Sitcom-Potpourri (nicht nur) mit Stereotypen

Im „Tagebuch einer überaus glücklichen Geschiedenen“ skizziert Marie-Renée Lavoie eine ansatzweise unabhängige Frau

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marie-Renée Lavoie, kanadofranzösische Autorin und Literaturdozentin, hat ihrer Autopsie d’une femme plate, dem Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau, flugs einen zweiten, dritten und vierten Band hinzugefügt. Auf Deutsch gibt es bislang nur den zweiten.

Diane, die – wie wir aus dem ersten Tagebuch wissen – nach fünfundzwanzigjähriger Ehe geschieden ist, bewohnt mit ihrem dreibeinigen Kater Steve den ersten Stock einer Doppelhaushälfte. Im Erdgeschoss lebt ihre Freundin Claudine mit ihrer jüngsten Tochter.

Nach den Trennungsturbulenzen kommt die Fast-Fünfzigerin allmählich wieder auf die Beine. An einer Grundschule übernimmt sie einen Vollzeitjob als Erzieherin. Dort trifft sie Guy, einen ihr bereits bekannten Tischler, der an Renovierungsarbeiten beteiligt ist. Ihm gilt ihr Verlangen, mit ihm möchte sie ihre neue „erotische Identität“ ausprobieren. Zuvor jedoch helfen sie und Guy der 93-jährigen Madeleine, deren Wohnung nicht nur von einem durchweichten Teppich befreit werden muss. Außerdem verpatzt ausgerechnet Dianes Ex-Mann das erste Date, weil sie zu ihm ins Krankenhaus eilt, nachdem sie über seinen Fahrradunfall informiert worden ist. 

Guy sei wohl attraktiv, in ihn verliebt sei sie indessen nicht und eigentlich habe sie nur den „Erstbesten“ genommen – das gesteht Diane ihrer Freundin Claudine. Mit ihr fährt sie über Weihnachten zu einer einsam gelegenen Hütte in den Bergen. Dabei fühlen sich beide „euphorisch wie Thelma und Louise nach dem Freispruch“.

Es ist ein Rätsel, warum sich in der deutschen Übersetzung, die im Übrigen den französischen Originalton brillant wiedergibt, ausgerechnet der Begriff „Tagebuch“ auf das Cover beider Bände geschmuggelt hat. Im französischen Titel verlangt Diane ein „recomptage“, wörtlich übersetzt ein „Nachzählen“. Sie sinnt auf Entschädigung, nachgerade Rache. Zwar begibt sie sich enthusiastisch in ihr eigenes Leben, braucht aber Zeit, um autonom zu werden und sich nicht mehr vom Ex vereinnahmen zu lassen. 

Zumindest was die damit verknüpfte analytische Tiefe und den Detailreichtum betrifft – solche Charakteristika eines „Journal intime“ fehlen –, scheint die „Autopsie“ der drögen Ehefrau abgeschlossen. Diane tituliert sich paradoxerweise selbst nicht mehr als „platt“, was sie im ersten Band durch die ausgeprägtere Elaboration gerade nicht war, bleibt aber weitestgehend exakt dieses. Auch deshalb führt der Begriff „Tagebuch“ in die Irre. 

Sogar die Wutanfälle der Protagonistin haben sich minimiert. Sie werden auf spaßige Weise kanalisiert und nivelliert, denn Diane demoliert nicht mehr Mobiliar oder Kühlerhauben, sondern verpasst lediglich zweimal einer Autotür einen Fußtritt. Eigens zum Abreagieren hat sie sich billigen Tand vom Flohmarkt gekauft, den sie auf Schneidbrettern platziert, um ihnen unverfänglich mit einem Vorschlaghammer zu Leibe zu rücken. 

