Die wunderbare Intentionslosigkeit der Dinge

Überlegungen zu Okada Toshikis „Radiergummi-Berg“

Von Bernhard ScheidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Scheid

 

Eraser Mountain in Kyoto 2019, © Kōno Yurika

Radiergummi-Berg (Keshigomu yama, Eraser Mountain), das neueste Stück des japanischen Avantgarde-Theatermachers Okada Toshiki mit seinem EnsembleChelfitsch, entstand 2019, also unmittelbar vor Ausbruch der gegenwärtigen Pandemie, und wurde nach mehrfachen Verschiebungen im November 2021 im Rahmen der Wiener Festwochen erstmals auch in Europa aufgeführt. Okada selbst sieht dieses Stück als neuen Abschnitt in seinem Schaffen, der dem Versuch gewidmet ist, ein „nicht-menschliches Theater“ zu kreieren, das Dingen und Menschen gleichwertige Rollen zuschreibt. Es geht ihm dabei um die Überwindung des „Anthropozentrismus“ unserer derzeitigen Gesellschaftsordnung. Ganz offensichtlich ist damit eine künstlerische Antwort auf die Umweltfragen unserer Zeit intendiert.

Die Bühne

Dem Zuschauer fällt als erstes eine Bühne voll knallbunter objets trouvés ins Auge. Sie wurden vom bildenden Künstler Kaneuji Teppei ausgewählt und scheinen zum größten Teil aus einem Baumarkt zu stammen. Es sind solide, robuste Gegenstände aus homogenem Material, wie Rohre, Trichter oder Planen, deren genaue Verwendung sich dem Alltagswissen zumeist entzieht. Neben neongelben Tennis- und Volleybällen sind auch Geräte für andere, nur vage erahnbare Sportarten vorhanden und nicht zuletzt ein riesiges walzenförmiges Sieb, das, wie Okada in einem Publikumsgespräch mit verschmitztem Lächeln erklärte, bei der Ernte von Mandarinen zum Einsatz kommt. Es finden sich aber auch kleine Zierbrunnen und sorgfältig zurecht geschnittene Baumstämme, die in Hotelhallen oder Flughäfen zur Erzeugung einer kurzen Illusion von Naturbelassenheit genutzt werden könnten. Ihre sorgfältige Konstellation wird während des gesamten Stücks lediglich durch die Schauspieler — ein Ensemble von drei Frauen und drei Männern — durcheinander gewürfelt, wenn sie einzelne Stücke scheinbar ohne genauen Plan von einer Seite der Bühne zur anderen verfrachten. Während des gesamten ersten Teils ist der Zuschauerraum voll erleuchtet, sodass die Grenze zur Bühne beinahe aufgehoben scheint, doch die Schauspieler bewegen sich stets in einem relativ engen, von den Objekten vorgegebenen Rahmen. Schließlich ist auch eine Leinwand für die Untertitel ins Bühnenbild integriert. Dass man den Text gleichzeitig hören und in mehreren Sprachvarianten lesen kann, war schon bei der Uraufführung in Kyoto Teil des Konzepts.

Die Objekte kommen vor allem im fast einstündigen Schlussteil des Stückes zur Geltung: Die Schauspieler sind schon zuvor gelegentlich vor eine Kamera getreten, wodurch ihr Bild auf eine Leinwand in der Bühnenmitte projiziert wurde. Nun stellen sie nach und nach einzelne Objekte vor die Kamera oder posieren gemeinsam mit ihnen. Es geht, wie Okada im Nachhinein erklärte, darum, dass die Schauspieler gegenüber den Objekten „halbtransparent“ werden. Und in der Tat wirken die Objekte, sobald sie als Portraits in der Bühnenmitte repräsentiert werden, autonomer und selbstbewusster als die Menschen, die sie herangebracht haben.

