Hohelied des Polyglottismus mit pikareskem Nerd

In Szene gesetzt von Katharina Kramer in ihrem historischen Roman „Die Sprache des Lichts“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hinter dem christlichen Schöpfungsglauben steht bekannterweise ein verbaler Akt – die Verwandlung von Gottes Wort in das, was es bezeichnet bzw. die Transformation der Signifikanten in das empirisch existierende Pendant des Signifikats. Sprache ist ein Organon, auch für das Neue Testament das entscheidende Werkzeug, denn „das Wort ward Fleisch“. In welcher Sprache aber hat Gott seinen Schöpfungsakt vollzogen? Bildeten eventuell die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets die Grundlage, wovon man in der jüdischen Mystik ausgeht? Oder gab/gibt es eine andere Ursprache, die mit der identisch sein könnte, in der sich die Menschen vor der babylonischen Sprachverwirrung verständigten?

Für diese müsste man den Schlüssel finden, um alles Bezeichnete in Substanz zu verwandeln, um diese Kenntnis für das Große Alchemistische Werk, vor allem die Herstellung von Gold zu nutzen, aber auch, um mit dieser Sprache zum Frieden unter den Völkern beizutragen. So der Hintergrund zu Die Sprache des Lichts, erster Roman von Katharina Kramer, die bislang als Lehrerin, Übersetzerin und Journalistin gearbeitet hat.

Jacob Greve, 34 Jahre alt, der Pforta, wo er als Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch tätig war, verlassen hat, trifft im April 1582 in Erfurt den englischen Alchemisten und Lebenskünstler Edward Kelley. Von diesem erfährt er, dass John Dee, Astronom und Mathematiker der englischen Königin, nach der Sprache der Schöpfung, der „Sprache des Lichts“, suche und dafür ein Engelsmedium benötige, das ihm die Sprache übermittle. Ein sprachbegabter junger Mann sei dafür gerade gut genug.

Greve begibt sich über Antwerpen, wo er ein „Bellaso-Rätsel“ löst, nach London. Er erhält Einblicke in John Dees Bibliothek, gewinnt einen Gedächtniswettbewerb gegen Giordano Bruno und entwendet sehr schnell Das Buch Soyga, auf dessen Fährte ihn Edward Kelley gesetzt hat und das angeblich den Schlüssel für die Ursprache enthält.

Edward erwartet Jacob in der pyrenäischen Stadt Pau. Gemeinsam versuchen sie, eine Pfeifsprache der Hirten zu entschlüsseln, weil diese der Ursprache sehr nahekomme. Mit Margarète Labé, eine Spionin der Katholischen Liga, die seinetwegen, des Protestanten, die Seiten wechselt, kann Jacob die Pfeifzeichen deuten. 

Kurz darauf decodiert er Das Buch Soyga. Der einzige Satz, der in unterschiedlichen Sprachen vor- und rückwärts aufgeführt sei, müsse als „Morgens um zehn sollst Du Kohl essen“ wiedergegeben werden. Darüber gerät Jacob in eine solche ekstatische Freude, dass er ungewollt an einem Hexensabbat teilnimmt, verhaftet wird und als Häretiker verbrannt werden soll. 

Nachdem Edward, Margarète und der inzwischen auch eingetroffene John Dee Jacob gerettet haben, reisen sie über Lyon, Ulm und Passau nach Prag. Dort wähnt sich Jacob in einem „polyglotten Paradies“. Margarète eröffnet eine Schule für Gebärdensprache, Jacob kann aufgrund eines Empfehlungsschreibens des englischen Königs einem Hofschreiber assistieren, bevor ihn Kaiser Rudolf, der ihn zum Buch Soyga befragt, Anfang Januar 1583 in die „Neue Welt“ schickt, um dort „Sprachen zu sammeln“. 

