Wie der Froschkönig seinen treuesten Diener bekam

Corona Schmiele spürt in „Autor im Suchbild“ die Fährten der Märchenautoren Wilhelm und Jacob Grimm in ihren berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ auf

Von Christina LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Achja. Wer kennt sie nicht, die Königstöchter, gefangen im 100-jährigen Schlaf hinter hohen Dornenhecken oder verbannt ins Exil hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen? Die ungeliebten, aber fleißigen Stieftöchter, die ihr Glück machen, allen noch so abwegigen Hindernissen zum Trotz. Oder die Wölfe, die junge Mädchen vom rechten Weg abbringen oder sich verstellen, um Einlass in das traute Heim der sieben Geißlein zu finden. Sie alle (und noch viele mehr) sind vielfach vertraute Gestalten, geliebt und gefürchtet, aus den berühmten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Mehr als 200 Jahre sind vergangen seit die beiden gelehrten Herren ihre erste Märchensammlung unter besagtem Titel herausgaben. Schon damals wollten sie sich ganz bewusst als „Sammler“ von deutschen Volksmärchen verstanden wissen, keineswegs als Märchenautoren. Besonders Jacob Grimm galt als großer Verfechter der „unberührten alten Poesie“ (vgl. z. B. Schmiele, 182).

Allerdings glaubt daran, dass die beiden Grimms wirklich nur aufzeichneten und wörtlich wiedergaben, was ihnen „Volksvertreterinnen“ berichteten, in der Literaturwissenschaft wohl keiner mehr. Selbst Zeitgenossen der beiden Grimm-Brüder wie deren Dichterfreund Achim von Arnim hatten diesbezüglich bereits Bedenken. Die Zweifel an Jacobs Beharren auf einer reinen Sammeltätigkeit sind demnach nicht als neu zu bezeichnen. Die Germanistin Corona Schmiele hat nun ein Buch vorgelegt, dass sich bewusst auf die Spur der beiden Märchenautoren begibt und eindrucksvoll nachweist, wie maßgeblich (und keineswegs nur oberflächlich) besonders Wilhelm Grimm einzelne Beiträge der berühmten Sammlung umgestaltete und damit zu vollkommen neuen Texten machte. Es sind eben jene künstlerischen Eingriffe, so befindet die Autorin, die den Märchentexten eine  Doppelbödigkeit verleiht, die manchem Lesenden auf dem ersten Blick entgehen mag (vgl. Schmiele, 362). Das ist wenig verwunderlich, denn diese Ambiguität wurde geschickt unter der scheinbar eindeutigen Oberfläche des pädagogischen „Kindermärchens“ verborgen und versieht die Texte mit einer große Modernität. Eben jene Eigenschaften benennt Schmiele als ausschlaggebend für den bis heute anhaltenden Erfolg der Kinder- und Hausmärchen.

Unter den von Corona Schmiele untersuchten Märchen befinden sich viele jener Geschichten, die oftmals für andere Medien adaptiert und damit immer wieder bearbeitet wurden, wie etwa Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich (KHM 1), Rumpelstilzchen (KHM 55), Aschenputtel  (KHM 21), Hänsel und Gretel (KHM 11), Frau Holle (KHM 24) und Rotkäppchen (KHM 26). Manche von ihnen, so schreibt die Autorin selbst, sind so bekannt durch z.B. eine Leinwandversion, dass das Wissen um den ursprünglichen Quelltext völlig überlagert wird. Umso aufschlussreicher mag es dem Lesenden des Buches erscheinen, wenn er diese scheinbar so wohlbekannten Geschichten nun in ihren ursprünglichen Fassungen zu Gesicht bekommt. Tatsächlich muss man Fassungen schreiben, denn oftmals wurden von der ersten Veröffentlichung im Jahr 1812 bis zu der letzten im Jahr 1857 immer wieder kleine Eingriffe in die Märchen vorgenommen, die aber, wenn man den Schlussfolgerungen der Autorin Glauben schenkt, den Text in seiner Gesamtheit völlig veränderten und eben dadurch Spuren einer Autorensignatur der scheinbar so bescheiden im Schatten ihrer Sammeltätigkeit stehenden Grimms enthalten. So erklärt Corona Schmiele z.B. schlüssig anhand zahlreicher Indizien die Rolle des oftmals als überflüssigen Anhängsel empfundenen „eisernen Heinrichs“ im KHM 1 und kommt zu dem Schluss, dass Wilhelm Grimm diesen nicht nur zur zweiten Titelfigur des Märchens erhob, sondern ihn subtil von einem fremd bestimmten Statisten zu einer aus freiem Willen handelnden Märchenfigur machte, die überdies in der letzten veröffentlichten Märchensammlung die Aufgabe hatte, das hohe Brautpaar auf seiner Kutsche nach Hause zu lenken (vgl. Schmiele, 35 ff.) In diesem Wagenlenker, der im Märchen weitestgehend im Hintergrund bleibt, meint die Autorin des Buches Wilhelm Grimms Alter Ego, den Märchenautoren, zu erkennen.

