Ein weiter Blick zurück
Rebecca Tschümperlin stellt „Erzählungen vom Anfang der Geschichte in illustrierten Handschriften der Weltchroniken Rudolfs von Ems, Jans’ von Wien und des sächsischen Anonymus“ vor
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuch wenn mitunter nicht ganz grundlos über Tendenzen zur ‚Geschichtsvergessenheit‘ beziehungsweise das bisweilen nur wenig ausgeprägte Interesse an historischen Ereignissen und Abläufen geklagt wird, kann dies doch nicht die ganze Wahrheit sein. Und das gilt sicherlich vor allen Dingen für die Frage(n) nach den Ursprüngen der Welt – wobei hier dann eher naturwissenschaftliche Aspekte im Fokus stehen.
Dass es letztlich ‚nichts Neues unter der Sonne‘ gebe, ist eine ebenfalls nicht neue Feststellung, die gleichwohl nicht von der Hand zu weisen ist. Dass sich bei gleichen oder zumindest ähnlichen Fragestellungen im Lauf der Zeit Erwartungen wie auch Antwortmethoden geändert haben, lässt sich nicht leugnen; dies wird auch im vorliegenden Buch mehr als deutlich. Denn wenngleich die von Rebecca Tschümperlin in den Blick genommenen (wie auch andere, in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigten) mittelalterlichen Chroniken in gewisser Hinsicht durchaus mit Fernsehformaten wie Terra X vergleichbar sein mögen, so sind die konkreten Inhalte doch ganz andere. Wo gegenwärtig etwa mit den Phänomenen Urknall und Evolution operiert wird, beziehen sich die in besagten Chroniken beschriebenen Ereignisse ganz auf die biblische Überlieferung. Interessant waren somit vor allem der Schöpfungsprozess, der Sündenfall, die Tötung Abels durch Kain und die Sintflut. Elemente also, anhand derer sich alle weiteren Ereignisse in biblisch-christlichem Sinne ableiten und erklären ließen.
Die Verfasserin stellt diese Überlieferungen in den Fokus und analysiert neben den Prologen und allen sich auf die poetologischen Aspekte beziehenden Aussagen auch die Intentionen derjenigen, die die jeweiligen Chroniken verfasst haben. Dabei scheinen Akzente auf, die uns aus der Gegenwart geläufig sind. Es sind die Fragen nach Eigen- und Fremdverortung in einer Welt, die – und das gilt auch für unsere Zeit – allenfalls in bestimmten Phänotypen erkennbar erscheint, die doch nur Segmente des Großen und Ganzen abzubilden vermögen. Bemerkenswert daran ist zunächst schon allein der Aspekt einer Art von Überzeitlichkeit der Fragestellung, der aber mit einschließt, dass gültige Antworten nach einer über die jeweilige Gegenwart hinausweisende Sinnhaftigkeit des Daseins – sowohl was die Welt als Ganze als auch die Menschen als Einzelne betrifft – offenkundig eine Konstante menschlicher Kultur zu sein scheinen.
Überzeitlich wirkt ebenfalls, zumindest im Idealfall, die Verbindung von den (vermuteten) Ursprüngen und Urgründen mit der eigenen Gegenwart, die sich in den von Tschümperlin untersuchten Zeugnissen neben der textlichen Darstellung auch in den begleitenden Illustrationen erkennen lässt. Dass die drei ausgewählten Beispiele, eben die Weltchroniken Rudolfs von Ems, Jans’ von Wien und des sächsischen Anonymus, zu den prominentesten Texten der Gattung gehören, macht sicherlich einen großen Reiz der Publikation aus, die ein Ergebnis des Promotionsverfahrens der Autorin darstellt.
