Kulturtipps 2021

Die Mainzer Redaktion von literaturkritik.de nennt ihre kulturellen Jahresfavoriten

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Wie bereits im vergangenen Jahr, möchte die Redaktion von literaturkritik.de Ihren Leser*innen zum Weihnachtsfest ihre Highlights des Jahres 2021 näherbringen. Anders als 2020 beschränken wir uns allerdings nicht auf die Literatur, sondern haben verschiedene Medien ausgewählt: Neben dem Buch auch den Film, die TV Serie, das Musikalbum sowie die Kunstausstellung. 

 

David Keenan – WHAT THEN?

Von Laura Harff

Es ist dieses Jahr kein Buch geworden. Allein dieser Umstand ist ungewöhnlich. Mindestens ein Dutzend Bücher, die es verdient hätten, in die engere Auswahl zu kommen, fünf, die es geschafft haben. Schon bereit lagen für einen letzten Blick. Die finale Entscheidung. Und das eine Werk, das mich – die Leseratte, die Büchermaus, die Bibliomanin – über Wochen nicht loslässt ist… ein Album. Genauer gesagt, das zweite Album eines irischen Musikers, von dem es heißt, er könne mit seinen Worten Traumwelten erschaffen: David Keenan, der Mann mit der Gitarre und den Hosenträgern aus Dundalk, der sich mit seinem Song „Evidence of Living“ schon 2018 in mein Herz gesungen hat. Auf einem Festival in Irland, bei dem ich zum ersten Mal verstanden habe, warum Menschen so einen Wirbel um Konzerte machen. 

Nicht falsch verstehen, ich fand Konzerte immer nett, hatte meistens auch eine gute Zeit, aber eben auch nicht mehr. Meistens sind meine Gedanken irgendwann abgeschweift – zur Frage, warum alle um mich herum mehr Spaß zu haben schienen als ich, ob ich generell unfähig bin, „im Moment“ zu sein, ob dieser oder jener Song noch gespielt werden würde und wieso es immer irgendein Teenager-Mädchen gab, vor dessen Beinen man sich in Acht nehmen musste, während sie ausgelassen auf den Schultern ihres Freundes mitgrölte. 

Doch ein Konzert im Regen, bei dem alle notgedrungen zusammenrücken mussten, brachte ihn mit sich: Diesen einen perfekten Moment, der einen so unendlich dankbar macht, am Leben zu sein. Momente, von denen wir in den letzten zwei Jahren einfach zu wenige hatten.

Es ist diese bittersüße Erinnerung, die mit den ersten Akkorden von David Keenans neuem Album zu mir zurückkehrte und die mich seither nicht mehr losgelassen hat. Dabei ist WHAT THEN?, das nur knapp über ein Jahr nach Keenans Debüt A Beginner’s Guide to Bravery erschienen ist, etwas völlig Neues. Denn erstmals richtet Keenan den Blick nicht auf seine Umgebung, Geschichten und Menschen in seinem Umfeld, sondern auf sich selbst, auf die eigene Identität und die Frage, wie es jetzt weitergehen soll. Und seien wir ehrlich, fragen wir uns das nicht alle? WHAT THEN? 

Mein Kunstwerk des Jahres, von einem Musiker, dem hierzulande bislang nicht die Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist, die er verdient.

 

Sex Education (Staffel 3)

Von Jonas Heß

Das Empfehlen einzelner Staffeln von ganzen Serien ist immer so eine Sache. Wer die neueste Staffel sehen möchte, muss in der Regel auch die vorangegangenen Staffeln gesehen haben, die dann schon einige Jahre zurückliegen. Das ist auch in diesem Fall so, allerdings lassen sich die letzten beiden Staffeln von Sex Education (zu sehen auf Netflix) getrost mit demselben Nachdruck empfehlen wie die nun erschienene dritte Staffel. Denn die komplette Serie wartet mit einer wahnsinnig gelungenen Mischung aus Humor, Drama und Coming of Age auf, in einer Bildsprache, die regelrecht prädestiniert ist für pandemiebedingten Eskapismus.

