Moderne Haltung gegenüber der Erde vor 300 Jahren

Der fünfte Band der Werkausgabe des Naturlyrikers Barthold Heinrich Brockes ist erschienen

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Dichter Barthold Heinrich Brockes (1680–1747), der zugleich Jurist, Hamburger Ratsherr und eine Art Außenminister dieser Stadt war, zählt heute leider nicht zum allgemeinen Bildungsgut. Doch der Komponist Händel hat einige seiner Werke vertont, Wieland nahm seine Sprachkunst und seine Gottesvorstellung zum Vorbild, Mörike hat ihm ein Distichon gewidmet, und im 20. Jahrhundert hat Arno Schmidt ihn als großen Realisten gepriesen und damit versucht, die Intellektuellen für ihn zu begeistern. Immerhin war er stets präsent auf dem Buchmarkt mit Auswahleditionen, die allerdings sehr schmal waren. Im Jahr 2012 hat der Mainzer Romanist und Kulturwissenschaftler Jürgen Rathje seine große Gesamtausgabe begonnen, deren fünfter Band nun vorliegt.

Dieser Band enthält Brockes’ Land-Leben in Ritzebüttel, das der 7. Teil seines Hauptwerkes Irdisches Vergnügen in Gott ist, und den 8. Teil dieses Zyklus und damit auch den Prosatext Eine Lehr-reiche Geschichte, eine Hommage auf den Frühaufklärer Johann Gottfried Schnabel, genauer: auf dessen Roman Insel Felsenburg. Von diesem und anderen kleinen Texten abgesehen ist Brockes’ Werk Lyrik, und zwar vor allem Naturlyrik.

Die vierhundert Gedichte dieses Bandes wurden 1743 bzw. 1746 erstmals gedruckt und sind hier in ihrer originalen Rechtschreibung wiedergegeben. Der vorzügliche Anhang des Bandes nennt einige Textvarianten in nachfolgenden Drucken. Vor allem aber gibt er uns Lesehilfen, indem er alte Wortbedeutungen mitteilt („Zufriedenheit“ meinte damals die heitere Gelassenheit, „Gesicht“ das Sehen, das Sehvermögen), historische Fakten nennt (über Ritzebüttel, heute Stadtteil von Cuxhaven, damals eine hamburgische Enklave) und auf Brockes’ Briefe und Lektüreerfahrungen hinweist. Die Reichhaltigkeit dieses Bandes ist zu bewundern, sie stellt Brockes’ Denk- und Schaffensweise ziemlich umfassend vor.  

Genaueres hierzu! Gewiss, das häufigste Wort in Brockes’ Gedichten ist „Gott“, doch das zweithäufigste ist, sehe ich recht, „Lust“. Brockes gemahnt zur Freude an der sichtbaren Welt und zur Lust am Leben. Er zeigt uns die Herrlichkeiten der Natur und veranlasst uns, sie zu genießen. „Der Himmel weinet Freuden-Thränen, / Und tränkt das Land. Die Erde lacht, / Und sucht, zu ihrer Frühlings-Pracht, / Viel tausend Wege sich zu bähnen. / Bemerkt das liebliche Geräusch / Von dem so lang erseufzten Regen!“, usf. So beginnt ein Frühlingsgedicht. Und über die Rosen heißt es: „Es blitzet aus euren bebiesamten Höhlen, / Und spielenden Blättern, ein röthliches Licht; / Es dringet, durch unser betrachtend Gesicht“. Brockes bringt auch die „Lust des Leibes“ zur Sprache und mahnt uns, „die Wunder der Körper, durch Körper, zu kennen“. Gelegentlich wählt er eine umfassendere Sicht, etwa wenn er von den vier Elementen spricht: „Laßt uns erst die Erd’ und Fluth, / Mit vergnügtem Ernst, betrachten, / Und nachher die Luft und Gluth / Ebenfalls mit Lust beachten! / Jedes ist von Wundern trächtig; jedes nährt, ergetzt und nützt; / Und der ganze Bau der Erde wird von ihnen unterstützt.“ Brockes’ Sprache ist schwungvoll.

Erde ist ihm ein wichtiges Stichwort, „auf Erden seyn“ bedeutet bei ihm, nach Wohlgefühl und geistiger Orientierung zu suchen und beides auf die uns gegebene Welt zu gründen. Wir sind nicht „auf Erden“, wenn wir etwa die Tiere missachten (sie „mit Pein und Quälen […] oft zerfleischen und entseelen“) oder unseren „in der Sucht zu wissen versteckten Hochmuht“ pflegen und uns „mit phantastischen Gerichten, mit wirklichen uns nimmer nähren“ – wenn wir, in Worten von heute gesprochen, die Erde kaputtmachen wollen. Kein Zweifel: Brockes ist noch im 21. Jahrhundert aktuell.