Die Einblicke, die in das nacheheliche Leben geboten werden, punkten mit leicht verdaulichem Witz und tragikomischen Sitcom-Elementen, denen es letztendlich doch nicht an Tiefendimension mangelt. Obwohl nicht nur die Hauptfigur kaum plastisch wirkt, sie einer Stereotypisierung unterliegt, der nicht allzu viel Individualität entgegengesetzt wird, obwohl die Szenen, in denen die Romanfiguren agieren, vor allseits Bekanntem nur so bersten, eröffnet sich ein Deutungsraum im Abseits der Klischees, in den sich Leser*innen hineinbegeben, sich anrühren und erheitern sowie zur Kritik am Status quo anregen lassen können. So schon die erste Szene, in der sich Diane wegen blutender Fersen von einem Arzt behandeln lässt, der ihr Leiden lapidar und demütigend als „Hausfrauenkrankheit“ abtut. Zu erwähnen sind darüber hinaus die Kinder in der Vorschulgruppe, für die Diane zuständig ist. Sie leiden unter ihren exzentrischen Vornamen, z. B. Célyane, und unter Eltern, die nicht erkennen, dass das „Aufmerksamkeitsbedürfnis“ ihrer Kinder als Bauchschmerzen somatisiert daherkommen kann. Dennoch müssen die Erziehungsberechtigten als Expert*innen ihrer Nachkommenschaft und vor allem Kund*innen betrachtet werden, denen Pädagog*innen mit einem Höchstmaß an freundlicher Verbindlichkeit begegnen müssen. 

Bezeichnend ist auch die Fortbildung, an der Diane teilnehmen muss, damit ihr Gehalt nicht gekürzt wird: sie empfindet unerträgliche Langeweile am Vormittag, während sich ihr in einer Nachmittagsveranstaltung die brennende Frage aufdrängt, ob sie ihren drei inzwischen erwachsenen Kindern eine gute Mutter gewesen sei. Bis zu ihrer „Nichtgeburtstagsparty“, einer vorgezogenen Überraschung zu ihrem 50. Geburtstag, begleitet Diane ihr schlechtes Gewissen, das schließlich ein emotionaler Fest-Vortrag ihrer beiden Söhne und ihrer Tochter Charlotte mildern kann.

Mit der einsamen alten Dame Madeleine kommt das Thema Animal Hoarding ins Spiel: Eines Tages irrt sie in der Schule umher, um sich Hilfe zu holen. In ihrer vermüllten Wohnung hat sie den Überblick über die stetig angewachsene Katzenschar verloren. Charlotte, die Tiermedizin studiert, kümmert sich mit ihrem Freund um die Tiere. 

Ihr „recomptage“ holt sich Diane, als ihr wohlhabender Ex-Mann sie in ein teures Restaurant einlädt. Champagner lässt sie sich noch einschenken, bevor sie in einem aufsehenerregenden Akt der Befreiung das Lokal mit dem gefüllten Glas verlässt, es austrinkt und mit voller Wucht in den Fluss schleudert. 

Stereotypisiertes ist also mit authentischen Akzenten angereichert, dem „Bouilli“ nicht unähnlich, den Diane gerne einmal mit Claudine und deren Mutter kocht. Überhaupt ist die Freundschaft zwischen den Frauen, die einen guten Wein oder Cocktail nicht verschmähen und ziemlich karnivor unterwegs sind, ein weiteres prominentes Thema des Romans.

Der leicht dahinplätschernde Plauderton, garniert mit Lebensweisheiten, die möglicherweise direkt aus MadeMyDay.com oder ähnlichen Websites übernommen worden sind, katapultiert die Leser*innen in die Atmosphäre der meist komischen pseudofeministischen Emanzipationsromane (à la Hera Lindt oder Ildikó von Kürty) der 1980er und 1990er Jahre. Schätzungsweise hat diese unterhaltungsliterarische Subgattung in frankophonen Ländern nie die Popularität erreicht, die ihr im deutschsprachigen Raum vergönnt war. Vielleicht soll da einiges nachgeholt werden.

Auf dem Buchumschlag prangen dieses Mal, je nach Interpretation, Lady Di (der Spitzname Dianes) oder Audrey Hepburn mit geschlossenem Mund und Schmetterlingsbrille – zweifelsohne das Bild einer Frau, die sich Resilienz angeeignet hat und den Widernissen des Alltags trotzt. Das grundlegende Design des ersten Bandes, inklusive der „Phalanx spitzer Stäbchen“, wie Jörn Münkner sie nennt, hat sich nicht verändert. Entscheidend ist aber, dass der lasziv geöffnete Schlund dem Kopf einer Frau gewichen ist, aus dem entschlossenes Vorwärtsgehen und gleichzeitig etwas sphinxhaft Opakes sprechen.

Marie-Renée Lavoie hat ihren Roman mit einem offenen Ende versehen. Die Meinungen darüber, ob man bzw. frau weiter an Dianes Lebensweg partizipieren möchte, dürften geteilt sein. 

Titelbild

Marie-Renée Lavoie: Tagebuch einer überaus glücklichen Geschiedenen. Roman.
Aus dem Französischen von Anja Mehrmann.
Eichborn Verlag, Köln 2021.
304 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783847900801

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