Rollende Rhythmen in mäandernden Märchen

In „Drei drollige Dramen“ arrangiert Margaret Atwood allerlei Alliterationen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Respsunk sagt ein Schokoriegel“ zu Tony, eine der Protagonistinnen in Margaret Atwoods Die Räuberbraut (dt. 1993). Beim Rückwärtssprechen eröffnet sich ein phonetischer Raum jenseits jeder Bedeutung oder vielleicht wird neue konstruiert. Rückwärts reagieren die Figuren in den Drei drolligen Dramen zwar nicht, bewegen sich aber nicht minder in Regionen der Rhythmen und Klänge.

Die anglokanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, berühmt geworden mit der Dystopie Der Report der Magd (dt. 1985), von Volker Schlöndorff verfilmt und inzwischen in die Staffeln einer Fernsehserie hinein erweitert, hat auch Texte für Kinder verfasst, so etwa in den Jahren 2003, 2004 und 2011 die drei Geschichten des vorliegenden Bändchens, die unter dem Titel A Trio of Tolerable Tales 2017 in Kanada erschienen sind.

Als Erster tritt „Rüpel Ramsay“ auf (Rüpel Ramsay und die randalierenden Radieschen), der in einer Ruine residiert und gegen quicklebendige „randalierende Radieschen“ zu kämpfen hat. Nach der erfolgreich überstandenen Auseinandersetzung kehrt er mit seiner „raubeinigen Restfamilie“ durch einen „romanischen Rundbogen“ zurück in die Ruine.

Es folgen Bob und Dorinda in Bedauernswerter Bob und düstere Dorinda. Bob wird von seiner Mutter, „einer bemerkenswert beschränkten Brünetten“, die sich die Haare blondieren lässt und danach vor „blonder Blasiertheit blind“ ist, schlichtweg vor dem Beautysalon vergessen. Nachdem ihn ein Boxer, ein Beagle und ein Barsoi gerettet haben, trifft er Dorinda, die „mit durchschlagendem Dauercharme“ gesegnet ist. Mit ihren bellenden Bekannten besänftigen sie einen Büffel, der aus dem Botanischen Garten ausgebüxt ist.

In der letzten Geschichte, Die wandernde Wanda und Witwe Wischwaschs Wunderwäscherei, geht es um eine „wild wütende Windhose“, die Wandas „wachsame Eltern“ hinwegfegt. Die Witwe Wischwasch entführt sodann die kleine Wanda und sperrt sie mit anderen Waisen in eine winzige Wäschekammer, wo alle zum Waschen verurteilt werden. Eigentlich ist die Witwe Wischwasch ein Wundermagier, der für die Stürme verantwortlich zeichnet. Aus seinen Fängen werden die Kinder von wildernden Wölfen gerettet.

In der hervorragenden Übersetzung von Ebi Naumann geht, kleiner Wermutstropfen, das Leseprogramm verloren, das dem englischen Titel innewohnt: Atwood bezeichnet ihre Geschichten als „tolerable“, als erträglich, passabel sogar, was nicht allein am Stabreim liegt. Und obwohl die Geschichten weit hinter dem sonstigen Anspruch der Autorin hinterherhinken mögen, sind sie nichtsdestoweniger „tales“, genauer gesagt „fairy tales“ bzw. Kunstmärchen. So erinnert der Rüpel Ramsay an den ungehorsamen Peter aus Beatrix Potters Geschichte von Peter Hase, der in McGregors Garten eindringt und dort unter anderem Radieschen frisst. Der bedauernswerte Bob ist am ehesten mit Roald Dahls Matilda zu vergleichen, deren Mutter, platinblond und aufgedonnert, nur an ihrer eigenen Schönheit interessiert ist. Eines unter vielen Modellen für Wanda und die Waisen in ihrem Umkreis stellt möglicherweise Charles Dickens‘ Oliver Twist oder auch Hodgson-Burnetts Der geheime Garten dar.

Nicht zuletzt lassen sich Atwoods Drei drollige Dramen als Parodie auf die rigiden Strukturen, die Schwarz-Weiß-Malerei und die moralinsauren Botschaften von Märchen lesen. Eine Klangkulisse, die jeden Inhalt ins Abseits verbannt, führt diese Gattung ad absurdum.

Trotz der glänzenden Übertragung wäre eine zweisprachige Ausgabe begrüßenswert. Des Weiteren hätte das Buch gewonnen, wenn die an sich sehr passenden und stimmigen Illustrationen des serbischen Künstlers Dušan Petričić, in der englischen und auch französischen Ausgabe schwarz-weiß gehalten und kleinformatig, in der deutschen Ausgabe nicht blau gefärbt und teilweise vergrößert worden wären. 

Atwoods Geschichten-Trio ist zuallererst ein Mega-Spaß, der bei Kindern außerdem das phonologische Bewusstsein fördert. Dabei erscheint es opportun, die Texte laut zu lesen, sie auszuagieren und zu dramatisieren, um sich tatsächlich in Klangwelten hineinzubegeben. 

Den Band sollte man nicht erst Kindern ab sieben Jahren geben, so wie es auf dem Buchrücken heißt, sondern ihn weder Vorschulkindern noch Menschen aller Alter vorenthalten. 

Titelbild

Margaret Atwood: Drei drollige Dramen. Kinderbuch.
Mit Illustrationen von Dušan Petričić.
Aus dem Englischen von Ebi Naumann.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021.
66 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783038201014

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