Reise durch die eigenen vier Wände

Karl-Markus Gauß entdeckt in „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ auf engstem Raum eine ganze Welt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er nicht nur was erleben, sondern muss gelegentlich auch warten: vor dem Eincheckschalter auf dem Flughafen, aufs Boarding, auf sein Gepäck nach der Landung am Ziel, auf die Fahrgelegenheit zum Hotel und anschließend zehn oder noch mehr Tage von früh bis spät auf die verschiedenen Essenszeiten, die Abfahrt von Ausflugsbussen, -schiffen und was es sonst noch an Beförderungsmitteln für abenteuerlustige Touristen gibt, Poolöffnungszeiten und, und, und. 

Karl-Markus Gauß ist in seinen bisherigen 67 Lebensjahren mit dem Warten so vertraut geworden, dass ihn das in die Lage versetzt hat, in sein aktuelles Buch Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer eine ganze „Phänomenologie des Wartens“ aufzunehmen. Da liest man dann vom „erzwungenen“ Warten, dem „ungeduldigen“ Warten – etwa in Kassenschlangen –, dem „panischen“ Warten auf Prüfungen, denen man ganz sicher nicht gewachsen sein wird, einem „zielgerichteten“ Warten, dem ein „zielloses“ entgegengesetzt wird und etlichen weiteren Unterarten einer Tätigkeit, die diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient. Denn wozu die ganze Warterei? „Das Warten ist die unmerkliche Bewegung des Todes. Immer warten wir auf etwas […] und darüber werden wir alt und sterben wir.“

Wer sich das Warten freilich mit der Lektüre von Gauß‘ Reiseerlebnissen auf dessen Abenteuertrip durch seine Salzburger Wohnung – die dem Autor vorkommt wie „ein umgekipptes Schiff“, dessen schräg zulaufenden Bauch der ausgebaute Dachboden vorstellt, während man, um ins „luftige Oberdeck“ zu gelangen, hier paradoxerweise hinuntersteigen muss – verkürzt, wird zwar dem Älterwerden auch nicht entkommen, es aber während der kurzweiligen Lektüre kaum bemerken. Denn so anstrengungslos wie bildungssatt, diskret und offen zugleich, gewitzt, sprachgewandt und im Kleinsten das Größte entdeckend, nimmt der Wohnungsbesitzer als Reiseleiter seine Leser mit auf eine Tour durch ein paar Dutzend Quadratmeter, die es in sich haben.

Natürlich ist Gauß nicht der Erste, der im kleinen Um-sich-Herum Großes entdeckt. Und der vielfach ausgezeichnete Autor kennt diejenigen genau, die – ihm voraus – durch ihre Wohnungen auf Entdeckungsreise gingen. Allen voran natürlich Xavier de Maistre, dessen 1794 erschienenem Buch Reise um mein Zimmer (Voyage autour de ma chambre) er auch das Motto für seine eigene Reise entnommen hat. „Xavier de Maistre ist weit herumgekommen, aber nirgendwo weiter als in seinem eigenen Zimmer“, ist Gauß überzeugt. Und den „charmante[n] Zug“ im Text seines Vorgängers, ohne Plan oder Ziel den Raum zu durchstöbern, „das Sprunghafte, Unsystematische“ bei seinen Erkundungstouren triumphieren zu lassen, eine Methode zu präferieren, die „bald einen Gegenstand erfasst, bald von ihm abschweift und ihn aus den Augen zu verlieren scheint“, findet er so reizvoll wie überzeugend, dass er ihn sich gänzlich zu eigen macht.

So kommen die Leser in den Genuss, von einem unterhaltsamen, die mit zahlreichen Bücherregalen geschmückten Zimmer seiner Wohnung offensichtlich ohne festes Ziel durchstreifenden und sich an unscheinbaren wie ins Auge stechenden Gegenständen festhaltenden Erzähler nicht nur Episoden aus dessen Leben erzählt zu bekommen, sondern auch über die Geschichte seiner Duschhaubensammlung aufgeklärt zu werden und Wissenswertes über Bücher zu erfahren, die ihm besonders am Herzen liegen. Zu Letzteren zählen die Kolumnensammlungen des Schweizer Autors Peter Bichsel, die „zu lesen einen doch immer neu erfreut“, genauso wie die der Dokumentarliteratur der 1970er Jahre verpflichteten Romane und Erzählungen des 1941 in Augsburg geborenen Klaus Stiller, von dem nach 2000 kein Text mehr erschien und der Gauß deshalb an das Phänomen des Verschwindens denken lässt, das ihn wie kaum ein zweites fasziniert und immer wieder auf die unterschiedlichsten Expeditionen – nach verschwundenen oder im Verschwinden begriffenen Sprachen, Nationalitäten, Haltungen oder Formen – gehen lässt.

38 Abschnitte sind es insgesamt, in die die Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer unterteilt ist. Es beginnt mit einem Brieföffner auf seinem Schreibtisch, der Gauß zu Überlegungen über die Geschichte der Firma, die sich auf dem Einlegeblättchen in seinem Griff verewigt hat, Anlass gibt und des Weiteren zu der ein wenig melancholisch stimmenden Überlegung führt, dass wohl auch der klassische Brief als Mitteilungsform mit dem Erscheinen von E-Mails so gut wie ausgedient hat: „Die mir einst regelmäßig Briefe schrieben, sind tot, verstummt, von mir enttäuscht oder nach und nach aus der Wirklichkeit der persönlichen Wörter in die digitale Welt der vorgegebenen desertiert.“

Wenn man schließlich nach knapp 200 Seiten, auf denen man unter anderem an einem Überseekoffer, zwei Tischtüchern und zwölf Servietten, dem Bett des Autors, dem „voluminöse[n], doch elegante[n]“, leider aber nur schwer transportablen Schreibtisch des Autors samt den in den Tiefen seiner Fächer und Laden aufbewahrten Dingen, dem 379 Rezepte umfassenden Kochbuch, das die Großmutter eigenhändig für den Haus- und Familiengebrauch geschrieben hat, Gauß‘ Lieblingshemd und seiner Bildersammlung, in Petersburger Hängung mehrere Wände bedeckend, sowie zahlreichen Büchern seiner mehrere Tausend Bände umfassenden Bibliothek vorbeigekommen ist, weiß man eine Menge mehr, aber noch lange nicht genug.

„Ach, so viele Dinge galt es zu würdigen, an so viele Menschen zu erinnern, so vielen Schicksalen nachzuspüren“, lässt der Autor selbst am vorläufigen Endpunkt seiner Reise wissen. Also sich ein weiteres Mal aufmachen, den Dingen, die noch keine Erwähnung fanden, die ihnen innewohnenden Geschichten entlocken? Eine Fortsetzung der ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen Reise in Angriff nehmen? Oder das Vorhaben doch lieber zugunsten anderer Projekte aufgeben? Wir plädieren für Ersteres, hätten aber auch Verständnis dafür, wenn eine weitere Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer in das ungeschriebene Buch mit dem Arbeitstitel „Alle meine Bücher, die ich nicht mehr schreiben werde“ Eingang fände. Denn Gauß hat wohl recht: „Was ein Autor zu schreiben unterlässt, das charakterisiert ihn nicht weniger als das, was zu schreiben er sich genehmigt hat.“

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer.
Unionsverlag, Zürich 2020.
224 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783293208988

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