Lectura Dantis in 56 Beleuchtungen

Eine Serie des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung liegt mit „Dantes Verse“, herausgegeben von Birte Förster, nun in Buchform vor

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jubiläum zu Ehren des Dichters Dante Alighieri wurde auch hierzulande in den Feuilletons gefeiert und fünfundfünfzig Autorinnen und Autoren sind seinen Versen in einer Serie von Kommentaren nachgegangen, die nun versammelt vorliegen. Am 30. April 2021 startete die Serie in der Frankfurter Allgemeine Zeitung mit dem Artikel Geh deinen Weg von Birte Förster und dem FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube. Bis zu Dantes Todestag, der sich am 14. September 2021 zum 700. Mal jährte, wurden die Wortbeiträge abgedruckt, den Abschluss bildete Kaubes Artikel Verse schmieden. In der Ausgabe des Göttinger Wallstein-Verlags wurden die Texte der FAZ nur unwesentlich verändert, auch folgen die Kommentare nun der Chronologie in Dantes Commedia. Die Sammlung ist eine Einladung, Dantes Divina Commedia (neu) zu lesen, und sie ergänzt die mittlerweile schier unermesslich scheinende Anzahl von Werkkommentaren auf besondere Weise. Ein Vorgängerband, der im selben Verlag bereits 2001 erschienen und ebenfalls Begegnungen mit Dante gewidmet war, hatte sich im Wesentlichen auf Fachbeiträge von Romanistinnen und Romanisten beschränkt. Die Beiträge der nun vorliegenden Publikation verfolgen einen breiteren Ansatz und können gerade deshalb die Leserschaft auf Lücken der wissenschaftlichen Dante-Rezeption aufmerksam machen. Die Autorinnen und Autoren laden zur Reflexion über ausgewählte Verse Dantes ein und begegnen dem Hauptwerk des florentinischen Dichters auf recht unterschiedliche Art und Weise.

Die Herausgeberin des Bandes, die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Birte Förster, war im Sommer 2019 an Jürgen Kaube mit der Idee herangetreten, das Jahr der 700. Wiederkehr des Todes des Dichters durch eine Serie vielstimmiger Kommentare zu begehen, die auch „Nicht-Experten“ zu Wort kommen lassen sollte, insgesamt also ein Luxusprojekt des Feuilletons, wochen- ja monatelang einem einzelnen Werk der Weltliteratur ein Podium zu bieten. Die in unregelmäßiger Folge erscheinenden Beiträge lieferten der Leserschaft Ansatzpunkte für ausgedehnte Gedankenspiele, beabsichtigten aber keinen linearen Durchgang durch das Werk, vielmehr folgten sie eigenen, individuellen Schwerpunktsetzungen. Auch sollten „etablierte“ Dante-Kommentare nicht reproduziert, sondern eher auf originelle Art und Weise konterkariert werden, um es Leserinnen und Lesern auf der Grundlage einer an Dante orientierten Tageslektüre zu ermöglichen, durch das Medium Zeitung Bezüge zum Alltag oder zu eigenen Leseerfahrungen herzustellen.

Ein Verstehen von Dantes Versen ist heute mehr denn je an die jeweilige verwendete Übersetzung gebunden; seitens der Redaktion der FAZ gab es diesbezüglich aber keine Vorgaben. Die profunde dreibändige neue Prosaübersetzung von Hartmut Köhler (posthum 2012 im Stuttgarter Reclam Verlag erschienen) nahmen siebzehn der Beiträgerinnen und Beiträger zur Grundlage ihrer Kommentierungen. Siebenmal wurde die ebenfalls moderne, jedoch in Reimen abgefasste Übersetzung von Wilhelm Hertz (dtv, München 1997) gewählt, auf Rang drei folgte die nach wie vor gültige und beliebte „klassische“ Übertragung von Philaletes (alias König Johann von Sachsen) aus dem neunzehnten Jahrhundert. 

Vertreten sind auch noch die bekannten Übertragungen von Gmelin, Koch, Streckfuß, Witte und Zoozmann. Der Philosoph Kurt Flasch zog seine eigene Übersetzung heran, ebenso haben der Schriftsteller Durs Grünbein, der Historiker Eckhart Grünewald, der Archäologe Alexander Heinemann, die italienische Romanistin Cecilie Hollberg, die Herausgeberin des Jahrbuchs der Deutschen Dantegesellschaft Christine Ott, die Romanistin Patricia Oster-Stierle, die Redakteure Ulf von Rauchhaupt und Mark Siemons und schließlich auch der Dante-Forscher Karlheinz Stierle ihre Eigenübersetzungen verwendet.

Jeweils separat auf der linken Buchseite steht ein ausgewähltes Zitat aus Dantes Commedia, zunächst im italienischen Original, dann unter Angabe der Fundstelle in der jeweils gewählten Übersetzung, gleichsam als Motto und zur Einstimmung der Leserinnen und Leser. Danach folgen die Beiträge, selten mehr als zwei Buchseiten umfassend.

Diesen Zitaten und ihren Kommentierungen kann man sich in einer Art Werkdurchgang anvertrauen oder einfach aufs Geratewohl im Band blättern, unterstützt dadurch, dass die Beiträge inhaltlich sehr unterschiedlich ausfallen: Die vertretenen Dante-Expertinnen und -experten bleiben in der Minderheit, neun Aufsätze stammen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, siebzehn von bekannten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, fünf von sogenannten „Nicht-Expertinnen und -experten“ aus den Bereichen Kirche, Verlagen, Kulturpolitik, Musik, und auch ein Diplomat ist vertreten; die Mehrzahl der Texte allerdings wird von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus den verschiedensten Ressorts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gestellt, darunter selbstverständlich auch bekannte „Edelfedern“.