Zunächst zeigt Tschümperlin in einer knappen, aber zielführenden Einleitung die Rahmenbedingungen respektive ‚Leitplanken‘ ihrer Publikation auf. Dabei arbeitet sie sich von der Metaebene, die in der Frage nach dem Interesse an und der Bedeutung von einer solch fundamentalen Frage wie der nach der Entstehung dieser Welt besteht, zu eher pragmatischen, sachbezogenen Aspekten weiter. Hier geht es zunächst um die Textkorpora sowie um das Herangehen an diese, dann um eine theoretische Grundlage einer Analyse der illustrierten Handschriften. Diese Untersuchungen werden jeweils in die beiden Großpassagen „Text“ sowie „Bild und Text“ unterteilt, sodass nicht nur eine erkennbare Struktur zugrunde liegt, sondern auch eine Referenz des Vorgehens, die es ermöglicht, zumindest die Überlegungen der Verfasserin nachzuvollziehen, das heißt, wesentliche Pfeiler des Vorgehens, Gemeinsamkeiten und Unterschiede und damit das grundsätzliche Anliegen auch der mittelalterlichen Verfasser zu erkennen.
Dass die Weltchronik des Rudolf von Ems an den Anfang der einzeltextlichen Untersuchungen gestellt wird, ist allein schon wegen der Bedeutung des Autors naheliegend. Darüber hinaus ist es aber auch so, dass der Aufbau der Rudolf’schen Weltchronik insofern archetypisch für die Gattung ist, als hier die historische Ereignisbeschreibung mit biblischer Offenbarung kombiniert respektive Letztere zur Grundlage der Phänomene der Ersteren gemacht wird. Tschümperlin zeigt die Interdependenzen zwischen biblischer Grundlage und weltlicher Ereignisgeschichte im Werk Rudolfs auf und macht somit dessen Gedankengebäude transparent und nachvollziehbar. Dabei weist die Autorin darauf hin, dass Rudolf nicht allein die Bibel als Quelle heranzieht, sondern – wo diese zu ‚dünn‘ ist – auch außerbiblische Quellen benutzt. So wird etwa Flavius Josephus direkt, Homer durch Exzerpte verschiedenster Homeradaptionen zur Basis der entsprechenden Textpassagen der Weltchronik gemacht. Allerdings, das ist dem tragenden Konzept geschuldet, werden diese Quellen auch ein Stück weit relativiert, indem hier regelmäßig der Begriff fabīl Verwendung findet, der eben von der Wahrheit der biblischen Aussagen abzugrenzen ist.
Dabei liegt die Zielsetzung eindeutig in der Anbindung nicht nur der allgemeinen Ereignisgeschichte an die theologische Basis, die auf der Weltschöpfung und den daran anschließenden heilsgeschichtlich relevanten Positionen beruht, sondern explizit der seinerzeitigen Gegenwart – also das somit quasi als Fortsetzung der biblischen Regenten interpretierte staufischer Herrschertum. Das Ganze geht sogar so weit, darauf weist Tschümperlin explizit hin, dass Rudolf von Ems sich durch die Erstellung seiner Weltchronik gewissermaßen in die Position eines „Schöpfers en miniature“ begibt, was wiederum dem Bereich der Blasphemie zumindest gefährlich nahekommen könnte, wäre da nicht die Bitte Rudolfs, Gott möge ihm wegen eben dieser den ewigen Seelenlohn gewähren.
Da es der Autorin nicht allein um die textliche Überlieferung zu tun ist, sondern auch die Frage der bildlichen Darstellungen von Relevanz ist, wird diese beispielhaft am Weltchronik-Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek (Cgm 8345) in den Blick genommen. Hierbei werden Einzelaspekte exemplarisch untersucht. Die Stringenz der textlichen Grundlage findet etwa ihre Fortsetzung in den Illustrationen, die damit nicht nur umrahmenden, sondern auch erläuternden Charakter haben. Eines der angeführten Beispiele ist die Darstellung der Bekleidung: Charakteristisch für das ausgewählte Brudermord-Motiv, also Kain und Abel, ist, dass der Missetäter Kain nur einen etwa knielangen Mantel oder dergleichen trägt, während Abel mit einem bis zu den Füßen reichenden Gewand bekleidet ist. Diese zu- beziehungsweise einordnende Gegenüberstellung weist Tschümperlin auch noch bei anderen Kontra-Paaren nach, sodass sich ein schlüssiges Text-Bild-Korrelat ergibt.
