„Lateinamerikanische Literatur wird oft als Landeskunde missverstanden“

Ein Gespräch mit der Übersetzerin Susanne Lange

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Susanne Lange ist eine der renommiertesten Übersetzer*innen in Deutschland. Vor allem im Bereich der spanischen und hispanoamerikanischen Literatur hat sie sich in den letzten Jahrzehnten einen Namen gemacht. Mit ihren Übertragungen zeitgenössischer lateinamerikanischer Autor*innen, zuletzt vom Werk des Chilenen Alejandro Zambra, leistet sie auch immer wieder einen entscheidenden Beitrag zur Vermittlung lateinamerikanischer Literatur in Deutschland. Sascha Seiler sprach für literaturkritik.de über einen unorthodoxen Berufsweg, den Alltag einer Übersetzerin und den leider schwindenden Stellenwert der lateinamerikanischen Literatur hierzulande.

 

literaturkritik.de: Wie würden Sie Ihren Beruf beschreiben? Sehen Sie sich als Übersetzerin oder auch als Mittlerin lateinamerikanischer Literatur?

Susanne Lange: Beides natürlich. Das ist schon immer die Funktion der Übersetzung gewesen – etwas aus anderen Sprachräumen zu vermitteln und das in die eigene Sprache zu bringen, was ihr nicht in die Wiege gelegt war. Und das finde ich sowohl im Hinblick auf die Kulturräume wichtig als auch auf die literarischen Traditionen, vor allem auf die Sprache: Was für Material wäre aus anderen Sprachen interessant, um die eigene Sprache zu bereichern, voranzubringen oder Wege zu öffnen, die bisher vielleicht noch nicht präsent waren.

literaturkritik.de: Wie sind Sie zu dem Beruf gekommen?

Lange: Es war ein etwas unüblicher Einstieg. Ich hatte zwar schon früh angefangen hier und da etwas für mich zu übersetzen, vor allem französische Gedichte, aber nie mit der Vorstellung, dass ich einmal Übersetzerin werden würde. Dann habe ich über einen mexikanischen Autor promoviert, Fernando del Paso, der im deutschen Sprachraum noch völlig unbekannt war. Er hatte einen 800-Seiten-Roman geschrieben, Palinuro de México, den ich ungeheuer spannend fand, eine Art mexikanischer Ulysses; jedes Kapitel ist in einem anderen Stil geschrieben, und es hat mich einfach in den Fingern gejuckt, das ins Deutsche zu übertragen. Ich habe mit einem Kapitel aus der Mitte des Romans angefangen, und dann konnte ich nicht mehr aufhören. Ich habe einfach weitergemacht und irgendwann waren die 800 Seiten übersetzt. Dass dieser Roman dann überhaupt veröffentlicht wurde, war natürlich nicht selbstverständlich. Ein in Lateinamerika zwar bekannter, aber bei uns völlig unbekannter Autor mit einem 800-Seiten-Roman bei einer Erstübersetzung zu veröffentlichen, liegt nicht unbedingt nahe. Aber dann fiel nach dem Mauerfall die Sowjetunion als Buchmesseschwerpunkt weg, weil sie nicht mehr existierte, Mexiko sprang ein, und der Roman wurde veröffentlicht. So begann meine Laufbahn als Übersetzerin. Von da an hat sich eins ans andere gefügt.

literaturkritik.de: Sind Sie mit dem fertigen Manuskript damals zu den Verlagen gegangen oder haben Sie sich vorher schon gemeldet mit der Frage, ob Interesse besteht, weil Sie den Roman gerade übersetzen?

Lange: Ich hatte schon einzelne Teile herumgeschickt, bevor ich ganz fertig war, und habe meist enthusiastische Reaktionen bekommen. Aber keiner wollte sich an dieses Mammutwerk wagen. Ich war ganz naiv vom Gegenteil ausgegangen. Danach haben mir alle gesagt, das sollte ich nie wieder so machen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Verlag dieses bedeutende Werk eines mexikanischen Autors ablehnen würde (lacht). Dann spielte die Zeitgeschichte noch ein bisschen mit, und es klappte tatsächlich.

literaturkritik.de: Und wie sehen Sie den Status von Übersetzer*innen heute?