Der Plot

In Teil 1 des Stückes geht es um eine kaputte Waschmaschine, die durch die Tatsache, dass sie nach 15 Jahren plötzlich ihren Dienst versagt, eine emotionale Krise auslöst. Soll man ein Stück, das einem in einer so langen Zeit ans Herz gewachsen ist, einfach entsorgen? Und wenn ja, wie? Es stellt sich heraus, dass alle Kunden einer lokalen Münzwäscherei aus dem gleichen Grund und ganz gegen ihre Gewohnheit gezwungen sind, ihre Wäsche hier zu waschen, nämlich wegen eines defekten „Flusensiebs“ ihrer jeweiligen Waschmaschine, das nicht mehr nachgeliefert werden kann. Absurde Situationen wie diese, die verschiedene Protagonisten in ähnliche, aber immer auch individuell variierte Verwirrungen versetzen und in an minimal music erinnernder Detailversessenheit abgehandelt werden, sind das Markenzeichen von Okadas Stücken. Erstaunlich ist, wie leicht sich solche scheinbar marginalen Problemchen in jede urbane Umgebung übersetzen lassen. „Sie kennen doch diese blaue IKEA-Tasche…“ Ja, wir kennen sie. In Teil 1 des Stücks begegnen wir uns selbst als Mitgliedern einer globalen Mittelklasse, die eher aus Ratlosigkeit als aus Überlebensnotwendigkeit Gegenstände rund um sich anhäufen, bis diese ein Eigenleben entwickeln und uns in unkalkulierbare Zwangslagen führen. Dabei übernehmen stets mehrere Schauspieler die Rolle eines Protagonisten und erzählen Szenen eher nach als sie zu spielen, doch scheinen sich unbewusste Emotionen in die Erinnerungen der Erzähler zu mischen und sie zu unwillkürlichen, repetitiven Reflexhandlungen zu nötigen. Die Körpersprache der Schauspieler wird auf diese Weise zu einem Kommentar, der die Erzählung jedoch nicht unmittelbar unterstützt, sondern den Zuschauer nach und nach in ein chaotisches Labyrinth widersprüchlicher Gefühle einwebt. Der monotone noise einer Waschmaschine, verstärkt durch eine knallrote Betonmischmaschine erzeugt eine weitere Dimension dystopischer Verlorenheit.

Teil 2 setzt diese zwischen Alltäglichkeit und Absurdität angesiedelten Szenen fort: in einem Park stößt ein Protagonist auf ein Objekt, das nur aus Löchern unterschiedlicher Größe besteht. Doch dann weicht Okada von seiner üblichen Beschränkung auf Alltägliches und scheinbar Banales ab: Das Objekt entpuppt sich als „Zeitmaschine“. Der Begriff gibt Okada die Gelegenheit für einen Abstecher in die Science-Fiction und verbindet sich zugleich mit paranoiden Verschwörungsängsten. Wenn es Zeitmaschinen gibt, könnte es auch Menschen aus der Zukunft geben, welche die Gegenwart zu ihren Gunsten beeinflussen. Gewisse Teile der Regierung lassen es zu, dass sich Zukunftsmigranten bei uns einnisten und ihre Interessen durchsetzen. Das muss mit allen Mitteln verhindert werden! Dann übernimmt eine per Video eingeblendete Figur das Wort, die eben dieser Zukunft zu entstammen scheint. Sie erklärt einer Versammlung futuristisch gekleideter Wesen, dass das größte und vielleicht einzige Problem der Menschen die Zeit gewesen sei. Dass sie der Zeit unterworfen gewesen seien. Das sei schwer zu begreifen, denn wie solle man sich „Zeit“ vorstellen? Aber man müsse akzeptieren, dass das der Zeit Angehören das eigentliche Problem der Menschen war.

Teil 3 versetzt uns zunächst wieder in die Gegenwart zurück: Ein Schauspieler mit Megaphon hält einen längeren Monolog. Ohne dass ein einziges konkret politisches Statement abgegeben wird, dekliniert er dabei paranoide Ängste und Phantasien durch, die heute weltweit zum Anstieg rechtsradikaler Populismen führen: Leute, die „smarter“ und „flexibler“ als wir sind, lassen es zu, dass „Neuankömmlinge“ größere Beachtung erhalten als wir! Diesem hektisch-aggressiven Auftakt folgt als Kontrapunkt eine lange elegische Beschreibung eines posthumanen Zeitalters, in dem sich Pflanzen, Tiere und Dinge ihre Rechte auf eigenzeitliche Entwicklung zurückerobert haben, „ohne dass es ein Publikum gab“. Selbst der Autor wird ausgeblendet, denn sein Computer friert ein und der Bildschirm wird pechschwarz. Damit endet das Stück.

Radiergummi?