Die Serie dreht sich um Otis (Asa Butterfield), den pubertierenden Sohn der Sexualtherapeutin Jean Milburn (Gillian Anderson), seinen besten Freund Eric (Ncuti Gatwa) und seinen Schwarm Maeve (Emma Mackey). Die Handlung setzt ein, als Otis und Maeve beschließen, unter der Hand sexualtherapeutische Dienste an ihrer Schule anzubieten, was dort und in den Familien Einiges in Bewegung setzt. Ja, das klingt zunächst nach einer nervig jugendlich-pubertären Thematik – ist es hier aber mitnichten. Im Gegenteil: Auch und insbesondere für nicht mehr Pubertierende ist die Serie schwer zu empfehlen.

Das liegt an der Art und Weise ihrer Machart. Denn das Großartige ist das geradezu surreal anmutende Maß an Menschlichkeit und gegenseitigem Verständnis, das die jugendliche und erwachsene Gesellschaft durchzieht, ohne dass dies aber je kitschig würde. Nicht nur die Kleidung und die Kulissen sind quietschbunt und vielfältig, auch die Charaktere sind es. Das alles ist dabei so herzerwärmend und rührend, dass man eigentlich nirgendwo anders leben möchte als in diesem fiktiven Teil des UK.

Die auf diese Weise deutlich spürbare Fiktionalisierung der Örtlichkeit und der Figuren setzt sich konsequenterweise auch mit Blick auf die Zeitlichkeit fort. Man glaubt sich auf eigenartig paradoxe Art sowohl in den 80ern wie in der Gegenwart. Die Jugendlichen hören Walkman und Vinyl, fahren mit den eckigen Pkw-Modellen von vor 30-40 Jahren durch die Gegend und liegen auch modisch eher in der Spätphase des letzten Jahrhunderts. Gleichzeitig existieren aber Smartphones, über die man sich zu heimlichen Dates verabredet, die aber sonst keine allzu große Rolle spielen. Und auch die Empowerment-Diskurse sind in dieser angenehm entspannten Selbstverständlichkeit aller Vielfalt eindeutig eher aus der Gegenwart – oder mehr noch aus einer möglichen Zukunft. Mit diesem temporalen Eklektizismus reiht sich die Serie zudem auf eigenwillige Weise ein in die ohnehin seit einiger Zeit boomende Retro-Nostalgie-Ästhetik.

Das Ganze wird schließlich gekrönt von einem – gemessen an Alter und Erfahrung der Jungdarsteller*innen – erstaunlich überzeugenden Cast. Allen voran aber von der (wie schon in The Crown) wahrhaft überragenden Gillian Anderson. 

 

Paula Modernsohn-Becker, 8. Oktober 2021 bis 6. Februar 2022, Schirn Frankfurt

Von Johanna Itter

Meine Jahresempfehlung 2021 führt weg von dem imaginären Erlebnisraum, den die Lektüre eines guten Buches bieten kann, hin zu einem Erleben und Wahrnehmen in der Realität, zu einem direkten Austausch mit anderen in einem Kunstraum, den viele von uns in den letzten zwei Jahren sicher viel zu wenig aufgesucht haben und aufsuchen konnten: das Museum, speziell die Schirn in Frankfurt.

Im Rückblick auf das nun bald endende Jahr, erschien es mir sehr passend, sich mit einer weiteren Retrospektive zu beschäftigen, der auf das Leben und Schaffen einer der bedeutendsten deutschen Künstlerinnen der Klassischen Moderne: Paula Modernsohn-Becker (1876–1907). Die Künstlerin nimmt in ihrem umfassenden Gesamtwerk nicht nur zentrale Tendenzen der damaligen Kunstströmungen auf, sie nimmt bereits wichtige Tendenzen der Moderne vorweg und schafft überzeitliche Bilder: ihre Orientierung nach Paris und ihre kompromisslose künstlerische Haltung zeigen dies deutlich.

Für Paula Modernsohn-Becker war der Austausch mit anderen Künstler:innen essentiell, so vor allem mit den progressiven Kreisen in Paris. Insgesamt vier Mal besuchte sie die Stadt in ihrem doch sehr kurzen Leben von 31 Jahren. Durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Strömungen in der Kunst, wollte sie ihre ganz eigene Sprache entwickeln, weniger naturgetreu dafür schonungslos und das Wesen der Porträtierten einfangend, später gut zu sehen z.B in dem Bildnis von ihrem Dichterfreund Rainer Maria Rilke (1906) oder von Clara Rilke-Westhoff (1905). 