Der traditionell auktorial vermittelte Roman beruht zunächst auf zwei Handlungssträngen, von denen der erste anfänglich etwas kantig und schematisch wirkt. Er führt in die Provinz Béarn in den Pyrenäen, wo Margarète Labé aktiv ist. Der zweite Handlungsstrang folgt zur selben Zeit Jacobs Aventüren. Dann, wenn beide Linien fusionieren, nimmt der Roman rapide an Fahrt auf. Es ergibt sich ein Bild der Spätrenaissance, das aus heutiger Sicht authentisch ist. Katharina Kramer gelingt es, facettenreiche Tableaus zu kreieren, die bunte Imaginationen hervorrufen, so etwa bei der Darstellung eines mittelalterlichen Marktes in Pau, wo Edward Kelley, der sich auch als fahrender Apotheker verdingt, mit allerlei Tinkturen handelt. In meist dynamischen Dialogen konkretisiert sich die historische Matrix, wird an manchen Stellen vertieft und detailliert, ohne dass sie langatmig ausgeführt werden würde. Oft steht der Konflikt der Konfessionen im Zentrum, dem sich die beiden Protagonist*innen Jacob und Margarète mit der Zuneigung und schließlich Liebe zueinander sowie mit ihren unterschiedlich gearteten Talenten für Sprachen entziehen. 

Katharina Kramer lässt historisch belegte und frei erfundene Personen nebeneinander auftreten: Da sind z. B. Edward Kelley und John Dee, die im Personenverzeichnis zu Beginn des Romans als Hauptfiguren und berühmte Gestalten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelistet und sehr plastisch fiktionalisiert sind. Dasselbe gilt für Rudolf II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen zwar nur kurzer Auftritt seine Bedeutung als religionstoleranter, kunstliebender und experimentierfreudiger Monarch illustriert. 

Margarète Labé, so erläutert Kramer in ihren sehr begrüßenswerten Ausführungen Zum historischen und faktischen Hintergrund des Romans, sei eine Synthese aus der englischen Übersetzerin Margaret Tyler und der französischen Lyrikerin Louise Labé. Vielleicht spielt auch Margarete von Navarra, zu verorten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Autorin der Kurzgeschichtensammlung Das Heptameron, mit hinein. Alle drei statuieren sie Exempel für humanistisch gebildete Frauen, die sich nicht nur mit Sprachen sowie den Disziplinen der „septem artes liberales“ auseinandersetzten, sondern die ebenso Fechten und Reiten lernten. Mit ihrer Protagonistin macht Kramer darauf aufmerksam, dass die Stellung der Frau in der Renaissance besser war als im Barockzeitalter und darüber hinaus. 

Wenn eine Figur als Beleg für eine geschichtlich verbürgte Tatsache konzipiert ist, nimmt es nicht wunder, wenn sie ein bisschen Zeit braucht, um sich voll zu entfalten. Das tut Margarète ab dem Moment, wo sie mit Jacob zusammentrifft, obgleich, oder besser gerade weil die zarte Bande zwischen ihnen an keiner Stelle zu einer sentimental-seichten Romanze verkommt. Beide ergänzen sich vorzüglich: Margarètes Talent liegt eher in der non-verbalen Kommunikation, sie kann die Pfeifsprache der Hirten, die Jacob analysiert, sehr schnell anwenden und entwickelt später eine umfassende Gebärdensprache. Sie agiert operativ anpackend und strategisch besonnen gleichermaßen.

Jacob Greve indessen, frei erfunden, ist allen anderen sowohl innerfiktional intellektuell als auch von seiner ästhetischen Konstruktion her haushoch überlegen. Schon sein erstes Auftreten ist vollumfänglich vereinnahmend. Wohl ist er gerade noch Präzeptor in Pforta, seine Leidenschaft jedoch gilt weniger seinen Schülern als vielmehr der Übersetzung oder dem Schweben zwischen den Sprachen. Eigentlich überträgt er einen Abschnitt aus der Odyssee vom Altgriechischen ins Deutsche, dann aber springt er weiter ins Lateinische, Polnische und schließlich Walisische:

Die walisischen Silben gurgelten tief in der Kehle, das Italienische summte hinter der Stirn, das Polnische zischelte an den Rändern der Zunge. Mit jeder Sprache verwandelte er sich ein wenig, verschob sich etwas im Innern seines Körpers. Jacob verschränkte die Hände im Nacken, sprach zur aus massiven Holzplanken bestehenden Decke, beobachtete das Farbenspiel vor seinem inneren Auge, das er immer sah, wenn er Worte hörte. Das Spanische sah aus wie grüne Wellen, das Lateinische schillerte rot wie Wein, das Walisische ergab gelbe wässrige Punkte. Der schönste Moment war immer der, wenn er zwischen den Sprachen hin und her wechselte: ein leichtes Schweben.

