Dante, neu gelesen
Sibylle Lewitscharoffs Antwort auf die Frage: „Warum Dante?“
Von Ulrich Klappstein
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDante ist seit langer Zeit einer meiner Lieblingsschriftsteller, und selbst die Schwierigkeiten, die er darbot, waren mir ein neuer Antrieb, mich ihm mit desto größerem Eifer zu widmen.
Der dies schrieb, war König Johann von Sachsen (1801–1873). Seine Huldigung des Dichters drückte er im Vorwort seiner Übersetzung des ersten Teils der Divina Commedia aus, die 1840 unter seinem Pseudonym Philaletes veröffentlicht wurde. Was könnte ein Buch wie die Commedia, das über die Jahrhunderte hinweg offenbar allen Alterungsschüben widerstanden hat, heutigen Lesern noch zu sagen haben? Eine, besser gesagt gleich mehrere Antworten – mal komisch, mal ironisch bis hintergründig, aber immer von einer profunden Kenntnis ihres Gegenstandes gesättigt – hat nun die Autorin Sibylle Lewitscharoff vorgelegt. Dante Alighieri vollendete sein Hauptwerk vor siebenhundert Jahren, kurz bevor er 1321 im Exil in Ravenna starb. Mit dem Großgedicht schuf der aus seiner Heimatstadt vertriebene Florentiner eine schier unerschöpfliche Bilder- und Gedankenwelt, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller stets neu herausgefordert hat. So auch die vielfach preisgekrönte Autorin Sibylle Lewitscharoff (geb. 1954). Für ihren Roman Das Pfingstwunder (2016) stand Dante gewissermaßen Pate.
Am 19. April 2016 hatte Lewitscharoff innerhalb einer Poetik-Dozentur an der Universität Wien zum Thema Mit Dante über Dante hinaus einen Vortrag über Literatur und Religion gehalten, in dem sie über ihre langjährige Vorbereitung für diesen Roman berichtete. Zusätzlich hatte das Marbacher Literaturarchiv eine Wechselausstellung unter dem Titel fluxus 35: Sibylle Lewitscharoff »Im Labyrinth der Kreise. Aus einer Dante-Roman-Werkstatt« organisiert. Zusammen mit dem renommierten „Dantisten“ Karlheinz Stierle gestaltete die Schriftstellerin im Juli 2016 die Eröffnungsveranstaltung, in der sie deutlich machte, dass sie sich in Dantes Welt nicht nur hineingedacht, sondern auf Basis der ihr erreichbaren deutschen Übersetzungen dessen literarischen Kosmos durchwandert habe. In fünf düsteren Szenenbildern – in Installationen aus Holz, Papier, Kohle, Garn, Federn und anderen Materialien – hat sie außerdem Motive aus der Divina Commedia nachgestaltet, als Einübung in den Roman und um mit Dante einen Blick in die Kreise der Hölle zu werfen. Nachzulesen ist das im marbachermagazin 154, das in schöner Aufmachung von der Deutschen Schillergesellschaft herausgegeben worden ist.
Die Wiener Poetikvorlesung und der in Marbach gewährte Blick in die Dichterinnenwerkstatt sind der Grundstock für die neue Publikation im Berliner Insel-Verlag. Auf wenig mehr als 100 Seiten wirft Lewitscharoff letzte Fragen des Menschen auf, nach Liebe, Tod und Vergänglichkeit und weitet so den Blick auf die Welt und den „Möglichkeitssinn“ der Literatur (Robert Musil). Die wirkliche Welt und die Welt der Kunst überdecken sich für Lewitscharoff, und auch aus ihren Werken erfahren wir etwas über die Welt jenseits der Wirklichkeit. Die Autorin zeigt sich überzeugt, dass unser heutiges Wissen nicht allein aus der Literatur der Moderne gezogen werden könne und dass die Jenseitsreise Dantes immer noch eine besondere Stellung einnehmen müsse. Der Text, der noch den Schwung der mündlichen Vorträge mitnimmt, plädiert dafür, dass die Commedia zwar ein „knallhartes, zwanghaft“ durchkomponiertes Werk sei, dafür jedoch auch die heutigen Leserinnen und Leser mit einem großen poetischen Freiheitsgewinn entschädige. Lewitscharoff spannt zunächst einen großen Bogen über die deutschsprachige Dante-Verehrung, die sich in der Großzahl der Übersetzungen widerspiegele. Dantes Dichtung gehörte gewissermaßen „in jeden deutschen Haushalt“, gleichzeitig aber „zu den am wenigsten gelesenen Werken“; die Schriftstellerin spricht von einer „Bewunderung ohne Kenntnis“.
In dem kleinen, nun in der Insel-Bücherei als Nummer 1503 erschienenen Werk mit dem Titel: Warum Dante? tritt Lewitscharoff in eine Art Dialog mit ihrer Leserschaft und führt ganz nebenbei in einem manchmal burschikosen Ton in die oftmals verstiegene Dante-Philologie ein. Schon der Auftakt verrät das kaum zu zügelnde Temperament dieser wortmächtigen Schriftstellerin:
Kaum erklingt der Name Dante, bin ich geneigt, in haltlose Jubeltöne auszubrechen.
Heilandzack! ist noch das mindeste Wörtlein, das in diesem Zusammenhang in meinem Hirn rappelt […]
Auch gegen den „sehr zu verehrenden Großmeister Johann Wolfgang von Goethe, der die Commedia nicht verputzen konnte“ bringt sie in Anschlag:
Zack die Bohne!, dann schlagen wir doch gleich mal zurück: Da haben Sie sich gewaltig geirrt, Herr Goethe, und haben damit gezeigt, dass Sie in einer kleinwinzigen Abteilung Ihres Herzbeutels ein eifersüchtiger Grantler sind.
