Unordnung und spätes Leid

Mit dem neunten Band hat Cristina Herbst die Tagebuch-Ausgabe von Hedwig Pringsheim abgeschlossen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Erscheinen des neunten Bandes ist die Edition der Tagebücher Hedwig Pringsheims nun abgeschlossen. Der erste war 2013 erschienen. Die Herausgeberin Cristina Herbst hat diese Mammut-Aufgabe, zu der nicht zuletzt die Entzifferung und die Transkription von Pringsheims handschriftlichen Eintragungen gehörten, also in weniger als zehn Jahren bewältig. 

Der nun vorgelegte letzte Band enthält Pringsheims Tagebuch-Aufzeichnungen der Jahre 1935 bis 1941. Wie auch die vorhergehenden hat Herbst ihn mit einem groß angelegten Anhang versehen, der wichtige Dokumente aus dem Leben der Pringsheims, aber auch politische Aufrufe, Gesetze, Verordnungen und  Proklamationen widergibt. So etwa das am 15. September 1935 erlassene Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre sowie etliche Verordnungen etwa über die Anmeldung des Vermögens von Juden, über eine Sühneleistung der Juden und zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschafsleben. An persönlichen Dokumenten enthält er etwa das Testament Alfred Pringsheims und den Letzten Willen der Tagebuchschreiberin. Außerdem etliche Briefe aus der Korrespondenz Hedwig Pringsheims. In den Tagebuchtext selbst hat Herbst Fußnoten eingefügt, die konkrete Informationen über erwähnte Radiosendungen, Parteitage oder sonstige Vorkommnisse und Ereignisse bieten.

In der wie stets umfang- und kenntnisreichen Einleitung des Bandes teilt Herbst den Lesenden einmal mehr für das Verständnis der Tagebuchnotizen wichtige Informationen zum Leben der Autorin, den erwähnten Verwandten, Freunden und Bekannten sowie zu politischen Entwicklungen mit. Zu letzteren zählt insbesondere die immer grausamer werdende antisemitische Gesetzgebung der Nazis und die über diese oft noch hinausgehende Judenverfolgung durch Parteiangehörige. 

Hedwig Pringsheims Vater und ihr Großvater mütterlicherseits waren jüdischer Abstammung, ihr eigener Ehemann Alfred war selber Jude. So fiel das Ehepaar Pringsheim ebenso wie seine Kinder und deren Familien unter die Bestimmungen der antisemitischen Gesetze und Verordnungen Deutschlands und wurden schließlich ins Exil gezwungen. Wie Herbst betont, sahen sich die Pringsheims in Jahren 1935-41 daher mit „zwei völlig verschiedene[n] Lebenssituationen“ konfrontiert. Die Schnittstelle war der 31. Oktober 1939, der Tag, an dem sie von München ins Züricher Exil fliehen mussten.

Gelegentlich geht die Herausgeberin in ihrer Einleitung über reine Informationen hinaus und lässt beurteilende Wertungen einfließen. Kritisch äußert sie sich etwa über Thomas Mann, der seinen Tagebüchern zufolge „die Anwesenheit“ seiner Schwiegereltern Hedwig und Alfred Pringsheim „bei ihren verschiedenen Besuchen in Zürich nur mit Mühe“ ertragen habe, jedoch „keinerlei Bedenken“ getragen habe, „Pringsheimsches Geld anzunehmen“.

Auch merkt Herbst an, dass die Tagebucheintragungen von Ende April 1941 an „immer lapidarer“ geworden seien. Das, lapidar, waren sie allerdings in all den Jahrzehnten zuvor auch schon recht oft. Einträge wie die sich 1941 häufende schlichte Notiz „Nichts besonderes“ gab es vor dem Juli dieses Jahres jedoch nicht.

