Wahrnehmung und/als Kunst

Präzision und Ästhetik gehen bei Siri Hustvedt Hand in Hand

Von Ricarda MennRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ricarda Menn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2019 fanden gleich zwei Veröffentlichungen der US-amerikanischen Schriftstellerin Siri Hustvedt den Weg in den deutschsprachigen Buchmarkt: ihr siebter Roman Damals, zeitgleich mit der englischen Ausgabe Memories of the Future, sowie die Essay-Sammlung mit dem Titel Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen. Hier erschien die Originalversion bereits 2016 und beinhaltet auch den Essay The Delusions of Certainty, welcher 2018 als Die Illusion der Gewissheit übersetzt wurde. 

Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen

Hustvedts Essays speisen sich aus ihrem Interesse an der Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften. So bringt sie Ästhetik und neurowissenschaftliche, kognitionsorientierte Ansätze miteinander in den Dialog, um einen differenzierteren Blick auf die Wahrnehmung verschiedener Künste zu ermöglichen. Dadurch möchte Hustvedt auch die Dichotomie zwischen ‚hard‘ und ‚soft sciences‘ (eine Unterscheidung, die im deutschsprachigen Diskurs nicht gleichermaßen etabliert ist, aber auf eine bestimmte wertende Weise die Gegensätze zwischen Natur- und Geisteswissenschaften verdichtet) sowie damit verbundenen geschlechterpolitischen Konnotationen aufbrechen oder zumindest abschwächen.

Dennoch kommt Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen selbst nicht ohne eine konzeptionelle Zweiteilung aus, die zudem den Stil beeinflusst: In der ersten Hälfte sind Aufsätze versammelt, in denen Hustvedt eine Brücke zwischen literarischem und essayistischem Schreiben schlägt, während der zweite Teil aus Konferenzbeiträgen besteht und sich entsprechend einer wissenschaftlichen Sprache bedient. Die meisten der Essays rekurrieren auf folgende Grundthemen: individuelle Wahrnehmung, ihre Repräsentationsmöglichkeiten und zudem Auseinandersetzungen mit geschlechterpolitischen Machtverhältnissen in den Künsten. 

Der Beitrag Ballonzauber nimmt Kunstwerke von Jeff Koons als Ausgangspunkt, um über unterschiedliche monetäre Wertzuschreibungen von Kunst zu sprechen, Wertzuschreibungen, die nicht durch materielle Gründe bestimmt sind, sondern vielmehr durch kulturell kodierte Erwartungen geprägt. Spezifischer weist Hustvedt darauf hin, dass Kunstwerke von männlichen Künstlern oft signifikant mehr wert sind:

Der Makel des Weiblichen und seiner unzähligen metaphorischen Assoziationen wirkt sich auf jede Kunst aus, nicht nur auf die bildende. Klein, weich, schwach, emotional, sensibel, häuslich und passiv im Gegensatz zu den männlichen Eigenschaften groß und stark, hart, intellektuell, zäh, sozial und aggressiv. Es gibt viele Männer mit den erstgenannten Eigenschaften und viele Frauen mit den letztgenannten; und die meisten von uns sind Mischungen aus beiden.

In dieser Passage vereinen sich Hustvedts genaue Beobachtungsgabe und ihre Fähigkeit, diese Beobachtungen präzise darzulegen – was im vorliegenden Fall den Effekt hat, dass sie scheinbar diametral gegenüberstehende Eigenschaften und ihre geschlechterpolitischen Dimensionen gleichermaßen systematisch darlegt, durch die Form einer parataktischen Aneinanderreihung jedoch auch entlarvt, wie stereotyp und schematisch diese sind. Hustvedt überzeugt hier vor allem durch ihre klare und kunstvolle, pointierte und gleichzeitig mehrdimensionale Darstellung, die auch die Leser*innen zum Nachdenken über solche scheinbar gegebenen Binaritäten anregt.  

In ähnlicher Weise nimmt Hustvedt in Keine Konkurrenz eine Aussage des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgaard zum Anlass, um anhand von Knausgaards Stil, der sich weiblich konnotierter Topoi bedient (zum Beispiel die exzessiven, listenartigen Beschreibungen seines Haushalts und die wiederkehrenden Bekenntnisse, zu weinen), zu zeigen, wie unterschiedlich solche Strategien bei männlichen und weiblichen Schriftsteller*innen bewertet werden. Hustvedts Beiträge in Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen schlagen auf vielfache und verdichtende Weise Bögen zwischen Philosophie und Kunst, Feminismus und Literatur, Kognitionstheorien und Essays und positionieren Hustvedt als eine der wichtigsten Denkerinnen unserer Zeit. Zugleich bedienen sich auch ihre Romane an einigen dieser Themen: Nicht zuletzt in ihrem Vorgänger The Blazing World (dt. Die gleißende Welt, 2014) spielte eine unterschwellige Misogynie im Kunstfeld eine zentrale Rolle und wird durch eine weibliche Künstlerin symbolisiert, die in unterschiedliche männliche Rollen schlüpft, um Anerkennung zu erlangen. Hustvedt reiht sich damit nahtlos in eine Tradition zeitgenössischer feministischer Essayistinnen ein, die – wie zum Beispiel Roxane Gay oder Rebecca Solnit – auf sehr unterschiedliche Weise Machtverhältnisse und Geschlechterstereotypen in Frage stellen. In diesem kulturellen Diskurs leisten Hustvedts essayistische und literarische Schriften einen wichtigen Beitrag zur Verbindung von (Natur)-Wissenschaften und Kunst, die nicht als gegenläufig, sondern als komplementär zu verstehen sind und somit neue Denkrichtungen anstoßen können. 

