Der Tod schaut ihm über die Schulter

Die phantastischen Bildwelten des belgischen Künstlers James Ensor werden von Inge Herold und Johan Holten in einem neuen Studienband vereinigt

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

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Halb Engländer, halb Belgier, lebte er in dem belgischen Badeort Ostende, und zwar fast neunzig Jahre lang bis zu seinem Tode 1949. Er war ein seltsamer, skurriler Maler. Am liebsten zog er sich in sein dunkles Atelier im Dachgeschoß des Hauses zurück, in dem seine Mutter einen Kuriositäten- und Souvenirladen führte. Hier spielte er Harmonium oder Klavier und malte Bilder, die die Bürger von Ostende als verwirrend und abschreckend empfanden und die zu kaufen sie keine Lust hatten. Und doch war James Ensor einer der einflussreichsten Künstler der Avantgarde des Nordens.

Auf seinen Bildern sieht man oft den in ein weißes Leichentuch gehüllten Tod (Der Tod und die Masken, 1897), einen „skelettierten“ Richter (Der große Richter, 1898) oder den Künstler selbst mit einem Totenkopf (Skelett mit Staffelei, 1896/97) oder umgeben von einer hässlichen und feindlichen Masse von Gesichtern und Masken (Selbstporträt mit Masken, 1899). Der Künstler ist wie in einer Falle gefangen. Aber die Menschen um ihn herum nehmen von ihm keine Notiz und er ebenso nicht von ihnen. Alle schauen aus dem Bild und scheinen sich auf den Betrachter zuzubewegen. Als Betrachter fühlt man sich wie gelähmt, wie hypnotisiert im Anblick dieser grinsenden Schädel und Totenköpfe, von denen man unbarmherzig fixiert wird. Man hat das Gefühl, als ob dies nur ein Ausschnitt aus einer viel größeren Menge sei, die einen ebenso umstellt, wie sie Ensor selbst umdrängt.

Konfrontieren solche Bilder den Betrachter mit seinen eigenen Ängsten und können sie ihm helfen, sie loszuwerden, indem er sie mit dem Künstler teilt? Im antiken griechischen Drama wurde diese Erfahrung als Katharsis, als Reinigung bezeichnet, und Sigmund Freud hat diese Erfahrung zu Ensors Lebzeiten neu interpretiert. Es ist sicher eine sehr Freudsche Art, sich so selbst zu sehen, umgeben von seinen eigenen Neurosen.

Möglicherweise macht sich der Künstler aber auch ein wenig über sich selbst lustig, wenn er sich dann wieder darstellt wie ein Pfau. Sein Kavaliersschnurrbart hängt ein wenig schief, und auf dem Kopf trägt er einen Damenhut mit roter Straußenfeder. Der Tod schaut ihm über die Schulter. Die Maske ist eine Allegorie der menschlichen Leidenschaften, sie ist Sinnbild besonders für hässliche, verwerfliche Leidenschaften. Sie trägt das Innere eines Menschen nach außen, und Ensor hat sich sehr viel mit dem Seelenleben von Menschen beschäftigt.

In ihrer im September 2021 abgelaufenen Ensor-Ausstellung knüpfte die Kunsthalle Mannheim an ihre bedeutende Ensor-Schau von 1927 an, dem der Erwerb des Gemäldes Der Tod und die Masken (1897) vorausgegangen war. Doch mit zahlreichen weiteren Werken wurde dieses Bild 1937 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt. Heute befindet es sich im Musée des Beaux-Arts in Lüttich, doch konnte es für die abermalige Ausstellung wieder nach Mannheim ausgeliehen werden. Zusammen mit Der tote Hahn (Stillleben mit Hahn) (1894), das 1956 in die Sammlung gelangte, bildete es den Glanzpunkt der Ausstellung. Nicht der Chronologie, sondern den Themen und Werkgruppen nach wurden die Arbeiten geordnet: Masken und Tod, Selbstporträts, Stillleben, die Christusmotivik und die Liebesgärten, Landschaften und Stadtansichten aus dem Ensor prägenden Lebensumfeld der belgischen Seestadt Ostende. Erstmals waren auch alle Grafiken aus dem Besitz der Kunsthalle gezeigt worden.