Okadas Idee eines nicht-menschlichen Theaters, das den „Dingen“ ihren eigenen Raum lässt, resultiert nach eigenen Worten aus seiner persönlichen Erfahrung in Rikuzen Takata, dem am stärksten von der Dreifachkatastrophe 2011 verwüsteten Ort in Nordjapan. Hier wird zum Schutz vor zukünftigen Tsunamis der Boden entlang der Küste um bis zu zwölf Meter angehoben, was zum Abtragen eines ganzen Berges in der näheren Umgebung führte. Bei Okada stellten sich jedoch Zweifel ein, ob derartige Maßnahmen „erlaubt“ bzw. auf längere Frist tatsächlich sinnhaft wären. Er sieht hier einen Anthropozentrismus (ningen chūshinshugi) am Werk, den er eher für das Problem als die Lösung gegenwärtiger Umweltfragen hält. Der Titel Radiergummi-Berg ist eine Referenz an diesen zugunsten des Wiederaufbaus ausradierten Teil der örtlichen Landschaft.

Das Originelle an Okadas Herangehensweise an die „Dinge“ besteht darin, dass er sich dabei nicht des bekannten Repertoires vermeintlich naturnaher Objekte bedient und alles Technische aus seiner Inszenierung verbannt, sondern ganz im Gegenteil Objekte eines hypertechnisierten Alltags um die Schauspieler versammelt, diesen Dingen aber eine neue Rolle zuweist, sodass sie aus ihrer rein zweckbestimmten, dienenden Funktion heraustreten. Es geht also weder um die viel diskutierte Beziehung „Mensch–Natur“, noch um die Beziehung „Mensch–Maschine“, sondern eher um die Beziehung „Mensch–Objekt“, wobei Objekte eben auch — und bei Okada/Kaneuji sogar ausschließlich — vom Menschen selbst hergestellte Produkte umfassen. Das Ausradieren wird dabei zur Chiffre für einen anthropozentrischen Umgang mit den Dingen und zugleich ist der Radiergummi selbst ein Ding, das üblicherweise nur zweckorientiert betrachtet wird. Insofern ist die „Radiergummi-Botschaft“ doppeldeutig.

Man kann das Stück durchaus als eine Aufforderung interpretieren, sich die eigenen Produkte genauer anzusehen und seinen Lebensrhythmus den von diesen Dingen ausgehenden Eigengesetzlichkeiten anzupassen. Ist die in Teil 1 angedeutete Lebensgemeinschaft mit einer ausrangierten Waschmaschine daher mehr als ein ironischer Kommentar zu einer post-konsumistischen Gesellschaft, vielleicht sogar ein ernst gemeinter Vorschlag für einen neuen Lebenstil? Das Stück beantwortet diese Frage nicht direkt, aber die durchaus sakralen oder vielleicht besser meditativen Anklänge im Schlussteil legen eine solche Interpretation nahe. Dennoch geht es Okada wahrscheinlich nicht darum, den Dingen Rechte zuzuerkennen, sondern eher sichtbar zu machen, wie viele Rechte die Dinge in unserm Dasein bereits haben. Allerdings behält Okada die für ihn typische flapsig-ungenaue Alltagssprache (die von Andreas Regelsberger sehr überzeugend in einen adäquaten deutschen Jargon übertragen wurde) bis zum Schluss bei und legt sie auch den göttlichen Wesen der Zukunft in den Mund, wenn sie über „Zeit“ rätseln. Okadas Lieblingswort ist auch in diesem Stück „obwohl“ (kedo), Gewissheit ist hier nicht zu erlangen. Höchstens ein tröstliches Moment, das aus der allmählichen Befreundung von Objekten mit den Schauspielern und Zuschauern gewonnen werden könnte.

Mitgefühl mit den Dingen

Dass das Stück im Schlussteil Längen und im Unterschied zu früheren Chelfitsch-Auftritten fast so etwas Pathos aufweist, muss auch ich als großer Bewunderer von Okadas bisher in Wien gezeigten Produktionen zugeben. Was mir als religionswissenschaftlich arbeitendem Japanologen jedoch auch diesmal großes Vergnügen bereitet hat, sind die zahlreichen Anklänge an traditionelle Themen und Motive der japanischen Kunst, die vollkommen mühe- und schwerelos in ein zeitgemäßes Setting übernommen werden.

Eine recht naheliegende Assoziation sind z.B. die sogenannten tsukumogami, also Geister, die aus alten abgenützten Gebrauchsgegenständen entstehen. Sie begegnen uns vor allem in Gespensterdarstellungen der Edo-Zeit (17. bis 19. Jh.), den „nächtlichen Paraden der hundert Dämonen“ (hyakki yagyō), die aus zerschlissenen Haushaltsgeräten bestehen. Der gängigen Erklärung zufolge erwerben Gebrauchsgegenstände, die hundert Jahre überdauert haben, eine Seele, die sie befähigt, nachts als Gespenster ihr Unwesen zu treiben. Kaneujis visuelles Ensemble kann vielleicht als eine solche Parade angesehen werden.

