Bewahrer und Versteher von Altem und Entdecker von Neuem

Zum Tod von Hermann Bausinger

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Am 1. Oktober war er zusammen mit seiner Frau Brigitte noch Gast des im Sommer 2020 eröffneten Heilbronner Literaturhauses. Aus Anlass der Tagung „Revolutionsliteratur im deutschen Südwesten“ zum 200. Geburtstag des Heilbronner Schriftstellers Ludwig Pfau (1821-1894) las er aus seiner „Schwäbischen Literaturgeschichte“, einer fünf Jahre zuvor erschienenen Ortsbestimmung eines damals gut sieben Jahrzehnte währenden Forscherlebens über Land und Leute im Südwesten und weit darüber hinaus. Die Lesung im Heilbronner Literaturhaus sollte leider sein letzter öffentlicher Auftritt überhaupt sein: Am 24. November 2021 ist Professor Dr. Hermann Bausinger, der große Tübinger Gelehrte und Doyen der Empirischen Kulturwissenschaft, im Alter von 95 Jahren in Reutlingen verstorben.

„Wenn Ludwig Pfau, der Heilbronner Gärtnersohn, der Revolutionär, der Dichter und Ästhetiker, der Journalist und Satiriker, ein ‚schwäbischer Kosmopolit‘ war, wie ihn Theodor Heuss einmal genannt hat, dann ist Hermann Bausinger gewiss ein, wenn nicht der Wissenschaftler, der das Schwäbische als Haltung gleichermaßen mit Ernst und Humor, mit Nachdenklichkeit und Komik, umschreibt“ – so der Heilbronner Oberbürgermeister Harry Mergel damals bei seiner Begrüßung.

Denn Hermann Bausinger, der Vater der Empirischen Kulturwissenschaften, der Meister der Alltagssoziologie, der als Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1992 das Fach von „der NS-kontaminierten Volkskunde herausmendelte zur sozialwissenschaftlich orientierten EKW“, wie sein Schüler und langjähriger Mitarbeiter Wolfgang Alber in einem Nachruf im Tübinger Tagblatt schreibt, war einer, der genau hinsah. „Bausinger“, wie er fast überall ohne Vornamen genannt wurde, war eine Marke weit über „The Länd“ hinaus, der sich bis zuletzt einmischte – unter anderem mit einer Glosse in der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten zur Werbekampagne des Landes Baden-Württemberg.

Hermann Bausinger, am 17. September 1926 im ostwürttembergischen Aalen geboren, studierte, nachdem er 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft heimkehrte, ab Ende der 1940er Jahre in Tübingen Germanistik, Anglistik, Geschichte und Volkskunde. 1952 folgten Staatsexamen und Promotion mit einer Arbeit über Lebendiges Erzählen. Daran anknüpfend schließt sich der Bogen eines langen Forscherlebens. Denn einige Tage vor seinem Tod hatte Hermann Bausinger noch die letzten Korrekturen seines im Februar 2022 erscheinenden neuen Buches Vom Erzählen. Poesie des Alltags abgeschlossen und war bei Aufnahmen des Schauspielers Ulrich Tukur, der das Werk als Hörbuch eingesprochen hat, dabei. 1959 habilitierte er sich mit einer Arbeit zum Themenkomplex Volkskultur in der technischen Welt. Als Professor und Direktor des Ludwig-Uhland-Instituts ab 1960 folgte eine Vielzahl von Publikationen zu den unterschiedlichsten Themen, über Folklorismus oder Sport, Dialekt oder Fasnacht, Tourismus oder Landeskunde, Mode oder Massenmedien und vieles mehr: Bausinger hatte Gespür für Themen, bevor sie en vogue waren.

Legendär waren seine Tübinger Vorlesungen, Standardwerke sind viele seiner Bücher, knitz waren sein Humor und seine Schlagfertigkeit bis zuletzt, beeindruckend seine stupende und gleichwohl unaufdringliche Gelehrsamkeit und – für mich (wie vermutlich für viele) am wichtigsten – ein feiner Mensch mit großer Herzensbildung. Er fehlt schon jetzt. Er war mit seinen wissenschaftlichen Analysen nicht nur einer, der die Welt beschreibt, sondern der verlangt, dass Wissenschaft praktisch eingreift, um Probleme zu lösen. Ob im Gesprächsband mit der baden-württembergischen Landtagspräsidentin Muhterem Aras über Heimat (2019), ob in Deutsch für Deutsche. Dialekte, Sprachbarrieren, Sondersprachen (1972), in Typisch deutsch. Wie sind die Deutschen? (2000), oder in Der herbe Charme des Landes. Gedanken über Baden-Württemberg (2006), ob in Sportkultur (2006), in Erlebnisgesellschaft. Facetten der Alltagskultur (2015) oder in seinen 13 Zappgeschichten, wie der Untertitel von Wie ich Günther Jauch schaffte (2011) lautet, luzide Analysen und brillante Erzählungen in einem kennzeichnen seine Werke. Das triff auch zu auf seine Arbeiten als Herausgeber, etwa in der Justinus Kerner-Leseausgabe oder in seiner Ausgabe von Reden und Gedichten Ludwig Uhlands oder in seinen Essays über Dichtertheologen, immer gilt: Hermann Bausinger hinterfragt scheinbar Bekanntes; sieht genau hin, bleibt neugierig oder, wie er selbst zu seinem 95. Geburtstag zitiert wurde: Er blieb „gierig auf Neues“. Er war einer, von dem auch Politik viel lernen kann, besonders auch in diesen Zeiten. Eine seiner letzten Mails nach der Heilbronner Lesung schloss er mit den Worten: „Mit dem Wunsch, dass Ihre Initiative weiterhin so eindrucksvoll zur Bewahrung von Altem und Entdeckung von Neuem beiträgt, grüße ich herzlich aus Reutlingen, Ihr Hermann Bausinger“.

Dieses Bewahren und Verstehen von Altem und die Entdeckung von Neuem ist gerade ihm wie wenigen bis zum Schluss unnachahmlich gelungen.

Die letzte Lesung mit Prof. Dr. Hermann Bausinger auf Einladung des Literaturhauses Heilbronn ist hier abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=eler6BaixS4