Damals 

In Hustvedts neuestem Roman Damals blickt die Protagonistin S.H. auf das Jahr 1979 zurück, in dem ihr jüngeres Ich auf der Suche nach ihrem ersten Romanheld von Minnesota nach Manhattan umzog. Diese Retrospektive wird jedoch nicht linear erzählt, sondern besteht aus verschiedenen Textebenen: Dies sind, neben der Rahmenerzählung, die in der erzählten Gegenwart situiert ist, auch Tagebucheinträge aus dem Jahr 1979, handgefertigte Zeichnungen und Fragmente eines Detektivromans, den ersten schriftstellerischen Versuchen von S.H. 

Neben einigen Abweichungen zwischen S.H. und der Autorin Siri Hustvedt gibt es doch auch augenscheinliche biographische Parallelen: Außer der Korrespondenz der Initialen sind beide Schriftstellerinnen, wurden 1955 in Minnesota geboren und haben norwegische Vorfahren. Diese Parallelen werden jedoch immer wieder aufgebrochen – S.H.s Mann heißt Walker, ein Name, der phonetisch vage an Auster erinnert, jedoch keine Homologie kreiert. Durch dieses Spiel mit Identität und Alterität kann man Hustvedts Text durchaus einer nun auch auf dem englischsprachigen Buchmarkt boomenden Gattung zuordnen: der Autofiktion, einer Mischung aus Roman und Autobiographie, in der Schriftsteller*innen in mehr oder weniger fiktionaler Weise autobiographische Elemente verhandeln. Im Vergleich zu anderen Vertreter*innen dieser Gattung – neben dem bereits erwähnten Norweger Knausgaard sind hier auch Rachel Cusk oder Sheila Heti zu nennen – steht in Damals weniger eine auktoriale Selbstdarstellung im Vordergrund, sondern vielmehr die Geschichte einer werdenden Schriftstellerin. In diesem Zusammenhang sind die eingestreuten Versatzstücke des Detektivromans besonders spannend, da sie gleichermaßen Hustvedts eigene, erste Schreibversuche darstellen könnten wie auch die Imagination, wie solche hätten aussehen können. Daher ist Damals ein teils positiv irritierender Text, der eine lose referentielle Verbindung zu Hustvedts Leben sowie die Imagination einer Schriftstellerkarriere wie einen roten Faden in verschiedenen Erzählsträngen und Textsorten verwebt.

Bereits in The Shaking Woman or A History of My Nerves (Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven, 2010) experimentierte Hustvedt mit autobiographischen Selbstdarstellungstechniken: Während dieser Text zwar deutlich linearer die Geschichte von Hustvedts Zitteranfällen erzählt, fehlt jedoch nicht die theoretische Einbettung durch Verweise auf die historischen und epistemischen Dimensionen von Krankheitsdarstellungen. Im Gegensatz zu Die zitternde Frau sind bei Damals allerdings wiederkehrende Reflektionen auf die Bedingungen und Umstände des Schriftstellertums und dessen Bezug auf die eigene Identität zu finden, oder wie es die Protagonistin von Damals ausdrückt: „Damals wusste ich nicht, was ich jetzt weiß: Während ich schrieb, wurde ich auch geschrieben“. Dieses Zitat deutet zudem eine weitere Dimension des Textes an: die konstante Verhandlung und Neuverhandlung von Erinnerungen, die Grenzen ihrer Zuverlässigkeit sowie ihr Einfluss auf die Gegenwart und Zukunft der Rückblickenden. Dieser Spannung zwischen unterschiedlichen Zeiten ist sicher auch der englische Titel Memories of the Future geschuldet, während Damals als Übersetzung deutlich reduzierter anmutet. Vor allem diese Aushandlungsprozesse zwischen erzählter Gegenwart und Vergangenheit und damit einhergehende Reflektionen über die Umstände und Entstehungen einer literarischen Autorin sind besonders nachdrücklich erzählt. Daneben kann vor allem das fragmentarisch eingestreute Manuskript des Detektivromans nicht immer überzeugen und ist daher auch mehr als Zeugnis der entstehenden Autorschaft denn als Darstellung von Hustvedts schriftstellerischen Fähigkeiten zu verstehen. Insgesamt bietet Hustvedt mit Damals abermals einen anspruchsvollen und dichten Text, der durch verschiedenste Anspielungen und Ebenen besticht. Auch wenn der gesamte Spannungsbogen im Vergleich zu ihrem meisterhaften The Blazing World etwas abfällt, so ist Damals dennoch ein gelungener Text einer der profiliertesten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Siri Hustvedt: Damals. Roman.
Mit Zeichnungen der Autorin.
Übersetzt aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019.
444 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498030414

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Titelbild

Siri Hustvedt: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen. Essays über Kunst, Geschlecht und Geist.
Übersetzt aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019.
525 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783498030315

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