Porträt einer Epoche in Klangstücken

Rüdiger Görner widmet sich in seinem Buch der „Romantik“ als einem europäischen Ereignis

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Aktualität der Romantik ist ungebrochen, was unter anderem die Eröffnung des Deutschen Romantik-Museums in Frankfurt am Main im September 2021 eindrucksvoll belegt. Mit innovativen Ausstellungsformen wird am Großen Hirschgraben die Romantik als eine Schlüsselepoche erfahrbar gemacht, im Dialog mit dem benachbarten Goethe-Haus werden Manuskripte, Graphiken, Gemälde und Gebrauchsgegenstände gezeigt, Ideen, Werke und Personenkonstellationen multimedial präsentiert. Der Architekt des Romantik-Museums, Christoph Mäckler, hat die Symbolik der Epoche in gebaute Formen übertragen, so zum Beispiel mit der „Himmelstreppe“ oder einem blau verglasten Erker. „Das Haus ist unser erstes und wichtigstes Exponat“, erklärt Anne Bohnenkamp-Renken, Literaturprofessorin und Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts. Im Museums-Shop können Besucher:innen zum Preis von 8,50 Euro „Blaue Blume“-Saatkugeln, eine „blau blühende Mischung aus 24 verschiedenen Blumenarten“, käuflich erwerben: „Es geht um Phantasie. Bauen Sie mit uns das Deutsche Romantik-Museum“.

Wieso, so mag man sich fragen, reißt die Aktualität, das Aktualitäts-Potenzial, dieser nunmehr über 200 Jahre zurückliegenden Epoche nicht ab? Worin gründet ihre nicht nachlassende Faszination? Was ist so aktuell an der Romantik, dass es sie die Zeitläufte so unbeschadet überstehen lässt?

Dieser Frage spürt der im Jahr 2016 für sein Lebenswerk mit dem Reimar Lüst-Preis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ausgezeichnete Rüdiger Görner, Professor für Neuere Deutsche und Vergleichende Literatur an der Queen Mary University of London, nach. Virtuos zeichnet er in zehn Kapiteln, gerahmt von „Préludes mit weiblicher Note“, „Aprèslude“ sowie einem ausführlichen Anmerkungsteil und Literaturverzeichnis, ein so detailgenaues wie fülliges Bild der an Facetten und Perspektiven reichen Epoche. Den „Zweck“ seines Buches sieht er darin, seiner Leserschaft eine „Annäherung an das Langzeitereignis ‚europäische Romantik‘“ zu ermöglichen. Man könne es sich am sinnfälligsten als „einen dunklen Kristall“ vorstellen, der 

an diversen Stellen blitzartig alle nur denkbaren Farben funkeln lässt, Töne von sich gibt, aromatisch angereicherte Wörter freisetzt, Gerüche von sich gibt und zum Betasten einlädt.

Diese Zeilen veranschaulichen die Verschmelzung von Inhalt und Form, Gegenstand und Methode: Dem synästhetischen, die Sinne miteinander verschmelzenden Phänomen Romantik nähert Görner sich metaphorisch gleichsam alle „Sinne“ gebrauchend (und dabei ein enges, rein begriffliches Korsett sprengend) an und verdeutlicht damit das innige, ja intime Verhältnis eines Autors zu (s)einem Sujet.

Souverän führt der Autor zahlreicher Biographien und literaturgeschichtlicher Sachbücher seine Leser:innen durch die weiten, phantastischen Landschaften jener schillernden Epoche, deren Stärken sowohl im Theoretisch-Reflexiven als auch im Imaginär-Fiktionalen liegen. Romantik, bemerkt Görner, „das ist die Musik der Nacht und der lichte Einblick in die Beweggründe menschlichen Handelns“. Romantik stehe für die Verschmelzung von Land und Stadt, für ein Denken in Form von sich öffnenden Horizonten und Abgründen. Romantik bedeute vorweggenommene Moderne und nachgeholtes Mittelalter. Sie spreche sich aus in einer radikalen Ästhetisierung der Lebenserfahrung wie in einer Europäisierung der politischen Diskurse — „Europäischer gestimmt war man nie als in der (frühen) Romantik“ —, bei gleichzeitiger Nationalisierung des Denkens.

Etwas sich Entziehendes, Schwebendes, Fließendes haftet dieser Epoche an, die auf Universalität zielte und gleichzeitig das Fragment als Darstellungsform nobilitierte. Sinnenfroh und morbide zugleich zeigt sich die Epoche, „dem Leben zugewandt und dabei todessüchtig“. Noch Thomas Mann sollte sich einen Weg von der „Todesromantik“, der „Sympathie mit dem Tode“, hin zu einem „Lebensja“ erkämpfen müssen, ein Kampf, den der Autor seinen Protagonisten Hans Castorp im „Schnee“-Kapitel des Romans Der Zauberberg symbolisch durchlaufen lässt: „Ich will dran denken […] Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“; ein Weg, der seinen Autor von einem apolitischen, dekadenten Ästhetizismus zu einem (politischen) Humanismus führte.

Begründet in unvermeidlichen inneren Widersprüchen, bemerkt Görner, wohne jeder Epoche ihre eigene Spielart der Dialektik inne. Im Falle der Romantik komme aber hinzu, dass sie sich von Anfang an diesen inneren Widersprüchen gestellt, diese thematisiert und als Teil ihrer Vielfalt zur Geltung gebracht habe: „Die inneren Vielfältigkeiten verstanden Romantiker wirkungsvoll aufeinander zu beziehen und in ihrer Wechselseitigkeit fruchtbar zu machen“. Entsprechend will Görner die Dialektik zu einer immanenten „Pluralektik“ erweitert wissen, die in den an der Romantik beteiligten Kulturen erkennbar gewesen sei. Gerade darin zeige diese Epoche sich uns als „ein europäisches Ereignis von bleibendem Wert“.