Der Katalog vereinigt die Analyse des facettenreichen Werkes von Ensor mit der Aufarbeitung der Geschichte seiner Rezeption in der Kunsthalle Mannheim und in Mannheimer privaten Sammlungen wie Ensors Wirkung auf die Kunst und Kunstgeschichte seiner Zeit, den Begegnungen mit Künstlern in seinem Haus in Ostende, wie den Expressionisten Emil Nolde und Erich Heckel, in deren Werken sich dann auch Reflexe dieser Begegnungen finden lassen. Als Sinnbilder für die Absurdität des Daseins haben Ensors Themen und Motive, Formen und Farben die deutschen Expressionisten ebenso beeinflusst wie die französischen Surrealisten, die Dadaisten wie die Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“ der 1920er Jahre. Auch nach 1945 besann man sich wieder auf Ensor, und in jüngerer Zeit hatten sich Gruppen wie „Raindrops“ oder „Bonjour Mr. Ensor“ zusammengefunden, die sich von den phantastischen Bildwelten dieses Ausnahmekünstlers anregen ließen.

Inge Herold, Kuratorin der Ausstellung und Mitherausgeberin des Kataloges, leistet den Hauptanteil der Beiträge. Sie führt in die Werkwelt Ensors ein, beschäftigt sich mit dessen Selbstdarstellungen, dem Thema Tod und Masken, Ostende und dem Meer im Leben und Schaffen des Künstlers, den Stillleben und schließlich der Rezeption Ensors in Deutschland. Wiederholt hat Ensor die gleichen Sujets – aber in verändertem Stil – gestaltet und nach den Themen und Motiven präsentiert, wie sie Ausstellung und Katalog in einer repräsentativen Auswahl von zentralen Werken zeigen. Das Spiel mit Motiven und Techniken – so Inge Herold – steht eigentlich im Kontrast zur flämischen Tradition. Ensor nahm Anregungen aus den Nachbarkünsten auf, nutzte die Fotografie als Vorlage, setzte auch die Schrift ein. Die Maske diente ihm als Mittel der Verschmelzung von Realitätsebenen und Objekt, das für Täuschung und Demaskierung steht. Der Künstler hat die Auseinandersetzung mit dem Tod, das Rollenspiel und die Maskerade, auch Christus als Identifikationsmodell für sich genutzt, und gerade die „Legende vom Ich“ lässt einen weiten Interpretationsspielraum zu.

Ist das Werk Ensors „eine postmoderne Inkohärenz, eine Regel- und Zusammenhanglosigkeit, avant-la-lettre“, also seiner Zeit voraus, fragt Herwig Todts, Kuratorin für Moderne Kunst im Museum der Schönen Künste Antwerpen. Der Künstler beanspruchte innerhalb der belgischen Avantgarde von Anfang an eine Sonderstellung für sich. Er war ein „konzeptueller Kunsterneuerer“: Odilon Redons Symbolismus veranlasste ihn zu einer radikalen künstlerischen Neuorientierung, nun arbeitete er auch in Schwarz-weiß, malte surreale Gegenstände und entwickelte das Clair-obscur, die Hell-Dunkel-Malerei, zu einem Instrument der Mystifikation. Der Hinweis, Ensors Kunst nicht auf der Grundlage seiner Biografie zu interpretieren, sondern andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, dürfte von Nutzen sein.

Der Provenienzforscher Mathias Listl beschäftigt sich in seinen Beiträgen mit Ensors Werkgruppe der Liebesgärten, dessen zeichnerischem und druckgrafischem Werk und dessen Arbeiten in der Grafischen Sammlung der Kunsthalle Mannheim, während der Ensor-Kenner Xavier Tricot – er ist Maler, Schauspieler und Kunsthistoriker in Ostende – auf die unterschiedlichen Christus-Darstellungen Ensors eingeht. Eine Biografie Ensors, ein Verzeichnis der ausgestellten Werke und eine Bibliografie (Auswahl) schließen den so aussagekräftigen Band ab.