Jacobs wesentliche Charakterzüge werden hier aufgefächert: Er ist ein polyglotter Gelehrter, zudem ein Synästhetiker, denn er kombiniert den Klang mit Farben. Den Wechsel zwischen den Sprachen genießt er in besonderem Maße – er favorisiert den ultrakurzen Moment des „Dazwischen“, den Wimpernschlag zwischen dem einen und dem anderen Idiom. 

Wenig erstaunlich, dass Jacob „Kirschen und Deklinationen“, die ihm Pforta bereits während seiner eigenen Schulzeit zu bieten hatte, nicht mehr genügen. Nach einer verpatzten Unterrichtsvisitation zieht er die Konsequenz und reitet fluchtartig auf seinem Pferd von dannen. 

Jacobs Qualitäten addieren sich zu einer Hochsensibilität, die in erster Linie die Wahrnehmung von Geräuschen potenziert. Die Hyperakusis erlaubt es dem Protagonisten zum einen, innerhalb weniger Minuten die besondere dialektale Färbung einer Sprache zu assimilieren, neue Sprachen im Turbo-Modus zu erlernen und Gerüche zu hören. Zum anderen lässt ihn die übersteigerte Perzeption jede kleine Unstimmigkeit als Marter empfinden, so etwa als er auf dem Schiff, mit dem er auf der Rhône fährt, „scharfen Salzgeruch“ hört. Diesen definiert er als Dissonanz von Fis und G, die er nicht lange aushalte. 

Alle sprachlichen Fehler seiner Gesprächspartner identifiziert er, allen voran die Grammatiklapsus in der gängigen Kommunikationssprache Latein. Sogar als er in den Kerkern von Pau vernommen wird, registriert er jeden Fehler des Richters. Beim falschen Bilden des Prädikats hört Jacob „den Fehler als einen schiefen Fiedelton, ein zu hohes As“. Es erstaunt kaum, dass ihm schlimme Folter erspart bleibt. Die Quietschtöne der Streckbank reichen aus, um ihn zu jedem Geständnis zu bewegen. 

Ganz im Sinne von Rabelais ein „abîme de science“ – erst nur Intellektueller, dann mutierend zu einem pikaresken, wirklich schelmenhaften Nerd, der sich immer wieder fragt, wie er denn in den ganzen Schlamassel hineingeraten ist. Überall regiert ein ironisches Augenzwinkern, immer ist Jacob, salopp gesagt, „irgendwie drüber“, denn er scheint dauerhaft in seine Parallelwelt des Wissens abgetaucht zu sein. 

Während der satanischen Messe reicht ihm jemand eine „schwarze Hostie“. Er kann nicht umhin, den Begriff als Oxymoron zu identifizieren. Dabei konstatiert er selbst, dass es unfassbar sei, dass ihm in dieser „verdrehten Messe“ eine rhetorische Figur einfalle. Er schluckt sodann „die schwarze Hostie herunter, das Oxymoron mitsamt dem Sand“, der noch an der schwarzen Rübenscheibe hängt. 

Jacobs linguistische Kompetenzen gelangen auf dem Marktplatz von Pau an einen Kulminationspunkt, als er die Sprache der Engel „frei nach einem sächsischen Lateinschullehrer“ einsetzt. Es handelt sich um die Extension und Intensivierung jener Sprache, deren Grundzüge Edward Kelley skizziert hat, die Sprache Gottes, die Frieden stiften und die Menschen einen soll, eine angeblich eng mit dem Äthiopischen verwandte Kunstsprache, festgehalten im verschwundenen „Buch Enoch“. 

