Der Roman als Endlossatz

László Krasznahorkai schreibt in „Herscht 07769“ einen 400 Seiten langen Satz

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jedes meiner Bücher soll die literarische Landkarte verschieben“, sagt László Krasznahorkai, dem 2015 der International Man Booker Prize verliehen wurde. Und so hat er seinen neuen Roman Herscht 07769 über 400 Seiten hinweg als einen Satz geschrieben. Der in Berlin lebende Schriftsteller aus Ungarn erzählt in diesem Endlossatz die Geschichte einer kleinen Stadt an der Saale. Mit biblischem Anklang heißt sie Kana und in ihr tummeln sich die üblichen Kleinbürger, eine Horde Nazis und dazwischen der einfältige, aber bärenstarke und stets hilfsbereite Tor Florian. Er, der in einem Heim groß wurde, ist vom „Boss“ unter seine Fittiche genommen worden und arbeitet schwarz in dessen Gebäudereinigungsfirma. Der „Boss“ ist auch der Anführer der Nazis im Ort, die sich in der „Burg“ treffen, viele große Reden schwingen, viel Bier trinken und auf das Vierte Reich anstoßen. Der Boss mit seinem tätowierten Eisernen Kreuz auf der Brust ist aber erstaunlicherweise auch ein großer Bach-Enthusiast und versucht mit den „Kanaer Symphonikern“ dessen Werke einzustudieren. 

Auch Florian verfällt Bach zunehmend; „er wurde zu nichts, wenn er Bach hörte, aus ihm verschwand dann genau das, was er war.“ Ansonsten hält er sich aber von den Nazis fern und lieber an die Bibliothekarin Frau Ringer oder den ehemaligen Lehrer Herrn Köhler. Bei ihm bekam er eine Zeit lang Physikunterricht und seitdem treibt ihn ganz Grundlegendes um: Er befürchtet, dass in einem physikalisch völlig leeren Raum, einem Vakuum, aus Nichts etwas Gewaltiges wird, schreibt besorgte Briefe an Angela Merkel und hofft auf das Intervenieren des Sicherheitsrates.

Und in der Tat braut sich in dem Nicht(s)-Ort Kana etwas Gewaltiges zusammen und die Ereignisse spitzen sich zu: Wolf-Graffitis tauchen an Bach-Stätten auf, es kommt zu einer Vergewaltigung, zur Explosion einer Tankstelle mit zwei Toten und zu einem Rachefeldzug gegen die oder aber unter den Nazis.

László Krasznahorkai taucht mit seinem Roman tief in die aktuelle Gegenwart inclusive Corona sowie den ganz normalen Alltag und Mief einer (ost-)deutschen Kleinstadt ein. Hier wird bei Lidl oder Netto eingekauft, hier werden Bierpreise diskutiert, Bock- und Bratwürstchen (nur mit Bautzner Senf!) verspeist und das kleine Glück in der großen Langeweile gesucht. Lange werden die Nazis nicht ernst genommen und man ärgert sich bei ihnen eher über nächtliche Ruhestörungen als über ihren Rassismus und Antisemitismus – bis die Bürger sich am Ende entsetzt fragen: „wo sind wir hingekommen?!“

Herscht 07769 ist ein ironisch-sarkastischer, aber auch bitterernster Warnruf vor einer sich spaltenden und radikalisierenden Gesellschaft. Mit Florian hat László Krasznahorkai dabei einen sympathischen (Anti-)Helden, einen heiligen Tor geschaffen, der die Gesellschaft mit den Tönen von Bach versöhnen will und dann doch andere Wege gehen muss. 

Die Prosa dieses Romans schwingt rhythmisch-melodisch wie das Plätschern eines Baches dahin und Krasznahorkai zeigt sich als großer Erzähler des Kleinen.  Doch mit seinem virtuosen Endlossatz über 400 Seiten und den stetig wechselnden Perspektiven stellt er den Leser auch vor Herausforderungen und das Erzählen des schnöden Alltags gelingt nicht immer ohne Längen und Leerstellen. László Krasznahorkai überbrückt diese aber letztlich mit einem sich stetig steigerndem Spannungsbogen und einem regelrechten Showdown am Ende des Buches.

Titelbild

Laszlo Krasznahorkai: Herscht 07769.
Heike Flemming.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
416 Seiten, 26 EUR.
ISBN-13: 9783103974157

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