Ausführlicher berichtet Pringsheim von jeher nur über Vorfälle, die sie aufs höchste erregen. So etwa über den Aufruhr, den der von ihrer Mutter Hedwig Dohm verfasste Roman Sibilla Dalmar in den Jahren 1896 und 1897 in ihrem Münchner Freundeskreis auslöste, oder – im vorliegenden Band – eine sexuelle Belästigung, der sich die 77-Jährige im November 1937 ausgesetzt sah:

einsamer Isarspaziergang mit abscheulichem Abenteuer mit einem nett scheinenden Arbeiter, der sich mir anschloß und schließlich sich so unanständig und unsittlich entzifferte, daß ich in menschenleerer Verlassenheit mir kaum zu helfen wußte und mich namenlos aufregte. Doch kam es zu nichts äußerstem und schließlich, da wir uns den Häusern näherten, bot mir der Dummkopf 2 M. Schweigegeld an, wenn ich ihn nicht verreden würde! Eine widrige Begegnung, die mich doch etwas kopfscheu machte.

Auch die Sorge um ihren Mann, der im August des folgenden Jahres nach einem Unfall in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste, und die Erleichterung, nachdem sich herausstellte, dass sein Zustand doch nicht so schlimm ist, wie sie befürchtete, lässt sie etwas länger zur Feder greifen.

Zu den umfangreicheren Eintragungen zählt auch derjenige zum Grenzübertritt in ihr Exilland Schweiz am 31. Oktober 1939, bei dem das Ehepaar eine „abscheuliche, sadistisch brutale Revision“ über sich ergehen lassen mussten, bei der „Alfred in empörender Weise ausgezogen, untersucht, mißhandelt“ wurde. Statt froh und erleichtert darüber zu sein, dass sie Deutschland verlassen konnten, endet der Eintrag mit dem Seufzer: „Ein schlimmer Tag, schwarz im Kalender zu verzeichnen.“ 

Insgesamt überwiegen sehr kurze Notizen über alltägliches wie etwa das Wetter, Besuche (die sie nun öfter erhält als absolviert), ihre Lektüren sowie die seltener werdenden Theater- und Kinogänge, an deren Stelle nun immer öfter im Radio gesendete Konzerte und Opern angehört oder Grammophonplatten abgespielt werden. Noch immer werden sie von Pringsheim geradezu akribisch verzeichnet, doch kaum einmal kommentiert. Und falls doch, dann allenfalls so kurz, wie sie es schon immer zu tun pflegte. Dabei spart sie weder mit Lob noch mit Kritik. So findet sie etwa die Briefe Bettine von Arnims „allzu überspannt[.]“, Joseph Roths Die hundert Tage „ein ziemlich schwaches Buch“, Nestroys als Rundfunkübertragung angehörtes „Die bösen Buben“ einen „unsäglich alberne[n] Schmarren“, wobei sie offenbar von einer Rundfunkadaption des Einakters Die schlimmen Buben in der Schule spricht. Sehr angetan ist Pringsheim hingegen von der Biographie Madame Curie, die deren Tochter Ève verfasste. „[W]elch ein Buch! welch eine Frau!“, jubelt sie geradezu nach dem Ende der Lektüre. Zu den AutorInnen, die sie immer wieder liest, zählt auch ihr Schwiegersohn Thomas Mann. Pringsheims Beurteilungen seiner Werke fallen noch immer gemischt aus. Unordnung und frühes Leid findet sie „sehr amüsant“, wohingegen ihr Die vertauschten Köpfe „garnicht gefallen“ haben.

Nicht selten liest Hedwig Pringsheim mehrere Bücher parallel und hört während der Lektüre Musik im Radio. Im Sommer 1936 sind es etwa einige Texte der deutschen und französischen Aufklärung. Im Spätherbst dann etliche Romane Fontanes. Effi Briest findet sie auch bei der Relektüre „wieder sehr reizend“ und Frau Jenny Treibel „sehr amüsant“, während Der Stechlin „bei vielfach reizendem Inhalt vielleicht doch manchmal etwas zu geschwätzig“ sei. Auch greift sie ein ums andere Mal zu Werken der Weimarer Klassik. Doch nicht nur Höhenkammliteratur zieht sie aus ihrem Bücherregal. Sie nimmt auch öfter Kriminalromane zur Hand, die sie zwar „spannend, aber natürlich schlecht“ findet.