Im Konnex von Kommentierung und Bildbetrachtung sollen einige hervorstechende Probleme im Werk Ensors genannt werden. Dieser hatte das Thema des Straßenkarnevals genommen, an dem er sich in Ostende selbst beteiligte, und es als Sinnbild des Lebens benutzt wie viele Künstler vor ihm. Der frühe flämische Maler Hieronymus Bosch etwa, der in der grotesken Seite des Straßenkarnevals eine Allegorie des menschlichen Übels sah. Oder Goya, in dessen ausgelassen feiernden Figuren die Gewalttätigkeit hervorbricht. Auch Ensor malte 1888 das karnevalistische Festival vom Einzug Christi in Brüssel als Zeugnis totaler Pervertierung in gräulichen, bewusst die Harmonie des Kolorits verachtenden Farben. Eine Masse von auf und ab hüpfenden, grimassenhaften, abgestumpften Gesichtern, die die Vorstellung vermitteln, dass die Gesellschaft nicht nur unwirklich, sondern eine Art dämonischer Karneval ist, ein Kollektiv bedrohlicher Masken. Ist Ensor selbst der verspottete Christus? Auf jeden Fall ist er der verspottete Maler. Die Radierung zum gleichen Thema Der Einzug Christi (1899) ist eine seitenverkehrte Kopie des Gemäldes mit erkennbaren Zusätzen und Veränderungen. Jetzt zieht die chaotische Menschenmenge Fahnen und Transparente schwenkend am Betrachter vorbei. Ist es nun eine Massenprozession, ein Triumphmarsch, ein Karnevalszug oder eine Arbeiterdemonstration? Triumphierend erhebt sich Ensor als Christus über die Menge und verkündet allen seine radikale künstlerische Botschaft.

Ein anderes Charakteristikum: Auf ein Foto von 1896, das Ensor vor der Staffelei sitzend in seinem Dachatelier zeigt, geht das Bild Das malende Skelett (1896) zurück. Alle auf dem Foto abgebildeten Masken, Schädel und sonderbaren Objekte, alle für Ensors Werk zentralen Arbeiten sind Stück für Stück auf die Leinwand übertragen worden. Inmitten dieser Kuriositätenkammer steht der Maler als Skelett vor der leeren Staffelei, auf der ein Totenkopf ihn höhnisch angrinst. Figuren in einer Welt, in der Wirklichkeit und Traum, Körper und Seele, Vernunft und Irrsinn miteinander streiten, bevölkern immer wieder die Bilder Ensors. Alle haben Angst vor dem Tod und erinnern zugleich daran, dass jedes Lebewesen zum Sterben verdammt ist. Die Grenzen zwischen Realem und Surrealem sind aufgehoben. In dem Bild Der Tod verfolgt die Menschenherde (1896) schwebt ein die Sense schwingendes Skelett über der in Panik flüchtenden Menschenmenge, in die sich auch die Boten des Todes gemischt haben. Über den Dächern der Häuser tagt das Jüngste Gericht. Dieser Künstler, der wohl an dem litt, was Freud eine „Zwangsneurose mit Obsessionen“ genannt hätte, hat in seiner Malerei dem tiefen Unbehagen des modernen Menschen Ausdruck gegeben.

Die rohen Züge der Menge könnten leicht vergessen machen, wie geschickt und delikat Ensor mit Farbe umzugehen verstand. Man muss wohl zuerst einmal davon absehen, dass dies hässliche, bedrohliche Gestalten sind, um den Reichtum der Farben vollständig wahrnehmen zu können. Hierin liegt die Dialektik Ensors. Das wird an den raffiniert gemalten Stillleben besonders deutlich. Der Rochen (1892) wirkt nicht so bedrohlich wie die Menschenmenge. Die gedämpften Weiß- und Rot-Töne vermitteln eine kalte, glitschige Oberfläche. Neben dem Rochen eine Handvoll silbriger Sardinen und mittendrin die verkrustete Muschel mit dem Glanz eines Feueropals.

Noch einmal: Konfrontieren solche Bilder den Betrachter mit seinen eigenen Ängsten und können sie ihm helfen, sie loszuwerden, indem er sie mit dem Künstler teilt?

Titelbild

Inge Herold / Johan Holten: James Ensor.
Deutscher Kunstverlag, München 2021.
248 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783422986350

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