Jans von Wien beruft sich in seiner Weltchronik ebenfalls auf die Heilige Schrift, erscheint aber insofern ‚moderner‘, als andere Quellen nicht nur verwendet, sondern zumindest im Groben belegt sind. Damit scheinen im Ansatz Kriterien auf, die den heutigen Anforderungen an wissenschaftliche Texte entsprechen. Aber der Chronist bezieht sich nicht nur auf schriftliche Überlieferung, sondern greift mitunter auch auf mündlich tradiertes Material zurück. Dass dies ausgerechnet bei einer schriftaffinen Gruppe wie den Juden immer wieder explizit erwähnt wird, mag auf den ersten Blick verwundern, könnte aber damit zusammenhängen, dass die dort tradierte Schrifttradition von Thora-Überlieferung bis Haggadot und Ähnlichem Außenstehenden nicht zugänglich war, mündliche Informationen hingegen durchaus weitergegeben werden konnten.
In stärkerem Maße, als das bei Rudolf erkennbar ist, scheint Jans ein (imaginiertes?) Publikum in seinen Textentwurf integriert zu haben, sodass mitunter der Eindruck eines fiktiven Dialoges entsteht, zumindest aber virtuell die erwarteten Reaktionen des (fiktiven) Publikums beschworen werden. Dass der Sturz der gegen Gott revoltierenden Engel gewissermaßen in die Entstehung von Tradition und Kultur involviert, womöglich sogar ein wesentlicher Katalysator von ihnen ist, mutet von der Argumentation her einleuchtend und erstaunlich zugleich an. Und es werden mitunter auch recht eigenwillige theologische Entwürfe erkennbar: Im Kontext der Sintflut-Erzählung, die ja ein Ereignis beschreibt, das die Verworfenen tilgen soll und mit ihnen die Sünde selbst, wird – außerbiblisch – überliefert, dass der erzürnte Patriarch einen seiner saumseligen Söhne anherrscht: ginc, tiufel, drât dar in! Dies ist eine mehrfache Brechung; die Verfasserin weist zum einen auf das Irritierende des Fluchs an sich, aber zum anderen auch auf die Möglichkeit, dass – in einer zweiten Bedeutungsebene – der Leibhaftige tatsächlich an Bord der Arche gegangen ist. Damit wird quasi en passant erklärt, warum die radikale Reinigung der Menschheit durch die ‚Sündenflut‘ letztlich erfolglos blieb: Eben weil der Teufel mit an Bord kommen konnte.
Auch die hier untersuchte Handschrift ist illustriert, und dies in so reichhaltigem Maße, dass noch deutlicher als bei Rudolf von Ems das Bild, wenn schon nicht als gleichwertiges, so doch zumindest notwendiges Medium einbezogen ist. Auch hier rekurriert Tschümperlin auf die Bilddarstellung des Brudermordes der Frühzeit, aber eben auch auf den Engelssturz, der über mehrere ‚Stationen‘ hin visualisiert wird. Dies und vor allem eine umfangreiche Darstellung der Ereignisse um die Sintflut zeigen, dass diese Handschrift (Regensburg, Hofbibliothek Fürst Thurn und Taxis, Ms. Perg. III) einen starken Korrespondenzcharakter zwischen Text und Bild aufweist.
