Ein Blick hinter die Fassade

Der Debütroman „Ameisenmonarchie“ von Romina Pleschko offenbart die dunklen Geheimnisse einer skurrilen Hausgemeinschaft

Von Eileen MehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eileen Mehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein gewöhnliches Mehrfamilienhaus in Wien, über dessen Bewohnerinnen und Bewohner es auf den ersten Blick nichts Nennenswertes zu berichten gibt. Dort wohnt das Ehepaar Magdalena und Herb Mazur. Er ist Gynäkologe vor dem Ruhestand und sieht sich selbst als Koryphäe auf dem Gebiet der ultraschallgestützten Geschlechtsbestimmung ungeborener Kinder. Sie ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und Hausfrau. Ihr Sohn Herb Junior, Junggeselle, soll die Praxis des Vaters demnächst übernehmen. Ebenso ist dort ein Nationalratsabgeordneter heimisch, der mitten im Wahlkampf steckt, sowie ein Mann namens Klaus, der viel Zeit vor seinem Computer verbringt. Vervollständigt wird die Hausgemeinschaft durch die alleinerziehende Kosmetikverkäuferin Karin und deren Tochter Helene.

Romina Pleschko lässt die Lesenden hinter die schützenden Mauern blicken und offenbart die düsteren und zum Teil befremdlichen Eigenarten der Figuren. So mischt der fürsorgliche Arzt seiner Frau zu Hause heimlich gemörserte Beruhigungsmittel in ihre Lieblingssalami. Magdalena kann ihrer Sucht nach der fleischigen Köstlichkeit nicht widerstehen und erträgt so ihr tristes Leben neben ihrem abstoßenden Ehemann wortkarg und im federnden Morgenmantel gleich viel besser. Der Junior ist beruflich sowie privat insgeheim ganz und gar nicht an Vaginen interessiert; dafür jedoch an dem gutaussehenden Nationalratsabgeordneten, dessen Parfümnote im Aufzug auf gegenseitiges Interesse hoffen lässt. Doch an der Seite eines Politikers macht sich eine ansehnliche Frau selbstverständlich deutlich besser. Wie gut trifft es sich da, dass die Liebe suchende Karin heiratswillig scheint. Ihre größte Sorge ist das Altern und so begibt sie sich am liebsten in die virtuelle Welt der Internetforen, in der sie die Frau sein kann, die sie gerne wäre. Doch auch Klaus, der eine Schwäche für unsichere Frauen besitzt, hat ein stalkendes Auge auf Karin geworfen und tummelt sich seither unter diversen Decknamen in besagten Foren.

Gekonnt werden die einzelnen Handlungsstränge der Personen im Laufe des Romans miteinander verwoben. Mal sind es kurze Begegnungen im Treppenhaus, mal intime Treffen hinter verschlossener Tür. Ameisenmonarchie bietet alles, was es für einen guten Unterhaltungsroman braucht: Familiendramen, Liebe und Spannung, welche sich vor allem in den oft unerwarteten Handlungsverläufen zeigt. Gerade am Ende mündet das Schicksal der Personen in mindestens einen Mordversuch, den die Lesenden dem Buch wohl gar nicht zugetraut hätten und der dem Roman eine neue Tiefe verleiht.

Pleschko spielt mit gesellschaftlichen Klischees, die durch skurrile persönliche Details wie eine Salamisucht oder die Abneigung eines Gynäkologen gegenüber einer Vagina individualisiert werden. Ergänzt wird diese anregende Handlungsseite durch eine treffende und häufig ebenso amüsante sprachliche Gestaltung. So bringt Pleschko gewiss alle Lesenden mindestens zum Schmunzeln, wenn sie Magdalenas ungewöhnliche Salamisucht detailreich beschreibt:

Sie wollte den weißen Schimmel der Außenhaut der Salami zärtlich zwischen den Fingern zerreiben, das Messer durch das rote Fleisch gleiten lassen, vielleicht die Schneide vorsichtig ablecken. Sie wollte in die Wurst hineinbeißen und zurücksinken, stattdessen warf sie die abgeschnittene Scheibe in den Mist und fand sich ausreichend konsequent, weil sie nur gierig an ihren fettigen Fingern roch.

