Zwar allein auf der Welt, aber getröstet von den Bäumen am See…

Jonathan Böhm schreibt in seinem Debütroman „Wir sind allein unter den Bäumen“ über unerfüllt gebliebene Träume von Millennials in einer ostdeutschen Kleinstadt

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor und Übersetzer Jonathan Böhm legt mit Wir sind allein unter den Bäumen sein Romandebüt vor. Was in Hinblick auf das Werk gleich ins Auge fällt, ist der knappe Umfang von nur gut 120 Seiten. Das Prosastück liefert aber einmal mehr einen Beweis, dass epische Kürze einem Roman nicht unbedingt zum Nachteil gereichen muss, denn der Text hat es inhaltlich wie formalästhetisch in sich.

Das Werk spielt zu Beginn des Millenniums und dreht sich um einen Kreis früherer Schulfreunde aus Schwerin, die sich bei Beerdigung ihres gemeinsamen Freundes Richard wiedertreffen. Richard war der Anführer einer Clique um Damaris, Dora, Kristina, Christoph und Jakob, der „den See durchschwamm“, an dessen Ufer „unter den Bäumen“ sich die Gruppe oftmals traf. Den anderen gelang dies nur unter Zaudern und Zögern oder mit Richards Hilfe. So stellt es sich in der starken „Ouvertüre“ des Oeuvres dar. 

Zum einen wird auf diese Weise der einem Gewaltverbrechen an einer Tankstelle zum Opfer gefallene Leader, zum anderen das Ambiente – der See, die Bäume, die Gegend um Schwerin – charakterisiert. Nach dem Tod ihres Anführers treffen sich die Cliquenmitglieder erstmals alle wieder, stehen aber jetzt plötzlich jeder für sich „allein unter den Bäumen“. Die zentrale Motivik umkreist immer wieder den See als eine Art verlorener, nur in der Erinnerung fixierter Sehnsuchtsort. Dort spielten sich sowohl die schönen Erlebnisse der Gruppe als auch jene des Schreckens ab. Besonders verdeutlicht sich am Motiv eines „sterbenden Schwans“, eine Analogie zum Schicksal Richards, der nach dessen Tod im Winter auf der Eisfläche festfriert, trotz diverser Bemühungen von niemandem befreit werden kann und auf diese Weise elendig verendet. Durch das Motiv des Alleinstehens bzw. des Alleingelassenseins im Angesicht des Todes wird die existentielle Ebene deutlich. Die verschiedenen Ich-ErzählerInnen, deren Positionen wechseln und von denen man nicht immer weiß, um wen es sich handelt, kommen später immer wieder hierhin zurück und finden wie angedeutet Trost und Schutz unter den Bäumen am See. 

Überhaupt bildet die Gegend ein zentrales Motiv in diesem Werk, zum einen als eine Art Gegenwelt als Natur, zum anderen als Bild der DDR-Sozialisation und der Veränderung nach der Wende. Besondere Berücksichtigung finden insbesondere der Friedhof, das von einem westlichen Investor übernommene Plaste-Werk, die ehemalige Schule, frühere Wohnungen der Eltern und immer wieder der See, der Treffpunkt der Freunde auch in den Arbeitspausen. Viele von ihnen arbeiteten nach der Wende in ihrer Freizeit als WerkstudentInnen in dem Plaste-Werk. Der See bleibt aber auch in diesem Kontext metaphorisch der eigentliche Fixpunkt des Werks. Auf der seiner anderen Seite tauchen immer wieder die Lichter Schwerins und die Ahnung einer dahinterliegenden Sehnsuchtswelt in Richtung Dänemark auf. Das Plaste-Werk steht symbolisch wie konkret für den Untergang einer vergangenen Welt, der nach und nach schwindenden DDR-Vergangenheit. Es ist nach der Wende in die Hand undurchsichtiger, neoliberaler Geschäftsleute gefallen.

Darüber hinaus wird im Verlaufe des Werks der Widerspruch von Natur und künstlich geschaffener Umwelt evident. Es erscheint durchaus nicht als Zufall, dass Böhm implizit wie konkret auf andere Texte anspielt, etwa auf Günter Eichs berühmtes Gedicht Ende des Sommers „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume“, aber auch auf Brechts Gedicht An die Nachgeborenen „Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen ist“. Auf diese Weise findet eine Art kryptischer Gesellschaftskritik Eingang in den Roman, etwa in der Beschreibung der Zeit der ehemaligen DDR an diesem Ort, aber auch der Zeit der Wende bzw. Nachwende.