Die Ausstellung hat mich durch ihre Vielfältigkeit überzeugt, auch allgemein der Vielseitigkeit und dem Umfang (über 700 Gemälde und 1.500 Zeichnungen!) des Werkes Modersohn-Beckers zu verdanken, welches sich von ihren ikonischen Porträts von Kindern und der ländlichen Bevölkerung rund um die Künstlerkolonie Worpswede über Selbstbildnisse bis hin zu naturalistischen Aktzeichnungen erstreckt. Besonders interessant ist der ausführliche Teil zu ihrer Biografie. Ihr starker Charakter, der es ihr möglich machte, gegen die Erwartungen der Gesellschaft und ihrer Familie anzukämpfen, um Malerin zu werden und ihre schwierige Beziehung zu ihrem Ehemann Otto Modersohn werden eindrucksvoll greifbar gemacht. Der Audioguide zur Ausstellung wird von Sophie Passmann gesprochen, was in Hinblick auf die Gegenwärtigkeit der Exponate passend scheint, hat Passmann doch ebenfalls ein ausgeprägtes Gespür für die Themen unserer Zeit und bezieht zu ihnen ähnlich schonungslos Stellung. Ein Besuch der Ausstellung ist damit nicht nur im Rückblick auf das vergangene, sondern auch als gelungener Start in das neue Jahr zu empfehlen.

 

Ben Wheatley – In The Earth

Von Sascha Seiler

Als ich vor der Corona-Krise mit dem Musiker Justin Sullivan über einen neuen Song seiner Band New Model Army mit dem Titel „The Weather“ gesprochen habe, erzählte er, der Song handle natürlich vom Klimawandel, aber da die Natur ja unwiderruflich in uns sei, und wir untrennbarer Teil der Natur, wären Naturkatastrophen und das immer angespannter werdende Verhältnis der Menschen untereinander Teil der gleichen Kausalkette. So dachte ich, als ich ihn im Frühjahr dieses Jahres aus Anlass seines neuen Soloalbums wieder sprach, dass er mir Ähnliches über Covid19 erzählen würde. Doch er meinte nur lapidar: „Es ist ein Virus. Bäume haben sie, alles in der Natur hat sie. Was soll man darüber überhaupt sagen, das ist nichts Neues.“ 

Und so war es nur eine Frage der Zeit, dass das Virus auch im Folk Horror-Kontext thematisiert werden würde, in dem es ja auch primär um den Konflikt zwischen einer animistischen Weltsicht und der digitalisierten Moderne geht. Die Prämisse von Ben Wheatleys Film In The Earth passt somit sehr gut in unsere Zeit: Ein nicht näher beschriebenes Virus hat die Menschheit befallen; was genau passiert ist, welche Ausmaße dies hat und ob es sich überhaupt um Covid handelt, wird nicht thematisiert. Man sieht anfangs lediglich einen Mann, der aus einer längeren Quarantäne kommt und sich daraufhin in einer Waldstation einfindet. Von dort ausgehend möchte er gemeinsam mit einem weiblichen Park-Ranger Messungen im Wald durchführen, da dort eine bestimmte Pilzsorte heimisch ist, die näher untersucht werden muss. Ob dies im Zusammenhang mit dem Virus steht, ist nicht ganz klar. Tatsächlich hat eine berühmte Forscherin ihr Labor im Wald aufgeschlagen, man hat aber länger nichts von ihr gehört, und so sollen die beiden dorthin aufbrechen, um mit der Forscherin gemeinsam das Projekt weiterzuführen. Sie begeben sich also auf einen zweitägigen Marsch, entfernen sich immer weiter von der Zivilisation und dringen dabei immer tiefer in den Wald ein. Eines Nachts werden sie überfallen und ausgeraubt, danach sind aber lediglich ihre Schuhe verschwunden. Der Mann verletzt sich daraufhin am Fuß und kann kaum noch gehen. Glücklicherweise begegnet ihnen ein illegal im Wald lebender Einsiedler und nimmt sie bei sich auf. Dummerweise plant der Einsiedler, mit ihnen als Opfer ein uraltes heidnisches Ritual durchzuführen, um die Waldgeister zu beschwören. Zwar werden sie von der Forscherin zunächst gerettet, finden aber heraus, dass sie das Gleiche wie der Okkultist, nur eben mit technischen statt mit archaischen Mitteln vorhat. Eine Flucht wird allerdings aufgrund der sich immer stärker ausbreitenden Schwaden des Pilzes nicht möglich.