Doch nicht nur mit Humor, der sich in trockenen, detailreichen und zugleich ironischen Beschreibungen zeigt, kann die Autorin glänzen, denn sie befähigt die Lesenden ebenfalls dazu, die Emotionen der Charaktere förmlich zu spüren: „Seine laute Stimme schmerzte sie in den Ohren, und sein Gewicht drückte die Sitzfläche so nach unten, dass sie zu ihm zu rutschen drohte.“

Ebenso zeichnet sich das Buch durch abwechslungsreiche Perspektivwechsel aus, denn in jedem Kapitel berichtet der personale Erzähler aus der Sicht einer Person der Hausgemeinschaft. Es handelt sich jedoch keinesfalls um eine Aneinanderreihung einzelner Geschichten, denn im Laufe des Romans kommt es zu einer spannenden Verknüpfung der Handlungsstränge. Länge und Chronologie der einzelnen Kapitel sowie deren Überleitungen sind für die Lesenden erfrischend unvorhersehbar. Ebenso bietet Pleschko Möglichkeiten, die Figuren nicht nur aus deren eigener Sicht zu sehen, sondern gibt auch gegenseitigen Fremdwahrnehmungen Raum. Dies kann in Form eines Kellners geschehen, der in einer kurzen Passage seinen Eindruck von Herb Junior schildert:

Es überschritt eigentlich eine Grenze für ihn, bei einem offenkundig tief verzweifelten Gast, der zwischen dem Gruß der Küche und der Suppe heimlich in Tränen ausgebrochen war und dabei so stark lächelte, dass der Kellner erst einen epileptischen Anfall vermutet hatte, diese klerikal angehauchte Zwischengangsshow zu zelebrieren […].

Ebenso sind schnelle und zugleich geniale Wechsel zwischen zwei Hauptcharakteren vorzufinden. So folgt beispielsweise auf die positive optische Selbstwahrnehmung Karins eine vernichtende Beschreibung durch Herb Junior:

Die Frau sah alt aus, die Haut über den Lippen zog tiefe vertikale Furchen, wie bei einer Raucherin. Das ganze Make-up nutzte nichts, denn das Neonlicht des Liftes separierte die welke Natur gnadenlos von der künstlichen Farbe, die sie großzügig auf Wangen und Augenlider aufgetragen hatte.

Möglicherweise ist es die Tatsache, dass die Autorin neben Literatur auch Schauspiel studierte, die sie zu diesem Schreibstil befähigt und ihr bereits zahlreiche Veröffentlichungen sowie Stipendien bescherte.

Ein wenig enttäuschend ist die ungleiche Verteilung der Rede- und somit Kapitelanteile aller Figuren. So entsteht das Gefühl, Pleschko hätte eine zunächst nicht ganz nachvollziehbare Gewichtung der Handlungsstränge vorgenommen, obwohl doch jede Geschichte interessant ist. Manche Schicksale enden zu offen oder schnell. Vor allem die dominierende Sichtweise Magdalenas wirkt zeitweise überflüssig und anstrengend. Im fortgeschrittenen Teil des Buches, als Herb Senior unverhofft zu einem Pflegefall wird, kann der Lesende aufgrund seines umfangreichen Wissens über die Ehefrau jedoch Spekulationen zu ihrer Mitschuld anstellen, die dem Buch eine völlig neue Perspektive verleihen. Es bleibt allerdings bei Vermutungen, die nicht bestätigt werden. Dafür wird an Herb Junior, der auf seiner Suche nach körperlicher Liebe bei einem Junkie landet, noch ein waschechter Mord verübt.

Ameisenmonarchie kann deutlich mehr, als die Lesenden ihm zunächst zutrauen mögen, denn er behandelt nicht nur banale und ulkige Alltagsprobleme einer Hausgemeinschaft. Mit zunehmender Seitenzahl entwickelt sich eine Spannung, die überraschen und zugleich begeistern wird. Am Ende fügt sich alles zu einem stimmigen Ganzen zusammen, das im Laufe der Geschichte verschiedenste Emotionen herbeiführt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Romina Pleschko: Ameisenmonarchie.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2021.
208 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783218012706

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