlüsselte Botschaften eines verlorenen Goldenen Zeitalters interpretierten, das Mensch und Natur in Harmonie koexistieren ließ, bildet diese romantische Utopie in Martin Bieris neuem Gedichtband nur noch die fast vergessene Matrix, aus der der in Bern lebende Lyriker, Theaterautor und Philosoph die Kulisse des Anthropozäns mit seinen Verwerfungen und Verwüstungen erstehen lässt.

Topographie und Topologie, Geografie und Geologie beziehungsweise die in den Sozial- und Kulturwissenschaften der letzten dreißig Jahren als ,spatial turn‘ bekannte Hinwendung zur Befragung des Raums, bilden die Achse, um die sich Bieris gedankliches Universum dreht. Das galt bereits für seine älteren Publikationen wie den Lyrikband Europa. Tektonik des Kapitals (2015) und den Essay Henzi Sulgenbach (2020). Immer wieder geht es darin um Orte oder richtiger: Un-Orte, an denen die Auswüchse der Naturbeherrschung und Naturausbeutung ganz konkret sichtbar werden.

Hier in seinen neuen Gedichten sind es das weltweit erste Endlager für hochradioaktiven Atommüll vor der Westküste Finnlands, stillgelegte Bergwerke, Höhlen und Bunker, Meeresgründe, Fels- und Gletscherspalten, in denen sich die Erde als „arm an Arten, reich an Mensch“ (81) erweist. Bis ins Innere des Planeten sind die Chiffren der menschlichen Eingriffe zu erkennen. So erscheinen unterirdische Stollen und Gänge

befahrbar als Schienen       und als Straßen,
zylindrisch untergraben       eingetieft, Zeile um Zeile
wie die Lochkarten einer Epoche,       in Erwartung
der verbrennenden Gestirne,       die wir darin versenkten. (11)

Es ist ein Labyrinth ohne Faden, in das der radioaktive Müll hinabgelassen wird, endgültig versiegelt, unwiederbringlich für mindestens hunderttausend Jahre, und das trotz aller Warnungen vor Erdbeben und entgegen des seit den 1970er Jahren von AtomgegnerInnen immer wieder kritisch angemahnten Hüterkonzepts für Atomlager. Der Autor ist da ganz bei den SkeptikerInnen, denn, so Bieri, es gibt keine verlässlichen „Meldungen in die Zukunft“ (19), keine „Piktogramme“ und „Hieroglyphen“, die kommende Generationen vor den radioaktiven Grabkammern der Menschheit warnen könnten. Kein Weg führt mehr heraus aus der Hölle des Anthropozäns. Für die gedächtnislosen ArchäologInnen der Zukunft ist das „strahlende Material“ (18) ein „unentdecktes Vorkommen, verschüttete Intarsien“.

Martin Bieris Projekt hat klare ästhetische Konturen: es geht ihm – und das wird sehr schnell deutlich – um die lyrische und politische Reflexion geologischen und geografischen Wissens. Dem Kapitel über das Endlager folgt eines über die Troposphäre, die unterste Schicht der Erdatmosphäre, über natürliche und künstlich erzeugte Wolken, gemalte und fotografierte, meteorologische und apokalyptische Himmelsbilder, „hilfreiche Zeichen und blutige / Untergänge der Sonne“ (34), Wolkenberge über Kühltürmen, „Fallout-Pilze am Horizont“ (36) und – auch das gehört zum Assoziationsfeld ,Wolke‘ – die Selbstsimulationen und Kopien der digitalen Cloud.

Aber es geht Bieri auch um urbanistische Verwerfungen und die Gewalt der Kartografie, um Flussbegradigungen und Landgewinnung: „Hörte sie das Bleistiftkratzen auf den Seiten / des Katasters, hörte sie die Katastrophen drohen, / sah die Drohne uns sagen: unser Boden.“ (63). (Man beachte den Klang! Doch dazu später…) – Glücklicherweise wird das, was die „Winkelarchitekten“ (66) mit ihren Zubringerautobahnen, restaurierten Innenstädten und anderen städtebaulichen „Verschönerungen“ (67) verbauten und verbockten, vom „Heroismus der Käfer“ (69) und anderen Listen der Natur unterminiert.