Kurz bevor der Scheiterhaufen entzündet wird, beginnt Jacob, in dieser melodischen und harmonischen, sich vage dem Hebräischen annähernden Sprache, mit magischer Kraft zu sprechen. Er hypnotisiert die schaulustigen Menschen, sie schwingen „im Rhythmus von Jacobs Worten, mit verklärten, nach innen gerichteten Blicken“. Mit seinen Sätzen lenkt Jacob des Weiteren einen „flügelschlagenden Adler“, den John Dee für die spektakuläre Rettungsaktion hergestellt hat und der sich dank einer Umlauf-Apparatur zwischen zwei Türmen hin und her bewegen kann. Die Menge sitzt einer dreifachen Täuschung auf: Jacob sei unsterblich, er beschwöre den Adler und er sei überdies für das aufziehende Gewitter verantwortlich. Schließlich laufen alle, auch der Henker und seine Gehilfen, von der Hinrichtungsstätte weg, so dass Jacob mit seinen Retter*innen die Stadt verlassen kann.

Bei aller Hypertrophie, die man gerade dieser Szene nicht absprechen kann, passt sie doch zu Jacob, der multilingualen Lichtgestalt, deren ironischer Habitus allgegenwärtig ist. Daraus resultieren zwar nur geringe Spannungsmomente, aber allein die Leichtigkeit, mit der sich Jacob durch die Momente höchster Gefahr laviert, macht dieses wett. 

Dazu angetan, kleinere Schwächen, insbesondere im Romanganzen unmotiviert wirkende Szenen in der ersten Hälfte des Romans – so etwa der Mord an einem Pfarrer oder Margarètes Tanz mit dem König im Schloss von Pau –, zu retuschieren, sind die Hauptthemen des Romans: Sprachen im Allgemeinen und Sprachen als Universen der Klänge und Harmonien sowie ebenso als Medien der Kommunikation im Besonderen. Hinzu treten Kryptologie und Steganografie, für die Katharina Kramer einige Beispiele in die Romanhandlung integriert und genauere Informationen in einem Glossar und den Bemerkungen zum historischen Hintergrund nachliefert. 

Nicht zu vergessen die „Luftskulpturen“, wie Jacob sie nennt. Sie seien „fast greifbar“, „beinahe wie Materie“ und „der Ursprache näher als jede andere Sprache“. Ja, denn in einem Akt der Schöpfung transformieren Gebärdende Signifikanten in Sichtbares. Die Gebärdensprache als eigenständige Sprache zu würdigen, ist ein weiteres Verdienst des Romans.

Einige literarische Eminenzen, so lässt sich vermuten, formen einen wirkmächtigen Untergrund: Zum Beispiel Der Name der Rose, Umberto Ecos weltberühmter Mittelalter-Krimi. Daneben schlägt sich Jorge Luis Borges‘ Einfluss nieder in John Dees „Bibliotheca Externa“ und „Bibliotheca Interna“, genauso in der Konzeption der Hauptfigur. Von Dan Brown dürfte mehr als die anderen Robert Langdon-Thriller Das verlorene Symbol eine Rolle gespielt haben und Patrick Süskinds Das Parfüm könnte Kramer zumindest insofern inspiriert haben, als es Jean-Baptiste Grenouille, vergleichbar mit Jacob Greve, gelingt, eine große Menschenansammlung zu bezirzen. 

Katharina Kramer hat einen brillant recherchierten Roman vorgelegt, in dem ihre eigene Gelehrsamkeit auf erfrischende Weise zutage tritt und Fluidität beweist, niemals als erratischer Fremdkörper das Voranschreiten des Textes hemmt, sondern – ganz im Gegenteil – der Entwicklung des quicklebendigen, leicht verschrobenen, ironisch-distanzierten und rundum sympathischen Protagonisten dienstbar gemacht wird.

Titelbild

Katharina Kramer: Die Sprache des Lichts. Roman.
Verlagsgruppe Droemer Knaur, München 2021.
494 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783426282410

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