Das Schweigen brechen

„Das Ereignis“ von Annie Ernaux, ein Bericht über eine illegale Abtreibung in den 1960er Jahren, bleibt hochaktuell

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwischen der Verabschiedung des Texas Abortion Law, dem bisher restriktivsten Abtreibungsgesetz in den USA, und der geplanten Abschaffung des Paragraphen 219a durch die neue Bundesregierung erschien im September die deutsche Übersetzung von L’Événement: Das Ereignis. In Frankreich schon im Jahr 2000 veröffentlicht und von Kritikern teils skandalisiert, hat der kurze und eindrückliche Text 21 Jahre später kaum an Schlagkraft verloren. 

Unter offen autobiographischen Vorzeichen beschreibt Annie Ernaux ein einschneidendes Erlebnis aus ihrer Studienzeit: eine ungewollte Schwangerschaft und die illegale Abtreibung in Rouen 1963, als sie 23 Jahre alt war. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Autorin literarisch mit dem Thema auseinandersetzt. Bereits ihr erster Roman, Les Armoires Vides von 1974, behandelt den Schwangerschaftsabbruch einer Studentin, allerdings damals in einem fiktionalen Rahmen.

Mithilfe ihrer alten Tagebucheinträge erinnert sich die Schriftstellerin an jene Zeit und dringt, wieder einmal als Ethnologin ihrer selbst und ihres Körpers, mit wenigen und bemerkenswert klaren Worten zu einem Teil ihrer Vergangenheit vor, den sie in ihrem Schreiben bisher gemieden hatte: 

Vor einer Woche habe ich mit dieser Erzählung begonnen, ohne die geringste Gewissheit, dass ich sie fortsetzen würde. Ich wollte nur mein Bedürfnis, darüber zu schreiben, überprüfen. […] Ich widerstand ihm, musste aber ständig daran denken. Ihm nachzugehen, machte mir Angst. Aber ich sagte mir auch, dass ich sterben könnte, ohne etwas aus diesem Ereignis gemacht zu haben. Wenn ich eine Schuld auf mich geladen hatte, dann diese.

Anfang der 1960er Jahre, lange vor dem berühmten Stern-Cover und seinem französischen Vorbild Le Manifeste des 343 im Le Nouvel Observateur mit den Bekenntnissen von u. a. Simone de Beauvoir, Marguerite Duras und Agnès Varda, ist Abtreibung wohl nicht nur in Frankreich eines der größten gesellschaftlichen Tabus. Umgeben von „der unsichtbaren, allgegenwärtigen Ordnung der Geschlechter“ und tief verankertem Sexismus, kann sich die schwangere Literaturstudentin Annie mit ihrem Vorhaben weder an die katholische Familie noch an Freunde, nicht einmal an Ärzte wenden, ohne dass ihr Ablehnung und Frauenfeindlichkeit entgegenschlagen (Wortlaut eines Arzts: „Ich bin doch nicht der Klempner!“). Als sie sich einem scheinbar progressiven Kommilitonen anvertraut, erscheint lediglich „ein neugieriger, lüsterner Ausdruck auf seinem Gesicht, als sähe er mich mit gespreizten Beinen und entblößtem Geschlecht.“ Später will er sie zum Sex überreden, denn sie könne ja nun nicht mehr schwanger werden. Durch die Schwangerschaft wird die intellektuelle Studentin plötzlich auf ihre Körperlichkeit reduziert und fühlt sich an ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu erinnert. All diese herabwürdigenden Begegnungen beschreibt sie in äußerst nüchternem Stil, ihre Überlegungen erscheinen distanziert. In ihrem Tagebuch steht: „Ich habe das Gefühl, dass ich auf abstrakte Weise schwanger bin.“

Es ist die plötzliche Einsamkeit der jungen Frau, die auch in der kürzlich erschienenen, preisgekrönten Verfilmung der französischen Regisseurin Audrey Diwan besonders stark durchdringt und die sicher noch heute viele Frauen begleitet, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Die Reaktionen der anderen sind es in diesem Fall, die das Thema Schuld aufkommen lassen. Annie hingegen ist sich ihrer Entscheidung von Anfang an sicher: Sie möchte das Kind auf keinen Fall bekommen, da dies bedeuten würde, ihr Studium aufzugeben. Von Rechtfertigungen oder gar einem moralischen Diskurs halten sie und der Text sich fern. Entschlossen setzt sie alle Hebel in Bewegung, um selbst über ihren Körper bestimmen zu können. Und sie möchte, ja sie muss letzten Endes davon erzählen, nicht nur um das Geschehene zu verarbeiten, sondern vor allem aus Solidarität mit all jenen Frauen, die das Gleiche erlebt und aus Angst geschwiegen haben, und mit den Ärzt*innen, die diesen Frauen heimlich geholfen haben und dafür verurteilt worden sind. 

Nach einem gescheiterten Versuch, mit Stricknadeln der Schwangerschaft eigenmächtig ein Ende zu setzen, kommt ihr schließlich – durch eine Bekannte – die Adresse einer sogenannten ‘Engelmacherin’ zu. Zwei schmerzhafte Besuche sind notwendig, damit die Abtreibung gelingt, am Ende verblutet sie beinahe und landet im Krankenhaus. Dieser Vorgang wird allerdings dermaßen bildlich und detailliert beschrieben, dass es schwer zu ertragen ist; auch die Verfilmung spart diesen Teil interessanterweise nicht aus, obwohl Bild und Ton dessen Wirkung natürlich noch verstärken und so manche Kinobesucher sicherlich schockieren.

Es gibt in der Literaturgeschichte eine „Ellipse“, schreibt Ernaux, „zwischen dem Moment, in dem eine junge Frau merkt, dass sie schwanger ist, und dem Moment, in dem sie es nicht mehr ist.“ Das Ereignis möchte diese Ellipse füllen, so beschreibt es eine „allumfassende menschliche Erfahrung“ in all ihren Einzelheiten. Da sich die Erzählerin jeglicher Schuld oder Scham verweigert, verweist der Text auf körperliche Selbstbestimmung und weibliche Solidarität – und gleichzeitig auch auf eine der Prämissen von Literatur: „Es gibt keine minderwertige Wahrheit.“

Doch Das Ereignis ist kein Skandalbuch und auch kein feministisches Manifest. Der vielleicht mutigste Text von Ernaux legt schlicht Zeugnis über eine persönliche Lebensrealität ab, die in einen brisanten gesellschaftlichen und politischen Kontext eingebettet ist – damals wie heute.

Titelbild

Annie Ernaux: Das Ereignis.
Aus dem Französischen von Sonja Finck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
120 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225257

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