Biotope spielerischer Poesie

In „Magma in den Dingen“ dichtet Ron Winkler behutsam über Lebensräume

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Poetische Variationen über die Natur, vom „Harzduft“ über Libellen bis zum sehr menschlichen „Gedankenflügler“, bereichern die Sprache und die menschliche Einbildungskraft doch sehr. Ron Winkler stellt bekannte summende, fantastisch surrende und fröhlich ausgedachte Wesen und Gestalten vor, wohnhaft in Biotopen, im Tierreich und in der Menschenwelt. Der Dichter schaut genau hin, träumt – inmitten von erdnahen Schilderungen – von einer „reinen Schwerelosigkeit“. Sein lyrisches Ich bekennt sich, versuchsweise auch philosophisch: „ich aber bleib. ich bleib begrifflich. ich bleib begrifflich ungebunden. / molekular verfasste Einsamkeit“.

Vor allem bleibt dieses lyrische Ich ein „ich“, das nicht groß sein oder hochgemut von sich denken will, aber gern „mit verschiedenen Wettermirabellen den entstehenden Nebel“ beobachtet – ohne jede Absicht, irgendetwas zu erkennen, sondern bloß, um einfach nur zu sein, eingehüllt in eine Sprache, in der vertraute Begriffe und Wörter aufgespürt, neu geordnet und dichtend zueinander gefügt, damit auch zusammengedacht werden. Manchmal, so scheint es, erfüllt Ron Winkler die bloße, schiere Lust am kunstvollen Spiel mit der Sprache, ob er über das „Magma in den Dingen“ nachsinnt oder über „vom Wege abgekommene Eichhörnchen“. Der Dichter ist ein Hüter der Sprache, nicht weil er – wie vielleicht Existenzphilosophen (an Martin Heidegger sei gedacht) – mit neuen Wörtern und Wortverbindungen den Grund des Seins erkunden will, sondern indem er neue Blickweisen auf die Vielfalt von Mensch, Natur und Welt öffnet. Auch die Erinnerungen sind kostbar, sollten aufgehoben und geschützt sein, allerdings nicht in dickleibigen Biografien oder spröden Memoiren, sondern eher so: 

damit du die Schutzgebiete nicht zertrittst.
mit dem leisen Murren, mit dem sich deine nackten Sohlen in den Treibkies schieben.
den Kies aus allem, was sich dort befindet,
je befunden hat.

So schaut das lyrische Ich zurück, in sich hinein, hinaus ins Weite und auch nach droben, „zum strapaziösen Schönen“, und imaginiert „Regenbögen aus Spielarten von Weiß“. Doch zum Theologen wird dieses Ich nicht, im Gegenteil: Es bleibt der Natur agnostisch „dankbar, dass du wie jede Familie keinen Vater hast“. Wertgeschätzt werden trotzdem alle Himmelsausblicke, auch wenn es trübe bleibt, denn „die Wolken ziehen / Grau herbei“, aber stehen Grautöne für Farblosigkeit und Ödnis? Winkler spricht über das, was „gewiss“ sei – „oft macht Grau den Unterschied“. Wer dies liest, mag grübeln, sinnieren, sich selbst Fragen stellen und sogar Antworten darauf finden, die stimmen könnten oder nicht. 

Der Dichter Ron Winkler beschreibt eine sehr farbige Welt, nuanciert, unkonventionell. Wer also das Graue als das Schwere, Theoretische und Eintönige ansieht, dem empfiehlt er gerade nicht den Expertenrat der kunstvollen Differenzierung, sondern meint, dass „nur noch Laien helfen können“, und „das beweist das Kind“, das anderes sieht oder sehen möchte, auch Fantastisches und Fantasiertes. Kinder, ja Menschenkinder schauen auch einfach nur nach oben. So dichtet Winkler über Himmelsausblicke und das Meer in Nachtrag 14:

wie wir wissen, sind Möwen eine Sprachnachricht fürs Leben.
sie schreien gegen meine Überzeugung. verschwiegen 
bleibt jedoch wie weit das Meer gediehen ist.
für Tage hat als Sand es sich in meinen Augen zugetragen.

wir schauen auf: der Himmel wiegt ein neues Blau.

Wer am Meer entlangschlendert, hört diese Möwen rufen, ja schreien. Winkler beschreibt Atmosphärisches, aber ganz anders als ein Arthur Schopenhauer, der die Seelandschaft mit Menschlichem überformte und bedeckte, eine Metaphysik der Endlichkeit erdachte, ohne auf Möwen zu achten. Sie hätten ihn vielleicht nicht einmal gestört. Winkler verzichtet auf Philosophenweisheiten, schaut aber hinauf – und entdeckt ein „neues Blau“, das weder romantisch verklärt noch lyrisch gefeiert werden muss. Wer sich den Sand aus den Augen gerieben hat und nach oben sieht, freut sich über das Blau, ohne zum Metaphysiker werden zu müssen. Der natürliche Himmel genügt.

In einem Gedicht, das Märchen genannt wird, lesen wir von den „Glanzreserven der kindheitsgroßen Schule“. Die Kindheit des Dichters war gewiss, wie überall, wenig märchenhaft, bot aber Lebensräume für Märchen und auch für eine Liebesgeschichte: 

ich war ein Zufluss
in die Saale. 
führte flüsslings, berglings, waldlings
durch quälgeisteigene Gegend.
der erste Kuss
hinter dem Gruppenzelt der WISMUT bei Sommerspielen
in klassenkämpferisch geteiltem Solidarschlaf
ich wirkte klein
neben dem Panzer. konnte nicht so strahlen
wie Uran, dafür der Beste sein
in Muskelkater, wenn es darauf ankam.
die Liebesbriefe, die ich schrieb, pastellene
Panikparadiese.

Winkler dichtet eigensinnig künstlerisch und auch schelmisch, wenn er den Kuss beschreibt, dem so viel Post vorausgegangen ist. Wir wissen und erfahren nicht, ob er lange unzufrieden war mit seinen Liebesbriefen und immer wieder neu anfing – oder ob sein anderes, also lyrisches Ich so ausführlich Liebesdinge darlegte, bis der Kuss den Briefeschreiber auch von der Schreibkunst erlöste. Der „klassenkämpferisch geteilte Solidarschlaf“ könnte ein ganz natürliches, naturhaftes Vergnügen gewesen sein, auch im Sommerlager. Niemand wollte und brauchte in der Jugend je Sieger- und Ehrenurkunden für die vormilitärischen sportlichen Übungen bei Bundesjugendspielen. Dasselbe galt auch für alle Plaketten, Medaillen und Abzeichen, errungen in Wismut und anderswo. Unvergesslich, unvergessen wesentlich bleibt der erste Kuss. Winkler legt Gedichte mit frischen, neuen Farben und bemerkenswerten Grautönen vor. Dieser schmale Lyrikband verdient aufmerksame Beachtung.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ron Winkler: Magma in den Dingen.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
104 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783895612190

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