Lange: Mir scheint, dass sich z.B. die Literaturkritik vor einiger Zeit noch etwas mehr für die Übersetzung interessiert hat. Ich habe das Gefühl, dieses Interesse ist in der letzten Zeit ein bisschen abgeflaut. Es gab die Welle von Neuübersetzungen der Klassiker, die natürlich die Übersetzung in den Mittelpunkt gerückt hat, weil es da konkret um die sprachlichen Unterschiede ging. Aber inzwischen habe ich den Eindruck, dass in der Literatur heute generell das was im Vordergrund steht und nicht das wie. Damit rücken die sprachliche Gestaltung und vor allem die Übersetzung in den Hintergrund. Das sehe ich mit Sorge.

literaturkritik.de: Das ist ein guter Punkt. Es ist natürlich auch ein Problem von der Wahrnehmung von Literatur im Allgemeinen, bzw. auch, was produziert und verkauft werden soll. Da spielt Sprache im Vergleich zum Plot ja eine immer geringere Rolle. Wie ist es denn bei Ihnen: Bekommen Sie in der Regel Aufträge oder gehen Sie mit einem Autor zu den Verlagen, den Sie spannend finden und übersetzen wollen?

Lange: Ich bekomme eigentlich seit meinen Anfängen Angebote, was aber nicht heißt, dass ich nicht selbst auch Texte vorschlage. Wenn ich etwas Spannendes entdecke, sage ich natürlich den Verlagen Bescheid, meist gerade sprachlich interessante Dinge, die ich gern übersetzen würde. Das sind aber, wie Sie sagten, nicht jene handlungsorientierten Romane, die Verlage umgehend in ihre Programme aufnehmen. Ich habe das mal mit mehr Erfolg, mal mit weniger Erfolg gemacht. Aber im Augenblick bin ich aufgrund eines anderen Umstands in dieser Hinsicht nicht so aktiv: Seit zehn Jahren bin ich dabei, mit einem kleinen Herausgeberteam eine vierbändige Anthologie spanischsprachiger Lyrik zusammenzustellen. Die wird nächstes Jahr bei CH Beck erscheinen. Da gab es schon die Vorgängeranthologien mit französischer und englischsprachiger Lyrik, das fing in den 90er Jahren an, und nun stellen wir ihnen die spanischsprachige Lyrik zur Seite, insgesamt vier Bände à 500 Seiten. Das ist ein Mammutprojekt, das mich in den letzten Jahren neben den anderen laufdenen Projekten ziemlich eingenommen hat. Da gibt es natürlich viel zu entdecken. Ungeheuer viel wurde noch nie übersetzt oder kam nur in einzelnen Anthologien vor. Gerade in der lateinamerikanischen Lyrik ab Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es viele Entdeckungen nachzuholen. Mir scheint fast, der viel beschworene Boom hat in Lateinamerika sogar eher in der Lyrik als im Roman stattgefunden. Das ist ein großes Feld, das hier nie eingehend rezipiert wurde. Ich hoffe, dass hier eine Lücke zwar nicht geschlossen, aber zumindest ein bisschen gefüllt werden kann.

literaturkritik.de: Wie beurteilen Sie den Status der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland heute? Es ist ja ganz anders als früher. Es ist fast ein Nischendasein, oder?