In ihrem andauernden Lektüre- und Konzerthunger mag sich auch der Wunsch ausdrücken, sich das gepflegte Leben des gehobenen Bildungsbürgertums von ehedem zu bewahren. Das kann unter den Bedingungen der antisemitischen Nazi-Tyrannei, die auch vor den Pringsheims nicht Halt machte, nicht gelingen. Und dies nicht nur, weil allzu oft „im Rundfunk nur Dreck“ kommt und zudem ihr Grammophon konfisziert wird. Es sind vor allem die von den Nazis mehrfach erzwungenen Umzüge innerhalb Münchens, welche die alten Leute belasten. Sie seien „schauderhaft, höchst schauderhaft“ notiert Pringsheim einmal.

In den ausgehenden der 1930er Jahre zieht sie denn auch jeweils eine bittere Bilanz des zu Ende gegangenen Jahres. „One Schmerz das Jar des Unheils verabschiedet“, notiert sie am 31. Dezember 1937. An Silvester des folgenden Jahres behilft sie sich mit Sarkasmus: „Schluß dieses schönen Jars 1938!!“ und wiederum ein Jahr später verabschiedet sie das „Jar des Unheils, 1939!“

Bemerkungen über politische Entwicklungen oder das politische Tagesgeschehen finden sich – vielleicht abgesehen von den Wochen nach dem Angriff Deutschlands auf Polen – eher selten. So notiert sie etwa am 15. Januar 1935 angesichts des Abstimmungsergebnisses über den Anschluss des Saarlandes, dass die Stadt „den triumphalen Sieg der Deutschen an der Saar mit 90.5 % der Stimmen frohgemut feiert“. Und natürlich finden die „schmählichsten Judengesetze“ Eingang ins Tagebuch. Ebenso die Reichspogromnacht:

München steht Kopf, da der von dem 17järigen jüdischen Idioten ermordete arme Sekretär der deutschen Botschaft in Paris wirklich gestorben ist; u. nicht nur in München, sondern Alldeutschland förmliche Progrome ausgebrochen scheinen.

Zwei Tage später tauchen „drei Männer von der politischen Polizei“ auf, die „allerlei Auskünfte verlang[.]en“. Später am gleichen Tag kommen noch einmal „4 Männer von der ‚Politischen’“, die „one Erklärung“ das „Telephon absperren“ und das Radio konfiszieren,  wonach Pringsheim „vor Aufregung zitter[t]“. Am 21. November werden sodann Möbel und Wertgegenstände wie „Bilder, Kunst- und Kulturbestand, Silbersammlung etc.“ beschlagnahmt, wobei die wiederum „4 Männer“ dem Tagebuch zufolge „ihre Pflicht [tun]“ und sich dabei „im ganzen recht anständig“ verhalten. Dass bald auch die Pässe des Ehepaares „abgeholt“ werden, sei zwar „[s]ehr, sehr deprimierend“ doch immerhin sei es durch einen „sehr höflichen und netten Beamten“ geschehen. 

Nicht nur über die Beamten von der Gestapo, die ihnen solch unerfreulichen „Besuche“ abstatten, notiert sie Positives. Auch die Reden Hitlers scheint sie ohne größere Erregung, ja sogar erstaunlich unkritisch, wenn nicht gar gelegentlich mit einem gewissen Wohlwollen zu hören, wie ein paar beispielhafte Eintragungen zeigen mögen:

„Hofbräuhaus, der klassischen Stätte der Parteigründung, die einstündige Rede von Hitler, ‚zur Feier der Reichsgründung vor 15 Jaren’. Nun wesentlich neues sagte er ja nicht, sprach aber laut und kraftvoll wie je.“ (24. Februar 1935)
„Er [Hitler] sprach 1 ¾ Stunden, sehr gut und bedeutsam, für die Außenpolitik geradezu sensationell: militärische Besetzung der entmilitarisierten Rheinzone, Kündigung des Locarno-Vertrags […] Eintritt in den Völkerbund […] Wollen sehen, wie das Ausland es nimmt.“ (7. März 1936)
„die sehr lange Rede des Fürers zur Eröffnung des Kunsthauses angehört: na ja“ (18. Juli 1936)
„Reichstagssitzung angehört, mit langer, sogar endloser Rede von Hitler, die formal gut, manche Wiederholung bekannter Dinge, aber auch manches Gute und Scharfpointierte brachte“ (30. Januar 1937)
„Reichstagsrede des Fürers […] in ihrem letzten Teil ganz interessant, an Energie nichts zu wünschen übrig ließ.“ (20. Februar 1938)
„Rede von Hitler, die formal recht anständig, auch inhaltlich zum Teil nicht uninteressant, sehr selbstbewußt und von Antisemitismus flammend.“ (30. Januar 1939)

Nun mag nicht ausgeschlossen sein, dass Pringsheim ihre wahren Ansichten verbirgt, um sich nicht einer zusätzlichen Gefahr auszusetzen. Die Vermutung scheint durch einen Eintrag vom 17. März 1935 validiert zu werden, in dem Ironie mitzuschwingen scheint: „letzte Nachrichten, zumeist Berichte über des Fürers glorreiche Feiern in Berlin wie im Reich u. in München“.

Neben Kriegsaufregung und der Judenverfolgung belastet die Tagebuchschreiberin, dass ihr Mann von Ende der 1930er Jahre an immer öfter „krankhaft deprimirt“ ist und auch körperlich hinfälliger wird, so dass sich im Laufe des Jahres 1940 Einträge wie „Alfred betreut“ oder „Alfred versorgt“ mehren, bis er am 25. Juni 1941 stirbt. In einem summarischen Eintrag vom 21. bis 29. des Monats schreibt sie über sein Ableben:

Schwere Tage mit Alfred, der viel Schmerzen litt und am Mittwoch Mittag ganz sanft entschlief, so sanft, dass ich an seinem Bett sitzende, den eingetretenen Tod nicht bemerkte.

Zu den Lichtblicken im Schweizer Exil zählen hingegen die „nett-sympathische[n]“ Besuche zweier alter Bekannter der Pringsheims. Die beiden Feministinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann leben bereits seit der Machtergreifung der Nazis in Zürich und nehmen nun wieder Kontakt zu Hedwig Pringsheim auf.

Im Laufe des Jahres 1941, zumal nach dem Tod ihres Mannes, werden ihre Tagebuch-Notizen noch knapper als zuvor, immer öfter fasst sie sogar summarisch mehrere Tage zusammen. Vor allem aber werden sie nichtssagender, bis sie sich schließlich zunehmend verwirren. So lauten die letzten drei, im Dezember des Jahres niedergeschriebenen Eintragungen: „In der Pfygenschloßstraße installiert, stiegert [unleserlich] gestiegert. Noch nicht eingestiegert; nicht eingestiegert.“ (22. Dezember 1941), „Noch nicht eingestiegert, doch immerhin umgezogen in das Pflügenschloß“ (27. Dezember 1941) und darunter ebenfalls auf den 27. Dezember 1941 datiert: „In das ins Pflügenschloß eingezogen, aber eingezogen bin ich noch nicht.“

Am 27. Juli des darauffolgenden Jahres stirbt Hedwig Pringsheim „nach längst vorangegang. geistigem Tod“, wie Cristina Herbst aus dem Tagebuch Thomas Manns zitiert.

Titelbild

Hedwig Pringsheim: Tagebücher. 1935-1941.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
861 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835338814

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