Die Rolle des Protagonisten (oder eben einer Nebenfigur wie beim eisernen Heinrich) als  Künstler steht immer wieder im Mittelpunkt bei den Textuntersuchungen in Autor im Suchbild. Sie findet sich in verschiedensten Spielarten wieder. Corona Schmiele bemerkt ihn in den „Vier kunstreichen Brüdern“ (KHM 129) ebenso wie in dem „Meisterdieb“ (KHM 192), in „Rumpelstilzchen“ (KHM 55) und in „Daumesdick“ (KHM 37). Manchmal profitiert seine Kunst von den Fähigkeiten anderer, die sich der künstlerisch schaffende Mensch auch mal ohne um Erlaubnis zu fragen aneignet (wie in Der Zaunkönig, KHM 171) und manchmal führt die Selbstermächtigung, derer der schaffende Mensch bedarf, um sich zu entfalten, zu Isolation (Die kluge Else, KHM 34) oder traumatischen Erlebnissen (Rotkäppchen, KHM 26), aber nie werden der Gehorsam und die Angepasstheit der individuellen Freiheit vorgezogen. Diese Erkenntnis legt die Märchenanalyse in Autor im Suchbild frei und darin erkennt Corona Schmiele das Loblied der Märchenautoren (bzw. hauptsächlich des Märchenschreibers Wilhelm Grimm) auf seine Kunst. „Dieser selbstreflexive Charakter trägt zur Authentizität des Werks bei“ (Schmiele 2021, 259), schreibt die Autorin in der Schlussbetrachtung ihrer gelungenen Spurensuche. Dass gerade die Passagen, die Wilhelm Grimm in die angeblich so wortgetreu wiedergegebenen „Volksmärchen“ seines Bruders eingefügt hat, der Märchensammlung Authentizität verleiht, erscheint ironisch und – wenn man Der Autor im Suchbild gelesen hat – plausibel zugleich.

Schließlich kommt das Buch zu einem weiteren, für manchen Lesenden fraglos ebenfalls unerwarteten Schluss. Denn im Gegensatz zu dem moralischen Zeigefinger, den manche Rezipienten von jeher deutlich in der Märchensammlung zu erkennen meinen, weisen viele der Märchen in ihrer Doppelbödigkeit eine andere mögliche Lesart auf, die in Autor im Suchbild aufgezeigt wird. Das belegt Corona Schmiele an Texten wie Der goldene Vogel (KHM 57), Die sieben Raben (KHM 93) oder Hänsel und Gretel (KHM 11). In ihnen finden sich sowohl Beispiele für den glücklichen Ausgang der Geschichte durch eigenständiges, unangepasstes Verhalten der Heranwachsenden und für eine Bestrafung nicht der „unartigen“ Kinder, sondern der grausam oder lieblos agierenden Erwachsenen (Schmiele, 368). Es geht nicht darum, Kinder zu verängstigen und zu dressieren oder für ihren möglichen Ungehorsam zu bestrafen, sondern vielmehr ihren Weg zur eigenen Entfaltung  zu unterstützen und nicht auszubremsen, wie es etwa der Vater des Protagonisten in Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen (KHM 4) tut.

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, so beweist es der vorliegende Band eindrucksvoll, haben ihre Spuren in der Märchensammlung hinterlassen, weit über eine bloße Zusammenstellung hinaus und nicht nur das: dabei haben sie einen Appell an die Lesenden niedergeschrieben, der dazu ermuntert, durch eigene Schöpferkraft der Welt seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Die Geschichte der beiden Gelehrten, die ihre Lebensaufgabe darin sahen, mündliche Märchenüberlieferungen als Volksgut vor dem Vergessen zu bewahren, gehört damit selber in die Welt der Märchen und Legenden.

Titelbild

Corona Schmiele: Autor im Suchbild. Geheime Verfassersignaturen in Grimms Kinder- und Hausmärchen.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
390 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783825346805

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