Lange: Ja, und mir scheint, dass hier ein Missverständnis vorherrscht, das sich immer mehr verstärkt, denn wird Literatur immer häufiger als Landeskunde missverstanden: Man geht davon aus, Lateinamerika soll über Lateinamerika schreiben, will etwas über Mexiko oder Kolumbien erfahren. Diese eng begrenzte Erwartungshaltung finde ich sehr schade. Auch in Lateinamerika ärgert man sich darüber, denn beim Schreiben will man ja nicht nur sein Land repräsentieren. Dort schreibt man über eine reiche Palette an Themen und will sich nicht darauf reduzieren lassen, landeskundliche Einblicke zu gewähren. Vielleicht hängt das nachlassende Interesse auch damit zusammen, dass Lateinamerika politisch ein wenig an den Rand der Wahrnehmung gerückt ist und wir den Blick jetzt mehr in andere Weltregionen richten. Aber dass wirklich spannende Literatur aus Lateinamerika zu entdecken ist, die sicher ein ebenso großes Publikum interessieren könnte wie die oft übereilt aus den USA übernommenen Titel, wird hier nicht wahrgenommen.

literaturkritik.de: Was hat Ihnen denn besonders zugesagt von den Sachen, die Sie in den letzten Jahren aus Lateinamerika übersetzt haben? Wo würden Sie sagen: Das war ein großes Werk, das wahrscheinlich mal wieder viel zu wenig wahrgenommen wurde?

Lange: Alejandro Zambra ist ein Autor, den ich für sehr interessant halte, weil er immer mit der Form experimentiert und in jedem Werk einen anderen formalen Einstieg wählt. Man erfährt zwar auch viel über Chile und die Zeitgeschichte, aber auf eine sehr subtile Art und Weise. Das finde ich bei Zambra interessant. Außerdem scheint mir, dass es eine ganze Generation gibt, die wir überhaupt nicht wahrgenommen haben. Das sind die Autoren, die in der ersten Hälfte und der Mitte des 20. Jahrhunderts geschrieben haben, zum Beispiel Leopoldo Marechal in Argentinien. Adán Buenosaires ist ein fundamentaler, experimenteller Roman, der hier völlig unbekannt ist. Da gibt es viel nachzuholen, was die Verlage bei bereits gestorbenen Autoren und Autorinnen leider ungern tun, da sie sie nicht mehr aufbauen können. Ich finde, da fehlt uns eine ganze Menge Spannendes, was auch für die heutige Literatur interessant sein könnte. Generell interessieren mich Werke, die sowohl formal und sprachlich als auch vom Rand her einen abseitigen Blick auf Wirklichkeit und Zeitgeschichte werfen. Ein Autor, den ich in dieser Hinsicht sehr schätze, der aber schon länger nichts mehr publiziert hat, ist der Kubaner Jose Manuel Prieto. Er ist an Nabokov, auch ein bisschen an Proust geschult. Sein Werk ist in Teilen bei Suhrkamp erschienen, etwa ein Roman, in der ersten Auflage mit dem Titel Livadia, in der zweiten Entführung aus dem Saray, und ein anderer namens Rex. Bei beiden dachte ich, dass da wirklich ein Autor zu entdecken ist, stilistisch gesehen, aber das ist wohl nicht das, was aus Lateinamerika hier vordergründig interessiert.

literaturkritik.de: Sie haben jetzt Zambra schon erwähnt. Ich hatte mich sehr gewundert, dass der letzte Roman, Fast ein Vater, der wirklich sehr schön war und im Gegensatz zu den früheren experimentelleren Texten auch leicht zugänglich, hier so wenig wahrgenommen wurde, obwohl er ja sogar bei Suhrkamp erschienen ist. Ich kann mir das wirklich nicht erklären.

Lange: Ja, es wundert mich auch. Gerade weil er vom Thema her auch hier interessant wäre und linearer erzählt ist als frühere Werke. Vielleicht hängt das damit zusammen, wie sich – nach zwei Coronajahren – die Präferenzen hier entwickelt haben, aber gewundert hat es mich auch.

literaturkritik.de: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit lateinamerikanischen Autor*innen? Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?