In guter aufklärerisch-empiristischer Tradition ist Brockes ein Partisan der Wahrnehmung, des Sehens. Das Systematisieren, das Systemdenken ist nicht sein Ideal. Zu Recht stellt Herausgeber Rathje die Einflüsse Newtons und des jungen Voltaire heraus. Was wäre die Erde ohne Licht, „was wären Erd’ und Licht ohn’ Augen?“, fragt Brockes einmal. Descartes hat bekanntlich gesagt, „ich denke, also bin ich“, Brockes hätte sagen können: Ich sehe, also bin ich. Zugleich betont Brockes immer wieder, dass das präzise Sehen Mühe macht, ja nach und nach gelernt werden muss. So gibt er einmal, im Gedicht Bewährtes Mittel für die Augen, den simplen Rat, die Finger nah vor die Augen zu halten, sie zu bewegen und durch die variierenden Lücken auf das Land zu blicken: Damit „will ich euch, in verschiedner Schönheit, statt einer Landschaft, tausend (!) weisen“.

Wenn ein Dichter wie Brockes sich auf das Sehen konzentriert, läuft er Gefahr einer passiven Haltung. Denken wir zum Vergleich an Mörike, der die Natur geradezu kommandiert hat: Veilchen „wollen balde kommen“, heißt es in seinem berühmtesten Frühlingsgedicht. Solche ‚lockenden’, die Zukunft herbeiredenden Stellen gibt es nicht bei Brockes. Er mochte auch das Elend nicht darstellen. Schlimme Ereignisse seien dazu da, uns aufzurütteln; der Krieg veranlasse uns, dies sei sein Sinn, „den edlen Frieden-Schatz doch recht zu schätzen“. Das klingt zynisch; Arno Schmidt hat ihm eine „phlegmatische Physis“ unterstellt. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit über Brockes. Nach einem Brand 1737 in Ritzebüttel – erfahren wir im Anhang – hat Ratsherr Brockes dort für bessere Löschgeräte und neue Bauvorschriften gesorgt, um den Feuerschutz zu reformieren.    

Zwei Punkte sind noch wichtig. Zum einen ist Brockes bei aller Freude am Beobachten und am Belehren ein Meister der Sprache. Einige bisherige Zitate zeigen das, und zu ergänzen ist, dass Brockes sogar mit der Sprache experimentieren kann. Da gibt es in einem Herbstgedicht die zungenbrecherischen Verse: „Ein sanftes dunkel Gelb, ein sanftes dunkel Braun / Ein sanftes Dunkel Roth, ein sanftes dunkel Grün, / Sieht man licht-gelb-, licht-braun-, licht-roth-, licht-grüne Stellen, / Wohin man sieht, erheben und erhellen“, und in dem langen Gedicht Trost aus Bluhmen bringt Brockes die Namen von achtzig Tulpensorten unter – von Flamboyant und Admiral bis zu La belle Collmar und het gülden Vlies – und ebenso die von fünfzig Ranunkel- und dreißig Anemonensorten.    

Sodann müssen wir auf Brockes’ Religiosität eingehen. Wie schon gesagt, ist „Gott“ das häufigste Wort bei ihm; immer ruft er uns auf, angesichts unserer Lust an der Schöpfung ihrem Urheber zu danken. „Ist denn solch ein Gott nicht werth / Daß man Ihn, bewundernd, ehrt […]?“ Unsere Lebensfreude soll offenbar dadurch abgerundet und sozusagen metaphysisch abgesichert werden, dass wir Gott gedenken. Gott zu danken ist „ein vergnügt Erinnern“, heißt es einmal. Zu berücksichtigen ist jedoch: Brockes ist ein freier Geist, fast nirgends bringt er christliche Symbole oder gar die Begriffe Erbsünde und Erlösung zur Sprache; vielmehr lobt er „die Heyden“ der Antike, die Erntedank gefeiert haben. Gott ist für ihn eine abstrakte Größe, die nirgends den Menschen unter Druck setzt. Wer erpicht ist, Gott zu verstehen, begehe „unerlaubte Grübeley“ (so ein Gedichttitel), ja sei Gotteslästerer (Brockes benutzt das französische Wort „blaspheme“)! Er resümiert: „Gott ist bekannt und unbekannt.“

Brockes verbindet also seinen Aufruf zur Lebenslust und seine erstaunlich moderne Erdverbundenheit mit einer besonderen Erkenntnis, nämlich mit seiner Einsicht in die geistige und psychische Freiheit des Menschen. In dem Brockes’schen Werktitel Irdisches Vergnügen in Gott ist das „Irdische“, nicht „Gott“ der zentrale Begriff.

Titelbild

Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Siebenter und Achter Teil.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
968 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783835330733

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