Parade der Hundert Geister (Hyakki yagyō) nach einer Vorlage aus dem 16. Jh., Wikimedia Commons

Doch Okadas neue Aufmerksamkeit für „Dinge“ geht zweifellos über die eher harmlosen tsukumogami hinaus. Ein weiterer, möglicherweise gar nicht bewusst rezipierter Einfluss könnte traditionellen Konzepten wie dem mono no aware, dem „Mitgefühl mit den Dingen“, geschuldet sein. Die traditionelle japanische Literaturkritik (die ihrerseits im Nativismus, kokugaku, des 18. und 19. Jahrhundert wurzelt) beschreibt mit diesem Begriff die Fähigkeit der dichterischen Sprache, den emotionalen Gehalt von „Dingen“ erfahrbar zu machen. Natürlich sind hier traditionellerweise nicht die Objekte eines Baumarkts gemeint, sondern eher fallende Blüten und fließendes Wasser, doch in gewisser Weise kann Okadas Theater der Dinge als eine Übertragung des mono no aware-Konzepts in eine konsumistische Warenwelt gelesen werden.

Dass „Dinge“ in der traditionellen japanischen Kultur eine eigene Wertschätzung erfahren, wurde vielleicht immer schon durch eine semiotische Besonderheit des Japanischen verstärkt: das landläufige Wort für „Ding“, mono, hat auch die Bedeutung „Person“ (wird heute allerdings mit einem anderen Schriftzeichen geschrieben). In Worten wie bakemono, wtl. „verwandeltes Ding“, überschneiden sich diese Begriffsinhalte aber, denn dieses Wort ist die allgemeine Bezeichnung für Gespenster, die natürlich nicht nur aus verwandelten Gegenständen, sondern in erster Linie aus „verwandelten Personen“, nämlich Totengeistern bestehen. Japanischen Volkskundlern wie Oka Masao (1898–1982) zufolge, muss es im japanischen Altertum eine Zeit gegeben haben, wo auch Gottheiten oder Geister neben dem heute üblichen „kami, als „mono bezeichnet wurden. Die Bedeutung lebt unter anderem im Namen der Gottheit Ō-mono-nushi, „Großer Herr der mono“ (Hauptgottheit des alten Ōmiwa Schreins), weiter fort. Man kann also vermuten, dass das Wort mono ursprünglich eine noch umfassendere Bedeutung hatte als heute, indem es Geister, Menschen und Dinge in einer Kategorie zusammenfasste. Hingegen ist der Gegensatz zwischen Mensch und Ding in allen europäischen Sprachen allein schon im Begriff „Gegen-Stand“ (oder „Ob-jekt“, das „entgegen Geworfene“) festgeschrieben. Der altjapanische, umfassende mono-Begriff, dem sich Okada in seinem zivilisationskritischen Konzept eines „nicht-menschlichen Theaters“ erneut anzunähern scheint, wäre dagegen am besten als „Mit-Stand“ oder „Konjekt“ zu übersetzen.

Die gleichzeitige Verdinglichung von Menschen und Vermenschlichung von Dingen erinnert, wenn sie wie im Schlussteil von Keshigomu-yama als quasi-meditative Übung gepflegt wird, zu guter Letzt an das buddhistisch-daoistische Konzept von mui, das Ideal der Intentionslosigkeit. Ist es nicht eigentlich das intentionslose Sein der Dinge, das Okadas mono no aware ausmacht? Wenn Okada uns mit von uns selbst erschaffenen Dingen konfrontiert, die uns helfen sollen, unser größtes Problem, nämlich das der Zeit Unterworfensein (Anklang an das buddhistische samsara?), zu überwinden, so führt er uns letztlich auf ähnliche Wege, wie sie vor ihm bereits zahllose Weise der asiatischen Welt als Praxis formuliert haben: das sich Loslösen von „weltlichen Begierden“ und gesellschaftlichen Abhängigkeiten. Ob dies als dramaturgisches Konzept aufgeht, kann ich nach ersten Eindrücken des meditativen Abgesangs von Keshigomu-yama noch nicht mit Sicherheit behaupten. Doch der Vorwurf der Substanzlosigkeit, der in ersten Reaktionen der österreichischen Presse vorherrscht, ist eigentlich nur als unreflektierter Widerstand gegen Okadas Auflösung der „Mensch/Gegen-Stand“ Hierarchie zu bewerten.