Wenn Träume mörderische Realität werden

Der südtirolische Autor Christoph Flarer schildert in seinem Roman „Albwachen“ ein wahnhaftes, vertanes Leben

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wort „Albwachen“ steht nicht im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Und es ist im so betitelten Roman des Südtiroler Autors Christoph Flarer mehr als das Fortbestehen eines Albtraums im Wachzustand. Der Ich-Erzähler Thomas wird nach dem Erwachen nicht einfach weiter von bedrückenden Gestalten und Geschehnissen bedrängt, sondern steht unter dem Zwang, seine schrecklichen Träume wahr werden zu lassen.

Begonnen hat die unheilvolle Entwicklung im Dorf Drissegg in einem engen Tal Tirols an den Ausläufern des Alpenmassivs, als Thomas kurz nach seinem vierten Geburtstag träumte, an der Puppe seiner Schwester fehle ein Bein. Beim Erwachen stellte er fest, dass die Puppe unversehrt war. Er fühlte sich unter dem Zwang, das zu ändern, und schlug die Puppe so lange gegen die Wand, bis das Bein abfiel. Diese sinnlose Zerstörung, indirekt auch gegen die Schwester gerichtet, führt letzten Endes zu Gewalttaten gegen Menschen und zu zwei Morden.

Ein schwarzer, schwerer Klumpen in seinem Inneren ist das Bild, das Thomas für seinen Seelenzustand findet. Sein Abstieg zum brutalen Mörder geschieht auf Umwegen mit vergleichsweise harmlosen Erlebnissen. Er leidet unter Höhenangst und träumt davon, fliegen zu können. Also lässt er sich rücklings aus dem Fenster fallen. Er hat Glück im Unglück: Gehirnerschütterung, eine tiefe Platzwunde am Hinterkopf, eine gequetschte Wirbelsäule. Seine Erklärung, er habe fliegen wollen, überzeugt niemanden. Er aber glaubt fest daran, geflogen zu sein.

Schon hier zeigt sich, dass Thomas unentrinnbar in seiner wirren Gedankenwelt gefangen ist. „Was hätte ich dafür gegeben, alle meine Träume mit dem Erwachen vergessen zu haben“ heißt es an einer Stelle, aber außer schwächlichen Ausbruchsversuchen unternimmt Thomas nichts. Er ist überzeugt, dass seine Eltern und auch Ärzte und Psychologen ihn nicht verstehen können. Auf Reaktionen der Mitmenschen reagiert er krankhaft übersteigert. Das spöttische Lachen eines Mädchens trifft ihn mit der Wucht einer Meereswelle und lässt ihn nach Luft ringen.

Von seinem Vater bekommt Thomas ein Schlagzeug geschenkt, dessen Einzelteile er richtig benennen kann. Die Musik spielt eine große Rolle in seinem Leben. Er besucht einen Schlagzeugkurs am Konservatorium und spielt in einer Jazzband. Als er eines Tages am Schlagzeug sitzt, umklammern plötzlich zwei unsichtbare Hände seinen Hals. Sie werden zu einem Leitmotiv seiner Verstörung, die kurz vor Abbruch eines Geschichtsstudiums offen ausbricht.

Außerstande, sich anderen Menschen – außer seinem Freund Björn – anzuvertrauen, will er die Gespenster durch auffälliges Verhalten verjagen. Er wirft Fahrräder gegen Clubtüren, zerrt Fahrradständer auf Straßenkreuzungen und wird in der Polizeiwache bekannt für Vandalismus und andere Delikte. Retten kann ihn das nicht; der Trieb steigert sich bis zur Unerträglichkeit.

Thomas schildert dies alles in seinem Tagebuch, oft mit surrealen Bildern. „Die Zeit dehnte und krümmte sich weiter um den Schreibstock, bis sie zu einem dünnen Faden wurde, der schließlich riss und an der Werkbank herunterhing.“

Die psychische Höllenfahrt wird nicht linear beschrieben, immer wieder gibt es Zeitsprünge zurück zu Ereignissen in Kindheit und Jugend. Thomas zwingt sich zu langsamem Denken und Schreiben und kommt doch dem Idealtypus des „unzuverlässigen Erzählers“ nahe. Oft bezeichnet er die eigenen Einträge als erlogen oder bricht Sätze einfach ab („Wenn ich mich bücke und die Hand“).

Thomas träumt von einer rothaarigen Frau und findet sie in der Realität auf der Terrasse eines Cafés. Barbara wird seine Ehefrau, vor der er sein innerstes Ich verbergen muss. In der gemeinsamen Wohnung in Innsbruck hat er das Gefühl, seine Gestalt zerfalle im Zeitraffer und verwandle sich in eine stinkende Masse.

Zurück in Drissegg kommt es zur Ehekrise, als Thomas im Bündnis mit seinem Schulfreund Björn den Oldtimer-Volvo verkauft, den Barbara von ihrem verstorbenen Vater geerbt hatte. Die Ehe wird gerettet, weil Björn die Schuld auf sich nimmt. Dieser Björn, mit schwedischem Vater, der einzige Mensch, dem Thomas seine Träume anvertraut, hilft ihm bei dem Versuch, sich durch Schlafentzug und anschließenden Tiefschlaf von seinen Albträumen zu befreien. Doch nach knapp 21 Stunden Schlaf ist sein Gleichgewicht immer noch gestört.

Thomas reist nach Schweden und hofft vergeblich, dass der Klumpen in ihm von der Kälte jenseits des Polarkrieses bezwungen wird. Als er nach Hause zurückkehrt, wird er zum Doppelmörder, weil etwas in ihm sagt: „Entweder er oder ich!“ In einer Szene absoluten Horrors schießt er auf Björn und bringt ihn zu Tode, indem er mit einem Schlüsselbart in der Einschusswunde wühlt und sich dann auf den Freund kniet und dessen letzten Lebenshauch erdrückt. Auch ein alter Busfahrer, der zufällig in der Nähe des Tatorts war, wird von Thomas umgebracht.

Seinen Verfolgern im Wald entkommen, fliegt Thomas wieder nach Schweden. In seinem letzten Traum stirbt er – wenn auch dieser Traum zur Realität wird, ist er erlöst.

Der Roman bietet eine sprachlich hochstehende, psychologisch tiefdringende und in der Milieuzeichnung genaue Lektüre. Das Leseerlebnis ist nicht schlechthin intensiv, sondern oft erschütternd und stellenweise brutal. Bei so manchem Leser wird wohl eher klinisches Interesse als menschliche Anteilnahme mit dem Protagonisten geweckt werden.

Titelbild

Christoph Flarer: Albwachen. Roman.
Septime Verlag, Wien 2021.
240 Seiten, 22,90€ EUR.
ISBN-13: 9783991200062

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