Lesen in der Corona-Krise – Teil 21

Echte Helden: Das Buch „Projekt Lightspeed“ berichtet davon, wie Özlem Türeci und Uğur Şahin die Welt retten

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Projekt Lightspeed hat die Firma BioNTech im Jahr 2020 Pharmageschichte geschrieben. Joe Miller, Korrespondent der Financial Times, hat nun ein Buch vorgelegt, das den Namen dieses Projekts trägt – jenes Projekts, in dem in Lichtgeschwindigkeit ein mRNA-Impfstoff gegen das neue Coronavirus entwickelt wurde. Miller zeichnet den Weg der Entwicklung nach und zeigt zugleich das riesige Potenzial der neuen, vielseitig anpassbaren Technologien auf, weitere Vakzine gegen Allergien, Malaria und andere Erkrankungen zu finden. Ob gar Krebs-Erkrankungen besiegt und ein HIV-Impfstoff gefunden werden können, bleibt offen. Aber „wir glauben, dass diese Technologien eine neue Revolution mit sich bringen werden“, betont BioNTech-Gründer Uğur Şahin in dem Buch.

Einerseits trägt Miller die objektiven Fakten zusammen, erklärt verständlich die Reihenfolge der schwierigen und kostenintensiven Forschungsschritte des Unternehmens und offenbart für alle Aussagen detailliert seine Quellen. Auf der anderen Seite ist die Faszination des Autors für das Ehepaar Özlem Türeci und Uğur Şahin deutlich spürbar. Wer könnte sich dieser Faszination entziehen? Treffend wird schon auf dem Umschlag des Buches zusammengefasst, dass es hier darum geht, „wie zwei Forscher die Welt retten“. Sie gründeten 2008 „ohne großes Aufsehen in Mainz“ BioNTech als ein Unternehmen mit Fokus auf Krebsimmuntherapien und blieben „ganz bewusst mehr oder weniger unbekannt“, schreibt Miller. Das Ehepaar geht nicht häufig in die Öffentlichkeit und wirkt bei den wenigen Auftritten geradezu schüchtern oder überrascht von der Verehrung, die ihnen entgegengebracht wird. Gefühlsausbrüche scheinen ihnen fast unangenehm zu sein. Özlem Türeci erzählt, dass sie bei der Bekanntgabe der hohen Wirksamkeit ihres Vakzins kurz vor Freude auf und ab gesprungen sei und sich hernach einen Tee (sic!) gegönnt habe. Umso erstaunlicher ist es, dass der Autor die beiden Forscher über einen langen Zeitraum begleiten durfte und ihnen bei der Recherche für das Buch sehr nahe kam.

Der Leser kann mit den bescheidenen Wissenschaftlern mitfiebern, die dem Autor „geradezu unglaublich, ja unheimlich prophetisch“ erscheinen, weil sie die Pandemie erkannten, bevor sich das Virus um die Welt ausbreiten konnte. Er liest, wie das Paar müde vor Monitoren saß und sich nahezu rund um die Uhr mit Wissenschaftlern in China austauschte. Wie es sich selbst im Home-Office isolierte, um nicht durch das Virus außer Gefecht gesetzt zu werden, „während das Team ihre Führung am meisten brauchte“. Detailliert erklärt Miller, dass mit Türeci und Şahin zwei Menschen bis in die Tiefe in rund 120 Forschungsprojekten zu Impfstoffen und Therapien steckten und mit geradezu heroischen Fähigkeiten „die Summe der Teile und die übergreifende Vision“ verstanden. Die Komplexität sei „schwer in Worte zu fassen“, aber „Özlems Rolle war es, dieses Verständnis anderen weiterzuvermitteln“.

Doch auch die anderen verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von BioNTech finden in dem Buch Erwähnung: Es wird von den toxikologischen Studien von Claudia Lindemann, vom Testleiter Alex Muik und beispielsweise vom Herstellungsfachmann Andreas Kuhn berichtet, dessen Aufgabe es war, „eine der größten klinischen Studien in der Geschichte der Medizin mit sicher und stabil hergestellten Impfstoffen zu versorgen“. Der Leser erhält einen Einblick in die Arbeit realer Helden – und wie sie dabei „auf sich allein gestellt“ waren. Wie im Agentenfilm schrieben sich „graumelierte Biochemiker“ und Labortechniker E-Mails mit Inhalten wie „Die RNA hat das Gebäude verlassen“ oder einfach nur „Unterwegs“. Es sei das „Personal, das tagelang von Kopf bis Fuß in Schutzanzüge gehüllt in Reinräumen gearbeitet und kaum Zeit gefunden hatte, zwischendurch etwas zu essen oder zur Toilette zu gehen“. 

