Der Ruf ans Sterbebett des Freundes

Die israelische Autorin Lizzie Doron schildert in „Was wäre wenn“ bewegend, wie zwei Liebende ihre persönlichen und politischen Illusionen begraben müssen

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass eine bedeutende Autorin auf dem Büchermarkt ihres Heimatlandes ins Abseits geraten kann, wenn ihre politischen Auffassungen vom „Mainstream“ abweichen, erlebt derzeit die mehrfach preisgekrönte israelische Schriftstellerin Lizzie Doron. Für ihren neuen Roman Was wäre wenn fand sich in Israel kein Verlag. Die Autorin hatte mit „Feinden“ gesprochen, die keine mehr sein wollen: israelischen und palästinensischen Ex-Militärangehörigen, die als „Combatants for Peace“ gewaltlos für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts eintreten. Man bezeichnet die Autorin nun als „Verräterin“ oder behauptet, niemand interessiere sich für Romanfiguren, die auf diesem Weg nach Frieden streben.

Das Buch ist in zweifacher Hinsicht keine einfache Lektüre: Einsamkeit, unlösbare Konflikte, späte Reue und unabwendbarer Tod bestimmen den Inhalt, zahlreiche höchste Aufmerksamkeit heischende Rückblenden zwischen 2018 und 1956 die Struktur, die man geschickt oder auch überkompliziert finden kann.

Der Roman beginnt damit, dass im Dezember der todkranke Yigal Ben Dror die Ich-Erzählerin Lizzie bittet, als letzter Mensch zu ihm ins Hospiz zu kommen. Trotz Jahrzehnten der Funkstille zwischen ihnen zögert sie nur kurz: „Einem, der im Sterben liegt, schlägt man keine Bitte ab.“ Doch warum soll ausgerechnet sie es sein, obwohl die Entfremdung zwischen beiden weit fortgeschritten und über ihre Beziehung wie über das Schicksal Yigals in einer seiner Mitteilungen an sie alles gesagt ist: „Und die weiteren Aussichten – keine.“ Der letzte Satz des Romans, in Yigals Handschrift auf Krankenhausbriefpapier geschrieben, gibt eine Antwort: „Du warst der erste Kuss.

Vom Dezember 2018 und dem Besuch im Hospiz geht es sogleich zurück in den November 1956. Da tobt der Sinaikrieg, und Lizzie ist drei Jahre und drei Monate alt – „Keine Ahnung, ob das wirklich eine Erinnerung ist, die sich mir damals eingebrannt hat, oder bloß eine Geschichte, die ich später gehört habe.“ Die Autorin will eben auf Lizzies ganzes Leben zurückzublicken, das wesentlich von ihrer wechselnden Sicht auf Israel und auf Yigal bestimmt wird.

Und vom Verhältnis zur Mutter. Der Romantitel bezieht sich auf einen Satz, den Lizzies Mutter, die Auschwitz überlebt hat, nie zu Ende spricht, weil die Tochter ihr immer ins Wort fällt. Bei aller Tragik dieser Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ist der Autorin auch hintergründiger Humor nicht fremdLizzie hieß ursprünglich Elisabeth, und die Lehrerin, die ihr den hebräischen Namen Alisa gibt, „weiß nicht, dass meine Mutter sich mit Alice besser hätte abfinden können, das war ja die aus dem Wunderland.“

Jahrelang sieht es die Mutter als ihre Berufung an, die Tochter zu schützen. Der Kleinen wird es peinlich, wenn die Mutter zu oft im Kindergarten nach ihr sieht, und eines Tages reißt sie aus. Sie hat keine Angst, sich zu verirren; die Begründung treibt dem deutschen Leser die Tränen in die Augen und die Scham ins Herz: 

Aber in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, geht man nicht verloren. Der Mann aus Sobibor kennt die Frau aus Bergen-Belsen gut, und sie bringt mich zu der Frau aus dem Getto Krakau, die mich schließlich zu der richtigen Mutter aus Auschwitz zurückbringt.

An einem Frühlingstag des Jahres 1974 sieht Lizzie den jungen Mann wieder, mit dem sie 1967 gekuschelt hat und der später in syrische Kriegsgefangenschaft geraten ist. Auf seine Frage erzählt sie ihm bereitwillig, dass sie einen Freund hat, der Ingenieurwissenschaften studiert. Das kurze Gespräch erschöpft beide, und Lizzie will Yigal zum Abschied umarmen. „Das geht nicht, wegen der Narben, die haben mir die Haut abgeschält.“ Für sie ist er jemand, den sie in einer anderen Zeit gekannt hat. Da hat er ihr schon gesagt: „Ich dachte, du würdest mir beibringen, wie man liebt.“ Ihre starken Gefühle für Yigal zeigen sich schon 1967, als er bei einer Schülerversammlung in der Turnhalle mit einer infantilen Bemerkung auf die Nachricht reagiert, dass zwei Mitschüler gefallen sind: „Wer fällt, soll zur Schulkrankenschwester gehen.“ Lizzies erstaunliche Reaktion: „Ich aber […] erliege Yigal.“

Hier kann nur summarisch auf Lizzies sich wandelnde Haltung zum verheißenen Land Israel eingegangen werden. Ihre Mutter rät ihr zu einem Leben fernab der politischen Träume und Ideologien. Doch Lizzie ist ein politisches Wesen und legt einen schmerzhaften Weg der Erkenntnis zurück. Anfangs bejubelt sie Israel als das Land, dem ihr Leben geweiht ist. Im Oktober 1973 aber ist die Welt ihrer Träume vom Antlitz dieser Erde getilgt, und ein betriebsames Trauern füllt ihre Tage aus. Yigal zieht als Protestierender durch das Land und fordert die „Versager“ in Parlament, Regierung und Armee auf, den Weg frei zu machen – hin zum Frieden mit den Arabern. Angesichts seiner Leiden als Kriegsgefangener grenzt diese Haltung an ein Wunder. Yigals Entsetzen über die nationalistische israelische Politik führt ihn in seiner Facebook-Gruppe mit der zynischen Bezeichnung „Welcome to Israhell“ zu sarkastischen „Vorschlägen“ für den Umgang mit Nichtjuden in Israel, die sich an den Schikanen der Nazis gegen die Juden in Deutschland orientieren.

Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1975 ist Yigal zur körperlichen Liebe unfähig, nach allem, was ihm dort angetan wurde. Er will versuchen, anderswo ein Leben zu finden. Nach einer Begegnung im Herbst desselben Jahres hofft Lizzie, bis zu einem Wiedersehen möge viel Zeit vergehen. Da weiß sie noch nicht, dass sie einander erst im Hospiz wiedersehen werden und dass sie „wie besessen“ von ihren Erinnerungen an Yigal sein wird.

An meinem Tod wird niemand Schuld haben, aber an meinem Leben sehr viele.“ Sätze wie dieser, den Yigal an Lizzie schreibt, sind Quintessenz der bewegenden, ja niederschmetternden Verbindung zwischen politischer und persönlicher Tragik. Ohne sich zum Richter über israelische Politik aufzuschwingen, wird der Leser lange von den begrabenen Illusionen Lizzies und Yigals umgetrieben werden. Dazu trägt wesentlich der Übersetzer Markus Lemke bei, der die gefühlsstarke, jedoch nie ausschweifende Sprache Dorons mustergültig ins Deutsche überträgt und vor Zuspitzungen dort nicht zurückschreckt, wo Yigal sie in seinem verzweifelten Ringen um eine Politik des Friedens verwendet.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Lizzie Doron: Was wäre wenn.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
dtv Verlag, München 2021.
144 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783423282369

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