Von hier aus entrollt sich die ganze Fabel; es werden die Lebenserzählungen von jenen Freunden „ausgestreut“, die den Toten begraben und inzwischen fast ausnahmslos die Gegend verlassen haben. Fast alle sind weggezogen, haben sich in den Westen „gemacht“, arbeiten in unterschiedlichen Berufen und in den verschiedensten Regionen des Landes und durchleben aus Anlass des Todes des Freundes in ihrer Erinnerung noch einmal die früheren gemeinsamen Jahre. Dabei handelt es sich aber keineswegs nur um ein wehmütiges Zurückblicken etwa in Form einer Art von „Klassentreffen“, sondern um eine Reminiszenz an eine Welt, die nicht mehr existiert und aus der man doch hervorgegangen ist. Zurückgelassen haben sie alle eine Welt der Perspektivlosigkeit und der zerstörten, nicht gelungenen und nicht anerkannten Biografien wie es nach soziologischen Studien für die Vertreter der Y-Generation bzw. des Millenniums nicht allein für den Osten Deutschlands vielfach festgestellt worden ist. Auf diese Weise wird eine Welt beschrieben, in der es fast nur Verlierer gibt. Auch die Lebensträume der verbliebenen Clique um Richard haben sich nicht verwirklicht: Als beinah dystopisch erweist es sich, dass man selbst mit den Werten und Maximen einer Welt groß geworden ist, die nun nach und nach zerfällt oder schon zerfallen ist, und sich nun in einer komplett anderen Welt zurechtfinden muss. Und schließlich haben sie alle nicht das erreicht, was sie sich einmal erträumt haben: Der angehende Schauspieler wurde Lehrer, die selbstständige Designerin machte eine Umschulung zur Krankenschwester. Der Tod Richards ist dabei nur ein Vorwand oder ein „Irrtum“, wie es im Text heißt.

Formalästhetisch führt der Autor eine Art von Schreib-Experiment aus unterschiedlichen Perspektiven durch, wobei nicht immer deutlich wird, wer gerade spricht. Dennoch wird der Handlungsfaden wieder und wieder geschickt verflochten und kann auf diese Weise von Leserin und Leser neu aufgenommen werden. Figuren des Werks tauchen in anderen Zusammenhängen auf. So wird ein Wachmann eingeführt, der in Anlehnung an eine Plastikpuppe im Plastewerk Fee genannt wird, der den MitarbeiterInnen in der Mittagspause die Möglichkeit gibt, im See zu schwimmen und der schließlich im Krankenhaus, wo eines der Mädchen aus der Clique nach einer Umschulung eine Arbeit als Krankenpflegerin findet, an Krebs stirbt. Das alles wird beinahe en passant geschildert und erschließt sich nur bei sehr genauer Lektüre.

In Hinsicht auf die Form fällt auf, dass Wiederholungen als bewusstes Stilmittel eingesetzt werden. So wird etwa ein Abschnitt mit der Beschreibung des Treffens aller am See komplett wiederholt. Es handelt sich dabei keinesfalls um einen erzähltechnischen Irrtum oder gar schlechtes Lektorieren, sondern es ist im Zusammenhang des Werks durchaus so beabsichtigt. Abschließend sei hervorgehoben, dass die Erzählerfiguren über eine sehr schöne, elaborierte Sprache verfügt, wodurch eine sehr dichte Atmosphäre erzeugt wird.

Auch wenn man vielleicht etwas kritisch einzuwenden vermag, dass einzelne Passagen etwas zu lang und von den Kapiteln mit den Titeln Anfang und Ende, Damaris, Fee, Werktage, Achtzehn, Fin de Partie, Fahrt vom Umfang her etwas zu uneinheitlich ausgefallen sein mögen, so ist dem Autor Jonathan Böhm mit diesem kleinen großen Roman doch ein sehr starkes Debüt gelungen. Es ist all denjenigen zur Lektüre zu empfehlen, die an dem Konnex von existentiellen, politischen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten und deren literarischer Umsetzung interessiert sind. Wenn man so will, legt Böhm den Finger zwar nicht an den Puls der Zeit, aber auf den Herzschlag verschiedener, nie vergangener Zeiten und deren Folgen für die Jetztzeit, was auch formalästhetisch als absolut gelungen bezeichnet werden kann.

Titelbild

Jonathan Böhm: Wir sind allein unter den Bäumen.
Faber und Faber Verlag, Leipzig 2021.
120 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783867301992

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