Wer die Filme von Ben Wheatley schätzt, wird sich über die beliebten Motive freuen, die seine Meisterwerke Kill List und A Field In England geprägt haben, und die zuletzt bei seiner eher schwachen J.G. Ballard-Verfilmung High Rise sowie dem recht sinnfreien Rebecca-Remake gefehlt haben. In The Earth ist Folk Horror, der über das symbiotische Verhältnis von Mensch und Natur reflektiert, wobei die Entfremdung von letzterer mit einem Virus bestraft wird, das interessanterweise sowohl metaphorisch (als Corona-Verweis) als auch ganz konkret (als Pilz-Ausdünstung) in die Handlung eingewoben wird. Denn, ohne zu viel verraten zu wollen, Viren lauern überall in der Natur, und weder die Wissenschaft noch die Okkultismus werden sie bändigen können. Wem das immer noch nicht reicht, der bekommt noch einen wunderbaren heidnischen Opferritus dazu geliefert, den man durchaus auch als Midsommar-Persiflage lesen kann.

 

Michael Krüger – Im Wald, im Holzhaus

Von Mario Wiesmann

Wenn mir letztes Jahr jemand gesagt hätte, dass mein Lieblingsbuch 2021 ein Lyrikband über Corona sein würde, hätte ich wahrscheinlich die Stirn gerunzelt. Ein großer literarischer Wurf, noch dazu ein lyrischer, über ein so prosaisches und zerredetes Thema? Michael Krüger ist genau das gelungen. Im Wald, im Holzhaus enthält 70 Gedichte, die zusammen eine Art Corona-Tagebuch in Versen darstellen. Krüger, für den das Coronavirus aufgrund einer Leukämieerkrankung zur akuten Gefahr wurde, hat sie „in einem Holzhaus am Ostufer über dem Starnberger See“ verfasst, in das er sich zur Isolation zurückzog.

Obwohl die Coronapandemie den Anstoß zum Schreiben gab, stellen seine Gedichte allerdings keine Kommentare zum politischen Tagesgeschehen dar. Sie sind Protokolle des Quarantänealltags, handeln von Spaziergängen in der Gegend um das Holzhaus, von Tieren im Garten und Reparaturen an der Terrasse, aber auch von Büchern, mit denen sich Krüger die Zeit vertreibt, und vor allem von den Gedanken, zu denen Natur und Literatur ihn anregen. Und darin liegt der eigentliche Reiz der Gedichte.

Oft reiht Michael Krüger Beobachtungen aus seinem Garten, Mythenreferenzen und Betrachtungen über die Coronapandemie unvermittelt aneinander, verknüpft Gesellschaftskritik, Naturlyrik und Autobiografie in unerwarteten Gedankensprüngen. Seine Gedichte präsentieren sich als Konstellationen, die an jeder Stelle mehr zu sagen scheinen, als sich der ersten Lektüre preisgibt. Die Coronapandemie bildet den Rahmen, in dem sich Krüger lyrisch bewegt. Aber seine Gedichte führen zielsicher über den beschränkten Horizont des Holzhauses hinaus. Sie sind literarische Reflexionen über das Leben, die vor seinem Unbegreiflichen und Beängstigenden nicht haltmachen. Das ästhetische Feingefühl, mit dem Krüger seine vertraute Umgebung betrachtet, und die Kühnheit, mit der er Disparates miteinander verschränkt, regen beim Lesen auch dazu an, die eigene Umwelt literarisch zu betrachten. Unter allen Kunstwerken, mit denen ich 2021 in Berührung gekommen bin, hat Im Wald, im Holzhaus damit den stärksten Eindruck auf mich gemacht.