Hatte das Feuilletonprojekt der FAZ aufgrund dieser „bunten“ Zusammensetzung ein disperses Lesepublikum gefunden, so spricht der vorliegende Band nun gezielter eine primär an Dantes Dichtung interessierte Leserschaft an. Eingeleitet wird die Publikation durch den von der Herausgeberin Birte Förster und Jürgen Kaube geschriebenen Aufsatz, der die FAZ-Serie eröffnet hatte, es folgt eine informative Einführung in die „deutschen Annäherungen“ an Dante durch Karlheinz Stierle, der außer dieser Synopse der maßgeblichen Dante-Übertragungen auch noch zwei eigene Kommentierungen beisteuert. Den Abschluss des Bandes bildet eine Auswahlbibliographie der Sekundärliteratur, zum Weiterlesen und zur Vertiefung der sechsundfünfzig Kommentare.

Dargeboten wird ein Gang durch die gesamte Göttliche Komödie. Abweichend von der internen Arithmetik ihres Schöpfers, der 33 Verse dem Inferno, weitere 33 dem Purgatorio widmete und abschließend 33 Paradiso-Verseschrieb, wird die ›Lectura Dantis‹ jedoch anders gewichtet, möglicherweise orientiert am vermuteten Leseinteresse des Zeitungspublikums. Der Schwerpunkt liegt auf dem wohl bekannteren, ersten Teil der Dichtung, der Höllenwanderung Dantes und seines Begleiters Vergil, und hier besonders auf den Gesängen III, V und XXXIV. Dem „Läuterungsberg“ sind hingegen nur zwölf, dem himmlischen „Paradies“ die restlichen dreizehn Beiträge gewidmet.

Die jeweiligen Zugriffe auf Dantes Verse und ihre Kommentare sind zu heterogen, als dass sie hier zusammenfassend dargestellt werden könnten. Das Gesamtbild stellt vielmehr eine Art Mosaik dar, um die Vorstellungswelten der frühesten Renaissance und Dantes Synthese – aus literarischen, theologischen und philosophischen Quellen seit der Antike und den politisch-theologischen Kämpfen um das Jahr 1300 – mit der gelebten Gegenwart des Jahres 2021 zu verknüpfen. Dies gelingt den Autorinnen und Autoren zum Beispiel durch Schilderungen ihrer eigenen, oft auf den verschlungensten Pfaden mit Dante verbundenen Lesebiographien, durch Rückgriffe auf die (Kultur-)Geschichte der verschiedensten Herkunftsländer Europas, aus denen sie stammen oder durch die jeweils „beruflich“ bedingten Begegnungen mit Dantes Dichtung. 

Von besonderem Interesse dürften die Perspektiven sein, die von den beteiligten Schriftstellerinnen und Schriftstellern – zum großen Teil selbst Lyrik Schreibende – also gleichsam von späteren Kolleginnen bzw. Kollegen auf Dante geworfen werden. 

Für Angelika Overath beispielsweise erwächst aus dem Werk Dantes, dem „Meister der Winke und Handgriffe“, am Tor des Trostes (Inferno III, 19–21) der Mut, sich dem Unabsehbaren des Alltags zuzuwenden; der Lyriker Jan Wagner sieht die tragische Geschichte von Francesca und Paolo (Inferno, V, 130–131) als Folie, die in den Werken von James Joyce oder Samuel Beckett nachwirkt. Esther Kinsky zeigt sich besonders von einer Szene des Infernos (XXVI, 94–99) stark angetan, die als „doppelte Schöpfung“ niemanden ungerührt lassen könne, der heute mit Sprache umgehe. Für André Georgi gehört die Ugolino-Episode (Inferno XXXIII, 1–3) mit zum Erschreckendsten „der an grausigen Episoden nicht eben armen Commedia“. Georgi weiter: Dem Höllensog könnten auch wir uns nicht entziehen, „so sehr wir es auch wollen, auch siebenhundert Jahre später nicht.“ Für Maria Stepanova erscheint es „undenkbar“, etwa Dantes Gesang im Purgatorium (XXVII, 100–102) zu lesen, ohne ihn „zur Gegenwart hinzulenken“, denn mit Dantes Figur Rahel befänden auch wir uns im „leeren Wartesaal“ der Geschichte. Durs Grünbein schließlich plädiert dafür, mit der Paradisolektüre (XXXIII, 94–96) eine „lange Wanderung“ zu unternehmen: 

Mit Dante vom Sternenhimmel hinabblickend lassen sich sogar die Mond- und Marsmissionen unserer Tage als Bild für das Erschrecken über den Fortschritt deuten. Einmal nicht aufgepasst, und die Welt ist eine andere, von der stets umtriebigen Menschheit verändert – ein neues Zeitalter hat begonnen.

Alles andere, was sich sonst noch an klugen und bewegenden Gedanken und Erkenntnissen in Dantes Versen finden lässt, mag nun jeder selbst erkunden oder sich zunächst den nun veröffentlichten Kommentaren des „großen“ Kommentars Dantes anvertrauen, also dessen Bericht vom Gang eines virtuellen Dante durch den mittelalterlichen Seelen-Raum; denn um einen solchen Kommentar handelt es sich letztlich ja auch in der Göttlichen Komödie.

Titelbild

Birte Förster (Hg.): Dantes Verse.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
300 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835350687

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