Oder gegen Ende Ihres Essays, wenn sie die ›Purgatorio‹-Handlung kurzerhand als „erlösungsbeflügelte[s] Berggekraxel“ beschreibt. Aber das sind Petitessen.
Als vorbildlich gilt ihr immer noch die „zauberhafte Übersetzung“ des Philaletes, die sie gegenüber Gmelins verdienstvoller, immer noch gültiger, aber etwas „fader“ Übersetzung abgrenzt. Rudolf Borchardt hinwieder gilt ihr als „ein Zampano der Dante-Rezeption“, der in einer Art erfundenem Altdeutsch, gemischt mit einem provinzialischen Dialekt, eine gelungene Adaption an Dantes Vokalreigen geschafft habe. „Einzigartig“, „verrückt“, etwas für „Kenner“, aber als Einstiegslektüre nicht geeignet. Auch mit Stefan Georges Teil-Übersetzung kann sie sich nicht vollends anfreunden, in dessen Kunstsprache lägen „Lächerlichkeit“ und „poetisches Vermögen“ zu nah beieinander, während Dante doch von der italienischen Volkssprache ausgegangen sei, auch wenn er sie theologisch „durchleuchtet“ habe.
In ihrem Groß-Essay, denn darum handelt es sich eigentlich, gibt sie noch zahlreiche Beispiele für Übersetzungen, die nicht „überkorrekt“, aber sprachlich umso treffender seien. In Lewitscharoffs Gespür für den punktgenauen Ausdruck klingt ein Abscheu vor modernen Prosaübersetzungen durch, welche die sprachgewaltige Autorin allenfalls noch als moderne „Kommentare“ durchgehen lässt: Sie seien überambitioniert, und von der Terzinendichtung Dantes, die Freiräume für eigene Interpretationen schaffe, bleibe nur wenig übrig. Die kongenialen Wortfindungen eines Rudolf Borchardt würden beispielsweise Dantes Canto XIII am besten gerecht, das von Naturszenen, Harpyien, Höllengesängen und Klagerufe der Selbstmörder handele. Jedoch habe Borchardts Exzentrik bis heute nur wenige Leser gefunden. „Ich finde das ungerecht“, so die Autorin, „denn so abenteuernd dessen Übertragung sprachlich unterwegs sein mag, bisweilen ein bissel sogar am Rande des Irrsins, irgendwie klingt sie klasse und hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.“ Verdeutlichend stellt sie Philaletes Versnachdichtung die Wortakrobatik eines Rudolf Borchardt gegenüber: Geseufz’ und Weinen hier und dumpfes Heulen / Ertönten durch der sternenlosen Luftkreis (Philaletes) versus Ächzen allda, wehklage und helles greinen / ergelleten durch die lüfte sonder stern (Rudolf Borchardt).
In Canto XXI sei gar eine „Volksburleske“ am Werk, aufgeführt von der Teufelsbrut. Lewitscharoff sieht also schon im Original „nichts Fades“, schon bei Dante stünde bei allen Figuren die „Individualität“ im Vordergrund, genauso wie „Stimme, Wortwahl, Gestik, Körperbeschaffenheit, die sie umhüllende Szenerie, in der Dante sie unterbringt, um ihren Haltungen einen zugespitzten Ausdruck zu verleihen“. Eine für Lewitscharoff angemessene Übertragung spiegele sich auch in den über 50 drastischen Teufelsnamen, wie „Drachfratz“, „Rubbelbart“, „Sauborst“, in denen sich auch das Privileg des Deutschen gegenüber den romanischen Sprachen ausdrücke.
Dantes Dichtung folgt der Lehre Thomas von Aquins, d.h. die Schattenleiber der Hölle sind ein theologisches Konstrukt. Eine Nachdichtung müsse für Lewitscharoff deshalb zum Ausdruck bringen, dass die Kondensate der früheren menschlichen Körper über Verstand und Gedächtnis verfügen und als Individuen intakt scheinen, wie Wiederholungstäter, deren Seelen im Purgatorium dann etwas Transparentes verliehen bekommen, bevor die toten Leiber in einer Art Aufflugbewegung zur Erlösung aufsteigen. Die Autorin bleibt also nicht bei der Nacherzählung des relativ statischen Infernos stehen, denn nach dem Purgatorium habe Dante auch „schöne Seelen“ dargestellt, „die sich von den Kalamitäten des Inferno und Purgatorio befreit haben oder ihnen nie ausgesetzt waren, um sich im Luftigen zu einer schönen und befreiten Gemeinschaft zusammenzuscharen“. Wie zuvor auch an anderen Stellen ihres Dante-Buches sucht Lewitscharoff besonders hier Unterstützung in der einschlägigen Sekundärliteratur, insgesamt sparsam, aber stets passend eingebracht: Zu Wort kommen bekannte Dante-Forscher wie Romano Guardini, Erich Auerbach, Karlheinz Stierle oder David Lagercrantz. Die genüssliche Lektüre unterstützen die vielen Illustrationen – berühmte Abbildungen der Werke von Boticelli, Vallazza, Bouguereau, Doré, Blake –, die der Insel-Verlag aus weltbekannten Archiven und eigenen Beständen zu diesem sehr empfehlenswerten Band beigesteuert hat.
2021 war das Jahr des 700. Todestages des italienischen Dichters Dante Alighieri, dessen Jenseitsreise Die göttliche Komödie zu den fundamentalen Werken der europäischen Literatur zählt. Sibylle Lewitscharoffs Hommage gebührt das Verdienst, Dantes Welt für ein heutiges Publikum auf eine neue, wenn auch bisweilen eigenwillige Art lesbar gemacht zu haben.
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