„Wir hatten das Know-how, und wir waren bereit“, sagt Oliver Hennig, der für den schnellen Aufbau und den reibungslosen Betrieb der Produktion zuständig war, selbstbewusst im Buch. Dabei gelang BioNTech eine Meisterleistung nach der anderen. Hennig sprach hierüber Anfang September 2021 auf dem Hessischen Innovationskongress und betonte dort besonders die Gemeinschaft, die Kooperation vieler Firmen bei der Entwicklung des Impfstoffs. Eindrucksvoll schildert auch der Journalist Joe Miller in seinem Buch die internationale Zusammenarbeit der forschenden Firmen, die aus Deutschland koordiniert wurde. BioNTech ging nicht nur weitreichende Vereinbarungen mit der chinesischen Firma Fosun und mit Pfizer – „zwei riesigen Pharmakonzernen“ – ein. Die chinesische Firma Sino Biological bot zum richtigen Zeitpunkt ihren Kunden eine DNA-Matrize an, welche die gesamte Sequenz des Coronavirus-Spike-Proteins kodierte. Gleichzeitig wurde in Mainz daran gearbeitet, „die kostbare DNA-Vorlage zu replizieren“, während in Wien die erste Charge der lipidumhüllten mRNA geliefert wurde. Am gleichen Tag, an dem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Krise zur Pandemie erklärte, wurde der Impfstoff erstmals Mäusen injiziert: am 11. März 2020. Und schließlich konnte die Produktion in Marburg starten. Es „war gelungen, in weniger als acht Monaten einen Impfstoff zu entwickeln, zu testen und massenhaft zu produzieren, ganz ohne Druck von außen“, schreibt Miller. Hierbei seien akademische, wissenschaftliche und ökonomische Grenzen überschritten worden.

Miller lässt keinen Aspekt von den internationalen Verhandlungen und Absprachen über politisches Kreuzfeuer bis zur Preisfindung für den Impfstoff aus. Eine solch umfangreiche Dokumentation des Projekts Lightspeed von der Idee bis zur Distribution ist wertvoll. Mit fortschreitender Zeit wird eine intersubjektive Beschreibung der Ereignisse des Beginns der Corona-Pandemie immer schwerer, weil das Vorhandensein der Impfstoffe fast schon als „normal“ angesehen wird. In welcher Situation die Arbeit bei BioNTech begann, ist mit zunehmendem Abstand – und der Akzeptanz der „neuen Normalität“ von freiheitseinschränkenden Maßnahmen – gar nicht mehr vorstellbar. Das mitten in der Pandemie geschriebene Buch trägt zur Transparenz bei. Es erklärt, was mRNA eigentlich ist, wie dendritische Zellen mit Informationen gefüttert werden und warum mRNA-Vakzine „wertvolle Rohdiamanten“ sind. Es bietet allen, die aktuell noch zweifeln, ob sie sich impfen lassen sollten, objektive und belegte Argumente für die Impfung – von der Funktionsweise der Impfstoffe über die Sicherheitsprüfung bis zur hohen Wirksamkeit. Gleichzeitig können nur mit mehr Impfungen auch wirtschaftliche Schäden durch weitere Lockdowns verhindert werden.

Die Welle aus Verweigerung und Erkenntnis Ungeimpfter scheint im Spätherbst 2021 den Wellenbewegungen der Infektionszahlen zu folgen. Die vierte Infektionswelle traf Deutschland nach der Veröffentlichung des Buches besonders hart und zog ein spätes, verstärktes Interesse an Impfterminen sowie eine intensive Diskussion zur Impfpflicht nach sich. Es ist mehr als ratsam, sich vor dem Virus zu schützen und sich impfen zu lassen, auch wenn ein dauerhafter Schutz vielleicht nicht möglich ist. Uğur Şahin hält seinen Impfstoff trotz der Impfdurchbrüche für sehr wirksam. Vielleicht werden nur ähnlich wie bei Influenza in Zukunft jährliche Auffrischungsimpfungen benötigt, um der Wellenbewegung der Pandemie zu begegnen, bei der eine typische Saisonalität zu erkennen ist. Das könnte die neue Normalität sein, sagt er im Buch.

Und obschon neue Virusvarianten die Wirksamkeit auf eine harte Probe stellen könnten, ist sich die WHO sicher, dass mehrere hunderttausend Menschenleben mit den verfügbaren Impfstoffen gerettet worden seien. WHO-Regionaldirektor Hans Kluge sagte am 26. November 2021, die Impfstoffe gegen Covid-19 seien ein Wunder der modernen Wissenschaft. Studien verdeutlichten, dass sie genau die versprochene Wirkung hätten, „nämlich Leben retten und einen sehr hohen Schutz vor schwerer Krankheit und Tod bieten“. In manchen Ländern wären die Todesfallzahlen ohne die Impfstoffe doppelt so hoch ausgefallen. Dies ist das Verdienst u.a. des faszinierenden Marathons von Özlem Türeci und Uğur Şahin. Umso spannender ist es, sich auf die Spuren BioNTechs zu begeben und das Buch von Joe Miller in die Hände zu nehmen, um zu verstehen, was echte Helden ausmacht.

Özlem Türeci und Uğur Şahin leiden darunter, so schreibt Miller, dass Krebs nur mit „Schneiden, Vergiften, Verbrennen“ (Operation, Chemotherapie und Bestrahlung) zu behandeln ist. In einem Interview mit dem Wiesbadener Kurier (Ausgabe 20.11.21) erklärte Şahin, dass er im kommenden Jahr Ergebnisse zur mRNA-Therapie für schwarzen Hautkrebs erwartet. BioNTech arbeitet parallel an Krebstherapien und Impfstoffen gegen Infektionserkrankungen. „Wir sind bereits mit vier klinischen Studien in der Phase 2 – und es werden noch mehr werden“, sagte Uğur Şahin der Zeitung. Man kann seine Begeisterung spüren. Das Projekt Lightspeed ist erst der Beginn, der von Joe Miller beschriebene visionäre Weg „zu einer Medizin von morgen“ wird vor den Augen des Lesers fortgesetzt und zu Realität.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

 

Titelbild

Joe Miller / Ugur Sahin / Özlem Türeci: Projekt Lightspeed. Der Weg zum BioNTech-Impfstoff – und zu einer Medizin von morgen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
352 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002770

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