Die verschwiegene Geschichte der „japanischen“ Mutter

Stephan Thome begibt sich mit seinem Roman „Pflaumenregen“ auf die Suche nach einer Familiengeschichte in ‚seinem‘ in Europa unbekannten Land

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem deutschsprachigen Lesepublikum ist Taiwan trotz der in der Presse häufig erwähnten politischen Spannungen zwischen der Volksrepublik China und Taiwan oder der Werke von Thilo Diefenbach Kriegsrecht: Neue Literatur aus Taiwan (2017) bzw. Jade Y. Chen Die Insel der Göttin (2008) immer ein relativ unbekanntes Land geblieben. Der Literaturkritiker Andreas Platthaus hat in der FAZ vom 12.10.2021 darauf hingewiesen, dass taiwanische Literatur bis heute kaum ins Deutsche übersetzt worden ist. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es viele Beispiele gibt, die aufgrund des Gebietsanspruchs Chinas auf Taiwan und den damit verbundenen verbalen Androhungen von Repressionen seitens der Volksrepublik von einer Übersetzung taiwanesischer Werke absehen.

Umso begrüßenswerter ist der Versuch des seit 12 Jahren in seiner Wahlheimat Taiwan lebenden Stephan Thome, der in einem Roman von den frühen vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 2016 taiwanesische Geschichte in ihrer Verflechtung mit Japan und China, am Beispiel der Lebensgeschichte von Umeko, dem „Pflaumenkind“, als achtjährige junge Frau sowie als alte Frau (der Mutter des Protagonisten) thematisiert. Thome legt damit bereits sein zweites Buch vor, das sich mit der „chinesischen Thematik“ beschäftigt bzw. in diesem Kulturkreis spielt: 2018 stand sein Werk Gott der Barbaren auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis.

In einem Interview mit Joachim Scholl im Deutschland Radio Kultur bezeichnet der Autor die Haltung vieler Europäer China und Japan gegenüber als stark eurozentristisch. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Geschichte Taiwans unter den verschiedenen Besatzern kaum bekannt, insbesondere die japanische Geschichte des Landes und deren Folge wie etwa das Blutbad von 28. Februar 1947 der damaligen Regierungspartei Kuomintang Chinas, der Aufstand der Inselbewohner gegen die Besatzer, das 38 Jahre währenden Leben unter Kriegsrecht sowie dessen Aufhebung im Juli 1987. Innerhalb des Romans wird versucht, die bewegte Kulturgeschichte Taiwans am Beispiel dreier Familiengenerationen darzustellen.

Den Rahmen der Geschichte bildet die Reise eines amerikanischen Journalisten Harry, der zusammen mit seinem Sohn Paul sein Herkunftsland besucht, auf der Recherche nach seiner Familiengeschichte, d. h. auf der Suche nach der Geschichte seiner Mutter, die in der fünfzig Jahre dauernden japanischen Kolonialzeit Taiwans unter japanischer Erziehung und Herrschaft aufgewachsen ist. Doch die Mutter will zunächst nichts von ihrer Geschichte preisgeben. Das Einzige, was ihr zunächst dazu zu entlocken ist, besteht in der Aussage: „Als ich damals Japanisch lernte, war ich genauso alt wie Paul.“ Paul ist bei der Reise vierzehn; an ihre japanische Herkunft erinnert auch der Name der Mutter. Es entsteht das für viele Kulturen, nicht allein für die taiwanesische, so typische Familienschweigen zwischen Mutter und Sohn. Der Ich-Erzähler vergleicht die Suche nach der Mutter und deren Geschichte mit dem Umgang mit einem scheuen Tier, das zu füttern ist: „Eine falsche Bewegung und…“

Der Sohn Harry will über diese Zeit einen Roman schreiben, es ist jener, den dann der Autor Stephan Thome vorlegt. Anhand einer Familiengeschichte wird über drei Generationen ein Panorama der taiwanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts entworfen. Der Autor versucht aus seiner persönlichen Erfahrung und durch genaue Recherche aus der Perspektive der dort lebenden Menschen zu schreiben und das Land zugleich mit den Augen der anderen zu sehen, weshalb sein Protagonist ein in den USA lebender Exiltaiwaner ist. Es ist letztendlich ein Plädoyer dafür, Taiwan in Hinblick auf eine eigene Identität zu sehen und es nicht nur auf ein Anhängsel Chinas zu reduzieren. Thome geht von der zurzeit allerdings sehr vagen Möglichkeit aus, dass Taiwan seinen eigenen Weg unabhängig von China finden könnte. Er ist auch der Meinung, dass fast alle TaiwanerInnen eigentlich nicht die Rückkehr zu China möchten, eine Überzeugung, die wahrscheinlich in dieser Absolutheit nicht alle Taiwaner durchweg teilen würden.

Auf jeden Fall weist der Autor nicht zuletzt an architektonischen und anderen Überbleibsel nach, dass es auch eine japanische Welt in Taiwan gegeben hat, die allerdings fast über Nacht verschwindet: Japanisch war zu dieser Zeit für viele Taiwanesen die erste Sprache, wurde dann verboten und Japan zum Todfeind erklärt.

Auf diese Weise entstand dieser so typische Bruch des Landes, die Unterteilung in Flüchtlinge und Festländer, was fortan taiwanische Identität ausmachen sollte. China wollte von dieser Zeit an unter allen Umständen die Taiwanfrage lösen. Nicht zuletzt macht der Roman darauf aufmerksam, dass der 2. Weltkrieg nicht ein rein europäisches Ereignis war. Bemerkenswerterweise sind es im Roman die Opfer, die nicht reden wollen, nicht die Täter, wie man es in europäischen Diskursen vielfach antrifft.

Insgesamt hat Thome einen fesselnden und wichtigen Roman geschrieben, der nicht nur diejenigen LeserInnen interessieren wird, die sich für Asien und Taiwan interessieren, sondern auch jene anderen, die nicht wissen, ob es Taiwaner oder Taiwanese heißt, werden das Buch als Bereicherung erfahren. Das deutsche Institut Taipei hat sich übrigens für „Taiwaner“ verständigt, währen der Duden beide Versionen akzeptiert.

Den einzigen Einwand, den der Verfasser zu erheben glaubt, besteht darin, dass die Dialoge manchmal zu metakommunikativ sind, zudem Tabuthemen behandeln. In einem Interview gibt Thome selbst zu, dass man in Taiwan eine Scheu entwickelt, kommunikativ sehr offen zu sein oder zu persönlich über bestimmte Themen zu reden. Zudem lässt sich auf die „Geheimnislosigkeit“, weil sehr explizite literarische und historische Darstellung des Werks, hinweisen.

Aufgrund seiner Spannung und genauen kulturellen wie individuellen Zeichnung der Figuren lässt sich das Werk dennoch insgesamt durchaus empfehlen und ihm ein breites Lesepublikum wünschen. Alle diejenigen werden es mit Gewinn lesen, die zugleich an Asien, aber auch an politischen Machtstrukturen wie an genauer psychologischer und kommunikativer Darstellung im Sinne der Einfühlung und des Verständnisses eines unbekannten Landes bzw. einer anderen Mentalität interessiert sind.

Titelbild

Stephan Thome: Pflaumenregen. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
400 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430118

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