Ein faszinierender Blick auf die Welt eines indigenen Volkes

Weder Western noch Karl May: Álvaro Enrigue schreibt mit „Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles“ einen Roman über die Apachen

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Apachen. Diese mythenumrankten „Wilden“ bestehen/bestanden aus sechs verschiedenen Stämmen, die im Norden Mexikos und im Süden der USA lebten und stark dezimiert leben. Ihr Territorium umfasste Mitte des 18. Jahrhunderts ein riesiges Gebiet, das von den High Plains in Colorado bis nach Sonora, Chihuahua und Tamaulipas reichte: Es war die Gran Apachería. Die mexikanische wie die nordamerikanische Regierung fürchteten diese vorzüglichen, freiheitsliebenden Krieger.  Die Mexikaner führten deshalb 1835 Prämien auf Apachen-Skalpe ein, später folgten die USA und setzten ebenfalls Kopfgeld aus. Man machte regelrechte Jagd auf sie, und die finanziellen Belohnungen dienten als Anreiz, so dass viele Hasardeure ihr Glück versuchten.  

Nachdem Mexiko im Krieg gegen die USA 1848 mehr als ein Drittel seines Territoriums verloren hatte, u. a. Kalifornien, Arizona, Texas, befand sich die Apachería in zwei Staaten. Schon zwei Jahre später begannen die für die USA kostenintensiven und grausamen Apachen-Kriege, die vier Jahrzehnte lang dauerten, denn der Widerstand der Indios in den Gefechten und ihre detaillierten Kenntnisse über Fluchtwege in den unwegsamen Territorien waren beeindruckend.

Vom „wilden Westen“, den Apachen, ihren Skalps als Siegestrophäen und den blutigen Kämpfen haben viele Westernfilme vereinfachend und in Schwarz-Weiß-Bildern erzählt, desgleichen viele Romane von Karl May … schließlich war auch Winnetou ein Apache. Es gab bedeutende Häuptlinge, und einer der letzten war Gerónimo, sicher der berühmteste. Er ist der Protagonist des vorliegenden Romans. Sein Leben wurde mehrfach verfilmt, auch für TV-Serien, es gibt etliche Biografien über ihn und längst ist er ein Held der Volkskultur, den man in populären Liedern feiert. 

Álvaro Enrigue ist Mexikaner (*1969) und lebt seit mehreren Jahren als Universitätsdozent in New York. Er hat das Leben der Apachen akribisch erforscht, ihre Geschichte, Glaubensvorstellungen und Überlieferungen leidenschaftlich und fasziniert studiert. Mehr noch: er nutzte einen Familienurlaub, um die Landschaft kennenzulernen und das Terrain der Auseinandersetzungen genau zu erkunden. Ergebnis ist der vorliegende Roman, ein Epos, das auf diesen anthropologischen und historischen Untersuchungen aufbaut und zugleich ein Reisebericht ist.  

Erzählt werden Lebensgeschichten realer Personen: von der Mexikanerin Camila Ezgurra, die von Apachen entführt wurde; dem Oberleutnant José María Zuloaga, der den Auftrag erhalten hatte, sie zu suchen und in die „Zivilisation“ zurückzubringen; USA Generäle wie Nelson A. Miles. Dann die Apachen, ihre Krieger, Frauen und Kinder und ihre Häuptlinge Gerónimo, Cochise, Mangas Coloradas. Hinzu kommen die erfundenen Personen, wie z. B. die falsche Nonne Elvira, die bestens mit dem Gewehr umgehen konnte; die Yaqui-Zwillinge, die jahrelang in einem Gefängnisloch steckten und für ihre Bereitschaft, sich an der Suche zu beteiligen, freigelassen wurden; ein verkrachter Tanzlehrer; ein sehr junger Rarámuri-Indio, der zum vertrauensvollen Diener Zuloagas avancierte und dazu noch ein paar zwangsrekrutierte Bauern, die sich baldmöglichst davonstahlen. Diese Expedition ähnelte eher einer Strafe als einem lohnenden Abenteuer. Letztlich werden drei Geschichten erzählt, aber wir lesen keinen historischen Roman im üblichen Sinne, sondern eine zutiefst berührende Erzählung über Geschehen, die man heute nur als Völkermord bezeichnen kann. Denn die Apachen wurden quasi ausgerottet, das war das erklärte Ziel der US-Regierung … und schon zuvor war ihre Vertreibung in Mexiko hartnäckig betrieben worden. 

Enrigue nimmt den Leser mit auf diese Erkundungsreise. Wir begleiten Zuloaga und seinen kleinen Trupp durch unwirtliche, majestätische Landschaften. Die Yaqui sind exzellente Fährtenleser und verfolgen durch winzige Details die Spur von Camila, finden immer neue Hinweise, woraus sie sogar Rückschlüsse auf die Behandlung Camilas ziehen. Der nächste Erzählstrang ist der Camilas, in der sie von ihrer Gefangennahme berichtet, wie sie misshandelt wurde und dank ihres Überlebenswillens allmählich den Respekt der Apachen erwerben konnte, obwohl die Frauen sie ablehnten. Sie lernte ein paar Worte der Apachensprache und wurde vom Häuptling der Gruppe beschützt, der ihren Mut und ihre Ausdauer bewunderte und sie schließlich als neue Frau zu sich nahm. Wir erfahren, wie die Apachen in Winter- und Sommerquartieren leben, wie sie oft Hunger leiden und das Vieh ihr wertvollstes Gut ist, welche Ehr- und Rachegefühle ihr Handeln prägen: Eine anthropologische Studie, die mühelos in die Narration einfließt. 