Doch Bieri überlasst den Widerstand nicht den Käfern, seine Gedichte sind kein nostalgischer Ökokitsch. Ganz im Gegenteil: Im Kapitel Translation wird erzählt (jedes Kapitel hat ein eigenes Narrativ), wie Genfer UrbanistInnen sich vor zwanzig Jahren entschlossen, einen kanalisierten Fluss in die Freiheit zu entlassen und ein neues, künstlich geschaffenes Ökosystem zu errichten. Hier zeigt sich die Komplexität im Verhältnis von Technik und Natur: was menschliche Eingriffe zerstörten, kann zwar nicht rückgängig gemacht, doch durch andere, wissenschaftlich neu orientierte Interaktionen renaturiert werden.

Falls nun jedoch der Eindruck entstünde, es handle sich bei dieser Lyrik um in Gedichtform gepresste Essayistik, so wäre das ein arges Missverständnis. Denn Unentdecktes Vorkommen präsentiert sowohl gedanklich konsistente wie auch formvollendete, spielerisch selbstreflexive Lyrik, die natur- und sozialwissenschaftlich belegte Tatsachen der dichterischen Phantasie unterstellt.

Auffallend sind zunächst einmal wunderbar einleuchtende, poetische Bilder, die komplexe Zusammenhänge veranschaulichen und auf den gedanklichen Punkt bringen:

Und dann ab und zu,
und als habe es genug,
ging das Gras zu Boden,

gebeugte Halme, ein müdes Heer
oder Haar, hart im Gegenwind,
kapitulierendes Fahnenmeer. (82)

Doch auch die sinnlich-sinnreiche Anverwandlung klassischer Lyrikformen macht Gedanken zu Versen. Es beginnt mit Zäsuren von der dialektischen Wucht des Alexandriners, die druckgrafisch auch das gewaltsame Eindringen und Aufbrechen der Gesteinsbohrung imitieren:

Zwei Mann spalten den Stein,       der eine Milliarde Jahre lang
eins gewesen war, ungebrochen.       Sie taten es ohne Gewicht
in den Gesten, ohne Gewalt,       gelassen, doch mit Nachdruck.
[…]
Eine Kerbe hieb ihre Ratio,       ein Riss zog sich von nun an
durch den baltischen Schild.       Beben müsste das Fundament
Europas, schweigender Kontinent,       geologisch still und: stabil. (10)

So werden klaffende Abgründe, Spalten, Risse und Lücken unmittelbar sichtbar. Andere Gedichte zitieren den apokalyptischen Sprachduktus („Und ich sah…“) der Johannes-Offenbarung, reihen Alliterationen und Assonanzen, verwenden Reim und Refrain, bisweilen gar ans elegische Versmaß angelehnte Rhythmen oder bringen mit einem radikalen Enjambement die Strophen zum Tanzen:

Zuerst setzten sie das Ziel zuletzt, sie legten
den Horizont hinter sich, auf das Liebliche

kamen sie zurück und machten das Fehlen
ungeschehen.

Es ist diese ungeheure, durch nichts zu glättende Spannung zwischen kindlicher Neugier, Forscherdrang und einer fast an Eichendorff gemahnenden Sehnsucht nach dem Unendlichen, zum Beispiel, wenn es am Ende von Wolkenfotos 2 heißt: „wer weiß, vielleicht / flog ich ja doch“, und, auf der Gegenseite, dem hybriden, größenwahnsinnig technokratischen Streben nach einer immer weiter fortschreitenden, rücksichtslosen Exploration des Weltalls. „Weit haben wir’s gebracht, / vom Mars mal abgesehen, / der scheint wie in einem Brand“ (103), heißt es in Spirit & Opportunity. Denn was jetzt schon bleibt vom Größenwahn eines Elon Musk und Konsorten, ist der Weltraumschrott, der „Schrott, mit dem / wir uns ummanteln“ (111). Damit aber begegnet der skeptische Blick in die Höhe am Ende des Gedichtbands dem mahnenden Blick in die Tiefe, mit dem er begann.

Kein noch so umfassendes kulturelles Gedächtnis ist dem strahlenden Erbe der Menschheit gewachsen, doch diese Gedichte von Martin Bieri sind der Versuch, den Blick aus der Zukunft und das Urteil kommender Generationen in lyrischen Assoziationen vorweg zu denken.

Titelbild

Martin Bieri: Unentdecktes Vorkommen. Gedichte.
Allitera Verlag, München 2021.
116 Seiten , 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783962332952

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