Das Rettungsmittel Liebe

Albert Ostermaier dichtet in „Teer“ über Formen der Zweisamkeit

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gedichte, gestern und heute verfasst, berichten auf eigene Weise von nicht auserzählten Geschichten, gelegentlich sehnsuchtstrunken, eher welt- als selbstvergessen. Auch Albert Ostermaier begibt sich auf die Spuren von Leidenschaften und Enttäuschungen, von Dichtern und Literaten, fantasiert darüber, in langen Gedichten. Verborgene Dramen mögen wissenschaftlich bedacht sein. Etwa über den traurigen Familienvater Thomas Mann denkt er nach, „die fuge des ungefügten die lust / des lustvoll sich verbietens er /deutet an“. Wie oft ist über die gelegentlich homoerotisch getönte Prosa Manns nachgedacht worden, etwa als die Tagebücher publiziert wurden. Doch wer die eigen kolorierte Novelle Der Tod in Venedig liest – mit emphatischen Resonanzen zu Platons Phaidros –, der sieht darin Tagträumereien oder mehr, jedenfalls nicht allein bloße Andeutungen des Sich-Verbietens. Doch darüber mögen, wie gesagt, germanistische Studien geschrieben werden.

Neben den vielschichtig lyrisch porträtierten Schriftstellern arbeitet Ostermaier oft mit kurzen Versen, mit Sprachbildern, die anregen und bisweilen verstören. Eine unheimliche Nähe entsteht sodann, wenn ein lyrisches Ich erwägt: „wie neopren klebe ich auf / deiner haut sie reagiert“. Eine körperliche, auch emotionale Nähe, enganliegend wie ein Surfanzug, erscheint sodann nicht liebevoll, wohltuend und wärmend. Die Reaktion fällt „allergisch“ aus, also abweisend. Nähe kann gewiss schwierig, sogar toxisch sein, verwundern und verwunden. Es ist nicht gut, aneinander zu kleben. Solche Verse möchten bedacht sein, wenngleich sie auch ein wenig schlicht anmuten. Doch kunstvoll gefertigte, artistische Poesie kann in diesem Band ebenso entdeckt, bestaunt und bewundert werden, wenn Albert Ostermaier Paaren und den Facetten ihrer Zweisamkeit nachgeht:

ein schiff zieht vorbei der
horizont setzt seine sieben
segel wir lassen uns treiben

Nicht also die ineinander verstrickten, manchmal sogar leidenschaftlich und gefühlvoll gestimmten Beziehungswesen setzen die Segel, sondern – eine ironische Wendung – der Horizont tut es. Dieses Paar, möglicherweise verliebt, in jedem Fall miteinander verwickelt, ergreift nicht die Initiative. Es strebt und trachtet nicht, es setzt sich, wie wohltuend, keine Ziele. Das Paar will weder sich noch einen Lebensplan verwirklichen. Die Segel setzen andere, „wir lassen uns treiben“ – eine schöne Vorstellung.

Über die Grammatik der Partnerschaften denkt Albert Ostermaier nach. Anweisungen für eine gelingende Zweisamkeit dazu finden sich hinreichend, etwa in Büchern philosophischer, psychologischer oder auch theologischer Art. Indessen genügen weder Enzyklopädien noch Unterweisungen, auch nicht die Erinnerung an alte Versprechen oder das donnernde Bekenntnis zum guten Willen. Können Wörter heilen, Trost spenden, Gemeinschaft stiften – oder vergiften sie die Atmosphäre?

interpunktion

was spricht dich
gesund ein wort
steckt das andere an
bis es in klammern
steht der doppelpunkt
isoliert ich lebe
in anführungszeichen
das komma wartet
alleine was kommt
das du oder die
quarantäne drei
punkte am ende
jedes satzes nach vorn

Das Alltagswissen gibt Aufschluss: Ein Wort gibt das andere, eine Art Infektion folgt, möglicherweise eine Kränkung. Versöhnung kann gelingen, das Gegenteil in gleicher Weise. Mit Begriffen der Corona-Zeit spielt Ostermaier, vom Leben in der Isolation, berührungslos, ausgegliedert – und schließlich wird auch die Quarantäne erwähnt. Der Dichter führt andere Abstandsgebote auf, Maßnahmen der Distanzierung. Niemand möchte „in anführungszeichen“ leben, auch nicht in Quarantäne. Deutlich wird hier vor allem, wie leicht durch Wörter Grenzen sichtbar werden und Grenzziehungen erfolgen. Menschen, Paare ohnehin, reden viel miteinander, nicht selten aneinander vorbei. Sie leben auch oft isoliert nebeneinander her. Manche von ihnen haben sich nur noch wenig oder nichts Gutes mehr zu sagen. Das ist und macht traurig. Gibt es noch Hoffnung? Ein Gedicht lautet zuversicht:

zuversicht

die welt ist aus den fugen du
aber sagst wir fügen uns nicht
das herz hält nicht still doch
die stille die zeit zu verlieren
sie und uns wiederzugewinnen
in jeden augenblick ohne zu
verweilen im gestern fällt der
schnee seite für seite auf das
gefrorene meer in uns bis
wir das eis brechen

Sehr bekannt ist die Rede über eine aus den Fugen geratene Welt, dasselbe gilt für Beziehungen, die verödet und erstarrt sind. Die kleine Welt zu zweit kann zur Wüste werden, aus den Fugen geraten, aber es bleibt eine hoffnungsvolle Perspektive offen – sich all dem nicht zu fügen, Widerstand zu leisten und die erkaltete Zweisamkeit neu zu beleben. Das kann glücken, wenn das „wir“, das das „gefrorene meer in uns“ brechen kann, noch fortbesteht, nicht ganz verkümmert ist. Ein Lebensschimmer zeigt sich, denn „wir fügen uns nicht“ – und auch das kann gelingen, freilich nicht allen und nicht jedem.

Über das Meer denkt Albert Ostermaier oft nach, über die Sehnsucht, sich dem Du zuzuwenden, sich dem geliebten Anderen hinzugeben und buchstäblich darin zu versinken:

zum meer

ich geb mich dir hin
hin und weg bist du
auf dem weg zu mir
wo ich auf dich warte
hingebungsvoll streckt
mein herz die arme aus
um dich und du sagst hin
und wieder geb ich dir
was ich bin

Hingabe ist ein großes Wort, schwer beschreibbar, stets gefährdet. Die rückhaltlose Zuwendung des lyrischen Ich zum lyrischen Du gelingt hier in einer dynamischen Beziehung. Johann Wolfgang von Goethe, oft zitiert, bemerkte in den Maximen und Reflexionen: „Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.“ Das wirkt vergleichsweise rational und zurückhaltend. Aber auch Albert Ostermaier spricht vom Rettungsmittel Liebe, nicht in therapeutischer Dosierung, sondern in wahrhaft herzlicher Hingabe und ozeanischen Gefühlen. Das Ich gibt sich dem Du hin, das Du dem Ich – die eine und der andere schenken einander „hingebungsvoll“, jede, jeder für sich, „was ich bin“. Dieser Lyrikband enthält poetische Rätsel, aber auch reizvolle, vielschichtige und anregende Dichtungen.

Titelbild

Albert Ostermaier: Teer. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
127 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518471838

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