„Man muss eine poetische Welt um sich her bilden und in der Poesie leben“, forderte Novalis. Hier zeigt sich die Hochschätzung, ja Inthronisierung der Einbildungskraft als des zentralen und motivierenden Moments des kreativen Schaffens einer Epoche, die eingehend über das Wesen des Künstlerischen reflektierte. Görner beschäftigt sich ausführlich mit der romantischen Thematisierung der Künstler-Kunst-Problematik, mit den romantischen „Nachtwelten“ und „andere[n] — auch theroetische[n] — Kunsthorizonte[n]“. 

Nach Friedrich Schlegel sollte die Kunst mit einem kritischen Interesse verbunden und zugleich durch das freie Spiel der Phantasie als Hauptkraft im Schaffensprozess auf originelle Weise bereichert werden. 

Die Romantik ist eine herausragende Epoche, wenn es um die Auseinandersetzung mit Fragen einer Ästhetik des Erfindens und der Imagination, der Einbildungskraft im künstlerischen Schaffensprozess, der schöpferischen Phantasie des Künstlers geht. Die Einbildungskraft – von Charles Baudelaire, dem „Schwarzen Romantiker“, in Der Salon 1859 als die „Königin der Fähigkeiten“ verehrt – vereint Analyse, Synthese, Sensibilität und Sittlichkeit. Imagination als schöpferische Einbildungskraft umfasst den kritischen Geist mit, ist eine Kardinaltugend und ein Schlüsselbegriff im kunst- und literaturtheoretischen Denken. Baudelaire zufolge hat sie den Menschen „die sittliche Bedeutung der Farben, Klänge, Düfte gelehrt“, Analogie und Metapher, ja sogar die Welt geschaffen, an deren Anfang sie steht. Auch mit der „Nachtseite der Natur“ zeigt sie sich auf das Engste verwoben.

So kenntnisreich wie kurzweilig wirft Görner einen genre-übergreifenden Blick auf die zentralen Themen, Motive, Personen und Begriffe der europäischen Romantik. Eigene Kapitel beschäftigen sich mit dem romantischen Ballett als symbolischer Kunstform und der „romantische[n] Sprache der Musik, literarisch gehört“.

Ein abschließendes Urteil über das, was die Romantik „denn ‚wirklich‘“ sei, könne es nicht geben, summiert er. Ihr ganzes Wesen entzieht sich in seiner Offenheit, seinem Schwebenden und Unbestimmten, in seiner Komplexität und seinem Vorwärtsdrang einer begrifflichen Einengung und Festlegung. Ihrem grenzenlosen, auf die Unendlichkeit gerichteten Charakter widerspricht jegliche Form der Definition, respektive Begrenzung. 

In Form des „‚romantischen‘ Gefühls“, so Görner, stille die Romantik offenbar ein menschliches Grundbedürfnis, was gerade in Zeiten fortschreitender Digitalisierung und Anonymisierung aufscheine: 

Dass das Romantische adaptierbar ist, scheinbar zeitlos, landschaftsorientiert, aber auch in urbanen Bezirken anzutreffen. Das Romantische entsteht in Projektionen; in manchen Fällen besteht es nur daraus.

Wie kaum eine andere Epoche, kaum ein anderes Stilgefühl, ist Romantik kommerzialisierbar. In allen Sinnen, in unserem Empfindungs- und Reflexionsvermögen, zu diesem Schluss gelangt Görner, wirke die Romantik nach: Denn sie habe durch all ihre Künste und wissenschaftlichen Leistungen, durch ihr kritisches Vermögen und poetisches Transformieren von Alltagserfahrungen eben diese Sinne und dieses Vermögen aktiviert, ja mobilisiert: „Und wozu? Um die andere Seite einer Kultur wirken zu lassen, die glaubt, in der vermeintlich ‚rationalen‘ Technisierung den Höhepunkt der Zivilisation erreicht zu haben“. Es brauche einem um die Zukunft der Romantik nicht bange zu werden, denn Zukunft selbst sei als Thema bereits wesentlich in ihr enthalten.

Das Kaleidoskopartig-Pluralektische ihres Erscheinungsbildes, die „farblichen Abstufungen und nuancierten Stimmungen“, prägen auch weiterhin unser Bewusstsein von der Romantik als „einem der reichhaltigsten und folgenreichsten europäischen Kulturphänomene der Neuzeit“; einem Kulturphänomen, das uns die Bedeutsamkeit des Visionären lehrt und uns so beharrlich wie eindringlich vor Augen führt, dass wichtiger denn je vielleicht dieses Hineinreichen, Ausgreifen, Entwerfen, Sich-Sehnen und Sich-Hineindenken in die Zukunft ist. Das verdeutlichen auf ihre Weise auch die „Worte des Dankes“ am Ende von Görners Buch: Die Arbeit an diesem habe ihm dabei geholfen, „die beklemmenden Erfahrungen während der Corona-Pandemie zu bestehen“. So bleibe sein größter Dank „der Romantik selbst“ vorbehalten: „dafür, dass es sie gab — als eine schöpferische Herausforderung für Geist und Gemüt“. Das Buch eignet sich sowohl für fachwissenschaftlich Interessierte, Student:innen der Literaturwissenschaft, wie auch für eine breitere, literarhistorisch interessierte Öffentlichkeit.

Titelbild

Rüdiger Görner: Romantik. Ein europäisches Ereignis.
Reclam Verlag, Stuttgart 2021.
360 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783150113257

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