Lange: Gerade mit lateinamerikanischen Autorinnen und Autoren ist die Zusammenarbeit sehr gut. Auch viel persönlicher als zum Beispiel mit spanischen Autoren wie Javier Marías. Der ist zwar sehr korrekt und beantwortet alle meine Fragen, mehr aber auch nicht, während sich beispielsweise mit Alejandro Zambra immer wieder sehr lustige Mailwechsel ergeben. Meinem Eindruck nach – das lässt sich natürlich nicht verallgemeinern – legt man in Lateinamerika mehr Wert darauf, dass gerade die sprachlichen Eigenheiten übertragen werden. Oft werde ich geradezu dazu aufgefordert, frei in der Übersetzung zu sein. Bei Zambras experimentellen Romanen, vor allem Multiple Choice, muss man ja vieles wirklich neu erfinden. Aber man bekommt von Zambra zusätzlich Rückenwind, dabei keine Hemmungen zu haben.

literaturkritik.de: Ich hatte ihn vor eineinhalb Jahren auch für literaturkritik.de per Mail interviewt und er hat mit seinen geistreichen, humorvollen, sprachlich perfekten Antworten quasi eine neue Kurzgeschichte für uns verfasst. Es war absolut faszinierend, wie gewitzt er war und wie viele Sachen er erzählt hat – nach denen ich ihn zum Teil auch gar nicht gefragt hatte. Generell habe ich das Gefühl, dass bei lateinamerikanischen Autor*innen häufig eine Kooperationsbereitschaft da ist, die ich aus Deutschland so nicht unbedingt kenne.

Lange: Ja, sie haben auch wirklich Interesse daran. Man kann die Reaktionen im Prinzip in zwei Lager aufteilen: Manche verstehen die stilistischen Fragen, die man stellt, und andere wollen sie mit dem Wörterbuch beantworten, als hätte man nicht selbst hineingesehen. Aber erstere verstehen gleich, dass es nicht um die Grundbedeutung eines Wortes geht, sondern um Sprachregister, Kontext, Ironie. Es ist wirklich interessant, bei wem man das voraussetzen kann und bei wem erst noch einmal nachgehakt werden muss.

literaturkritik.de: Zum Abschluss wollte ich Sie eigentlich fragen, an was Sie gerade arbeiten. Aber arbeiten Sie momentan überhaupt an einer Übersetzung, wenn Sie dieses Mammutprojekt der Lyrik-Anthologie aktuell am Abschließen sind?

Lange: Im Augenblick bin ich fast ausschließlich mit der Anthologie beschäftigt, da wir in der Abschlussphase sind und den Kommentar zusammenstellen und das Nachwort schreiben müssen. Das ist ungeheuer zeitaufwendig. Aber ich habe gerade auch den neuen Roman von Javier Marías auf dem Tisch, die Fortsetzung von Berta Isla, den ich auch in Angriff nehmen muss. Dann bin ich noch dabei, an den letzten Details einer Übersetzung zu feilen, die voraussichtlich nächstes Jahr erscheinen wird. Es handelt sich um La casa de cartón, den einzigen – winzig kleinen, man kann es kaum so nennen – Roman des peruanischen Lyrikers Martín Adán. Das ist ein ganz kurzes experimentelles Werk, das bei seiner Erscheinung 1928 Furore gemacht hat, mit lyrischen Eindrücken von Barranco, heute ein Vorort von Lima, am Meer, damals noch ein kleiner Badeort, der ein gutes Stück von der Hauptstadt entfernt lag. Es ist, würde ich sagen, eines der wesentlichen Werke der lateinamerikanischen Moderne. Schwer zu übersetzen, aber deshalb umso spannender.

literaturkritik.de: Interessant, dass solche Sachen dann doch manchmal auch noch gemacht werden.

Lange: Das passiert immer seltener, obwohl es immer noch so viele Schätze zu entdecken gibt. Man fragt sich, warum so viel nicht unbedingt Belangloses, aber im Vergleich dazu doch weniger Interessantes veröffentlicht wird. Man lässt sich vieles entgehen.