Gerónimo, eigentlich Gokhlayeh, der legendäre Apachenhäuptling (1829–1909) und „heilige Mann“, führte einen erbitterten Krieg mit den Mexikanern, die er zutiefst hasste, weil sie seine Mutter, Frau und Kinder 1858 in Chihuahua ermordet hatten. Deshalb war er auch bereit, mit den US-Truppen zu kooperieren. Einige ihrer Befehlshaber freundeten sich sogar mit Apachen an oder zollten ihnen Respekt, denn sie bewunderten ihren Mut und Kampfgeschick. 1877 nahm er das Angebot an, die Kämpfe zu beenden und sein Volk als Farmer in einem Reservat anzusiedeln. Aber es waren falsche Versprechungen, sie erhielten ein unwirtliches Land in der Wüste, von dem sie sich nicht ernähren konnten. So kam es immer wieder zu Ausbrüchen und neuen Gefechten, und das bevorzugte Rückzugsgebiet war die Sierra Madre. Erst 1886 stellte sich Gerónimo mit dem legendär gewordenen Satz: „Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles“. 

Wiederum brachen die USA das gegebene Versprechen der Friedensverhandlungen, der Häuptling und seine Getreuen kamen in wechselnde Gefängnisse oder Forts. Man stellte Gerónimo aus wie eine Sehenswürdigkeit, eine inakzeptable und unwürdige Behandlung. Er hüllte sich in Schweigen, ließ wohl alles an sich abprallen. 

Nach seinem Tod wurde er nicht in seiner Heimat, sondern auf dem Friedhof von Fort Sill beerdigt. Angeblich wurde das Grab später geschändet, sein Skalp entführt, Knochen lagern Berichten nach in der Yale-University und weitere Legenden schmücken diese Geschichte aus. Sein letztes Grab – das der Autor mit den Kindern aufsuchte – 

ist ein mehr als einen Meter hoher, vage mesoamerikanischer Grabhügel, der nicht alt sein kann. […] Auf der Vorderseite der Pyramide ist eine Platte angebracht, auf der nichts anderes steht als: GERONIMO. Ohne seinen Apachennamen, ohne Akzent auf dem ersten O, ohne Daten, ohne den Clan, dem er angehörte. […] Es ist, als hätte man seine feindliche Abstammung ausgelöscht, als wäre es besser, ihm einen Platz außerhalb der Geschichte und des Reigens der Sprachen und Nationen zuzuweisen.    

General Miles erzählt seiner Frau in Gedanken von Gerónimo: 

Wusstest Du, dass es eine Legende über ihn gibt? Es heißt, als er jung gewesen sei, habe sein Gott ihm gesagt, er sei so mächtig, dass er im Kampf unsterblich sei. Ich glaube, das ist wahr – nie waren so viele Leute hinter einem Indianer her, um ihn zu töten,  und am Ende erweist es sich, dass Lawton, Gatewood und ich ihn retten, und ich weiß nicht mal warum. 

Das ist ein großartiger Romane, in dem man sich trotz der Fülle an Details nicht verliert, denn immer wieder wechseln die Erzählstränge. So berichtet der Autor z. B. von seinen Problemen, den in Mexiko so begehrten spanischen Pass für sich und seine Kinder zu bekommen – auch wenn er als überzeugter Republikaner dafür den Eid auf den König leisten muss. Die Kinder erleben Abenteuer, darunter durchaus gefährliche – wie einen plötzlich ausbrechenden Gewittersturm mit sintflutartigen Regenfällen, die sie in einer Höhle nur mit Glück überleben, Stunden später werden sie, völlig unterkühlt, von den Parkwächtern umsorgt. Camila lebt sich ein in der Apachenwelt und als Zuloaga sie endlich findet (nach vielen Zwischenfällen, bei denen die meisten aus dem kleinen Trupp sterben, so die Nonne und die Yaquis), sagt sie, sie sei fest entschlossen, nicht zurückzukehren, sie bleibe … und sie erwartet ein Kind.  

Enrigue vermittelt ein tiefes Verständnis und Empathie für die Apachen, der Leser erlebt ihren heldenhaften Kampf und ihre brutale Dezimierung. Damals wie heute werden die indigenen Völker in den USA oder Mexiko, in Kanada oder Brasilien, zwangs-‚zivilisiert‘, die Kinder aus ihren Familien gerissen und in christliche Internate gesteckt, man raubt ihnen weiter das Land und missachtet ihre Kulturen. So ist dieser – exzellent übersetzte – Roman, ein wirklich besonderes Werk. Und er ist ein Weckruf, die Rechte der First Nations, der Amazonasstämme oder der von etwa 30% Indigenen der Gesamtbevölkerung Mexikos endlich zu respektieren, ihre Sprachen und Kulturen zu schützen und ihre Religionen zu achten. 

Titelbild

Álvaro Enrigue: Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles.
Aus dem Spanischen von Carsten Regling.
Blessing Verlag, München 2021.
557 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783896676597

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