Die anonyme Sächsische Weltchronik, das erste deutschsprachige Prosawerk, das von der Schöpfung bis zur Entstehungszeit des Textes reicht, schließt die hier untersuchte Trias ab. Obgleich anonym, lässt sich sowohl anhand des Sprachduktus als auch angesichts von Formulierungen wie etwa we gestelike lude, de gesteliken lesen solen vermuten, dass der Verfasser dieser Chronik Kleriker gewesen ist. Die Heranziehung mannigfacher Quellen – so etwa der Chronik Frutolfs von Michelsberg – weist ebenfalls in diese Richtung. Anliegen des Anonymus scheint es einerseits gewesen zu sein, geistliches Lehr- und Gedankengut zu übermitteln, andererseits politische Herrschaft zu erklären und diese letztlich auch zu legitimieren. Damit ist ein Aspekt von herrscherlicher Sinnstiftung angerissen, der einerseits modern anmuten mag, anderseits wegen seiner explizit biblisch-heilsgeschichtlichen Züge gegenwärtig wohl doch befremdet. Es geht dem anonymen Verfasser um das Finden der Wahrheit, die angesichts diverser weltlicher Ablenkungen im Vollsinne nur durch das Sich-Einlassen auf die nicht heterodoxe, biblisch-kirchliche Überlieferung greifbar gemacht werden kann.
Auch die Sächsische Weltchronik dient in ihren Beschreibungen einem höheren Zweck. Hier hat die Autorin mit dem Exemplar der Gothaer Forschungs- und Landesbibliothek (Ms. Memb. N90) ein weiteres illustriertes Werk herangezogen, dessen Bilder gut mit dem im Schrifttext Übermittelten korrelieren und das Ganze zu einem Gesamtkunstwerk veredeln. Drei Themenfelder werden von Tschümperlin als unabdingbar in den Blick genommen: die Schöpfung, Kain und Abel sowie die Sintflut. Damit ist, zumindest was die Ernsthaftigkeit dieser mittelalterlichen Publikation angeht, wiederum das Verwoben-Sein von Sakral- und Säkulargeschichte nicht nur programmatisch, sondern im wahrsten Wortsinne deutlich erkennbar – beziehungsweise wird es eben durch diese Verbindung aus Text und Bild erkennbar gemacht.
Dies gilt für alle dieser Chroniken, deren Verfassern es darum zu tun war, Erklärungen für elementare gesellschaftliche Fragen zu finden. Mit der Verknüpfung von textlichen wie bildlichen Darstellungsformen wurden diese beziehungsweise die ungewollt damit einhergehenden Phänomene in das Gesamtkonzept göttlicher Schöpfung, also in den Kontext von Heilsplan und Weltgeschichte, gestellt.
Um ein vielleicht mittlerweile etwas aus der Mode gekommenes Motto zu zitieren: Das vorliegende Buch ist klein, aber fein. Das heißt, es wird dankenswerterweise auf das ‚Schinden‘ von Seitenzahlen verzichtet, was sich bisweilen bei vergleichbaren Publikationen beobachten lässt. Stattdessen wird das Thema, trotz seines nachgerade weltumspannenden Ausmaßes, klar auf den Punkt gebracht. Und da bei der Untersuchung Text und Bild in den Blick genommen werden, ist es nur konsequent, das Ganze mit einem Abbildungsteil abzurunden. Dieser umfasst knapp zwanzig Seiten, und die jeweiligen Darstellungen sind alle in Farbe gehalten, wobei die Darstellungen zur Weltchronik Jans von Wien zwar an Zahl überwiegen, aber bedauerlicherweise sehr klein gehalten sind. Demgegenüber sind die Weltchronik des Rudolf von Ems und die Sächsische Weltchronik mit einer geringeren Zahl von Abbildungen vertreten, die dafür dann deutlich größer gehalten sind. Das soll aber keinesfalls mehr als ein Detailhinweis sein, der den positiven Gesamteindruck nicht zu schmälern vermag.
Ein bibliographischer wie ein Registeranhang runden das Buch ab, das einerseits Neues bringt (und sei es auch ‚nur‘ in Form von Verknüpfungen loser Wissensfadenenden), andererseits aber auch nicht mit der marktschreierischen Botschaft einhergeht, exklusiv das vorher nie Gedachte und Geschriebene zu verkünden. Insgesamt hat Tschümperlin ein lesenswertes Buch vorgelegt, das vor allem das Interesse an einer weitergehenden Beschäftigung mit mittelalterlichen Weltchroniken zu wecken vermag.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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