Hirnscan und Glückshelm

Edward St Aubyn macht aus seinem Roman „Dilemma“ teilweise eine wissenschaftliche Abhandlung

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuerst lernt man die vier Hauptpersonen des Romans kennen. Francis, der auf dem flachen Land in Großbritannien am Projekt „Wilding“ zur ungesteuerten Renaturierung der Landschaft arbeitet, erwartet Olivia, die er auf einer Konferenz kennengelernt hat. Er fragt sich, ob seine Kochkünste und der teure Wein ankommen werden. Und er weiß, dass kein Krieg nötig ist, um die Biosphäre zu zerstören – man muss nur so weitermachen wie bisher.

Lucy fliegt von New York nach London – zum schwerreichen Finanzier mit dem sprechenden Namen Hunter Sterling. Ihn hat sie bei einer Dinnerparty mit ihren beruflichen Erfahrungen so beeindruckt, dass er ihr die Leitung des Londoner Büros seiner Risikokapitalgesellschaft anbot. Infolge ihrer schwierigen Kindheit mit psychisch kranken Eltern schwankt Lucy zwischen dem Streben nach Unabhängigkeit und dem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit. Der Wechsel des Kontinents bringt auch die endgültige Trennung von Nathan. Mit ihm hat sie vier Jahre in New York zusammengelebt, bei seinem Heiratsantrag aber gespürt, dass die von Gewohnheit und Verlustangst geprägte Beziehung keine Zukunft hatte. Nun freut sie sich auf das Wiedersehen mit ihrer Studienfreundin Olivia, deren Kontakte an der Universität Oxford für Hunter von Nutzen sein werden.

Olivia korrigiert in der Eisenbahn die Druckfahnen ihres Buchs über Epigenetik. In diesem Wissenschaftszweig wird die Erblichkeit von Krankheiten vielfach nur doktrinär behauptet. Den Auslassungen darüber folgen später noch längere und kompliziertere über viele große Themen unserer Zeit wie Artenschutz und Genforschung, Hirnscans und Schizophrenie. Aus dem Roman wird dann eine wissenschaftliche Abhandlung oder Debatte.

Der Autor Edward St Aubyn kommt von ganz oben und ganz unten. Er ist der Spross einer hochadligen englischen Familie, aber auch das Opfer väterlichen Missbrauchs mit mütterlicher Duldung. Beides prägte seine fünf Romane über den versnobten Patrick Melrose, den man dafür bewundert, wie er mit seinen Traumata fertig wird. Spätere Bücher fielen ab. Der Roman des Jahres (2014), eine geistreiche Verspottung des Literaturbetriebs, musste ohne tragende Grundidee auskommen. Danach machte Dunbar und seine Töchter (2017), eine Adaption von William Shakespeares King Lear im Rahmen einer Reihe von Neuinterpretationen zu dessen 400. Todestag, aus der Tragödie am Königshof eine Groteske um einen Medienmogul.

Auch im neuen Roman sucht man nach einem Zentrum. Und noch etwas ist wie bei den Vorgängern: Wo der Autor jemanden satirisch unter die Lupe nimmt, entstehen fesselnde Porträts, die nicht zu Karikaturen verkommen. Brave Leute aber bleiben flache Schemen. Dabei gibt es im Leben von Olivia, Francis und Lucy durchaus Dramatik. Olivia wird schwanger, bei Lucy wird ein Hirntumor diagnostiziert. Doch die Reaktionen sind flach. „Irgendjemand muss Hirntumore kriegen, sonst gäbe es keine.“ Das mag Galgenhumor von Lucy sein, doch wie reagiert Francis auf Olivias Schwangerschaft? Er ist „vorsichtig erfreut“, würde aber einen Abbruch stoisch hinnehmen. Den beiden Frauen (und dem Leser) ist er vielleicht zu perfekt; so könnte auch ein Cyborg reagieren, halb Mensch, halb Maschine. Dieser Vernunftmensch will alles, was ihm durch den Kopf geht, erkennen und definieren – wenn er sich nicht gerade an Drogenpilzen berauscht. Ein schönes Bild findet der sprachmächtige Autor für die Liebe zwischen Francis und Olivia: ein „Magnetfeld, das Eisenspäne zu Blumenformen ordnet“.

Hunter Sterling ist schwerreich: unermüdlich aktiv, unersättlich und überaus erfolgreich. Gut Kirschen essen ist mit ihm nicht, wenn man von Lucy absieht, für die er ehrliche Gefühle entwickelt. Ein von ihm angeraunzter Professor protestiert, so rede man nicht mit ihm, und muss sich anhören: „Man hat gerade so mit Ihnen geredet.“ Einer, der sich einen neuen Verbündeten sucht, wird gnadenlos abserviert, als der sich von Hunter kaufen lässt. Ein anderer wird bei einer Bewerbung nicht unterstützt. Hunter sagt, er könne keine rostige Nagelfeile empfehlen, wo eine Kettensäge gebraucht werde.

Olivias Adoptivvater Martin Carr ist Psychiater. Ein schizophrener Patient erweist sich, vom Leser recht früh geahnt, als Olivias Bruder. Die komplizierte Familiengeschichte kann hier nicht nacherzählt werden. Ihre Tragik verblasst, weil der Psychiater rein und edel daherkommt.

Interessanter ist ein Abt namens Guido, der in Überschreitung seiner Befugnisse einen Hirnscan bei einem Einsiedler erlaubt hat, woraus ein „Daten-Eldorado“ für die geplante katholische Version eines „Glückshelms“ zur Erzeugung positiver Stimmungen entstand. Der gutherzig-naive Guido wird von seinem schroffen Kardinal gezwungen, die Flugangst zu überwinden, um Hunter einen Batzen Geld abzuringen. Auf dessen Party trinkt er zu viel Alkohol, den er für Limonade oder Kaffee hält, doch am Ende der amüsanten Geschichte wird alles gut für ihn. Zwar zahlt Hunter weniger, als der Kardinal verlangt, doch er behauptet, nur dank Guidos Verhandlungsgeschick sei er überhaupt zu einer Zahlung bereit.

Hunter hat zwei Nachbarn eingeladen, um sie für ein Wildnisprojekt zu gewinnen. Der selbstironische Republikaner Jim Burroughs setzt sich mit der liberalen Hope Schwartz nur „dank der grundlegenden Verbundenheit der Reichen“ an einen Tisch. Der zur Beratung hinzugezogene Francis widersteht Hopes sexuellen Provokationen, jedoch nicht auf Dauer.

Auf Hunters Party serviert Sebastian als Kellner leckere Kanapees. Olivia, die keine Ahnung hat, dass es sich um ihren Bruder handelt, ist nett zu ihm. „Das konnte selbst einen großen Jungen zum Weinen bringen.“ Mit diesem Satz endet das Buch. Das letzte Wort hat eine Nebenfigur – nicht das einzige Rätsel in diesem hochgreifenden, mit Bildung gesättigten und sprachlich souveränen Roman, der auf hohem Niveau daran scheitert, die wesentlichen Probleme unserer Zeit in Handlung umzusetzen. Die gerät immer dann ins Stocken, wenn die Protagonisten lange über die Datenlage bei komplexen Problemen nachdenken oder debattieren. Eine lohnende Lektüre bleibt er allemal.

Titelbild

Edward St Aubyn: Dilemma.
Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Piper Verlag, München 2021.
336 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492056786

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