Die Revolution frisst ihre Kinder

Ai Weiwei berichtet in „1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen.“ über das Leben dreier Generationen

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lebenserinnerungen des chinesischen Aktivisten und Konzeptkünstlers Ai Weiwei sind in vierzehn Ländern gleichzeitig erschienen, was seinen Status als weltweit einflussreicher Künstler nachdrücklich belegt. Den unmittelbaren Anlass für die Niederschrift seiner Memoiren, die er an seinen kleinen Sohn Ai Lao adressierte, bildete seine 2011 erfolgte Inhaftierung an einem unbekannten Ort aufgrund seiner anhaltenden Kritik an der Missachtung demokratischer Grundrechte durch die chinesische Regierung.

Weiweis lakonische, aber gleichwohl emphatisch vorgetragene Schilderungen führen seine Leserinnen und Leser in die zutiefst bedrückende Zeit der ersten Jahrhunderthälfte, als sein Vater Ai Qing, ein berühmter Dichter, unter unterschiedlichen politischen Vorzeichen abwechselnd protegiert wurde und in Ungnade fiel und hierdurch zu einem unsteten und wurzellosen Wanderleben gezwungen war. Seinen traurigen Höhepunkt oder vielmehr Tiefpunkt erreichte dies mit der Kulturrevolution, als der Vater mit seinem kleinen Sohn als sogenannter „Rechtsabweichler“, sprich bürgerlicher Intellektueller, in die Nördliche Wüste verbannt wurde. Dort sollte der Vater durch unaufhörliche öffentliche Demütigungen sowie Selbstkritik und unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen – die beiden lebten in einer Erdhöhle und der Vater musste gefrorene Latrinen reinigen – gebrochen werden, eine Methode, die aus dem sowjetischen Gulagsystem nur zu gut bekannt ist, was erst Ende der 1970er Jahre mit dessen politischer Rehabilitation endete.

Der Sohn hatte indessen längst mit dem politischen System seines Heimatlandes abgeschlossen und zog nach New York, wo er sich nach einem anfänglichen Kunststudium zehn Jahre lang als Bohemien in Künstlerkreisen bewegte. Hierbei empfing er wesentliche Prägungen durch den Dadaismus eines Marcel Duchamp und nach seiner Rückkehr nach China unternahm er erste Schritte als Künstler, wobei er sich der Konzeptkunst zuwandte und diese zum Medium seines politischen Aktivismus machte. Möglich wurde ihm dies in erster Linie durch die Unterstützung von Uli Sigg, seinerzeit Schweizer Botschafter in China und gleichzeitig ein einflussreicher und vermögender Wirtschaftsjournalist, Unternehmer und Kunstsammler. Er ermöglichte es Weiwei, sich auf dem internationalen Kunst- und Ausstellungsmarkt zu etablieren, wobei dieser sich auf einen umfangreichen Mitarbeiterstab stützen kann, der anscheinend nach dem Vorbild von Warhols New Yorker Factory aufgebaut ist. Die Installationen Weiweis sind tief in der chinesischen Kulturgeschichte verankert: Er macht durch die Kulturrevolution obdachlos gewordene kunsthandwerkliche Objekte äußerlich verfremdet zum Gegenstand seiner Ausstellungen und verbindet dies gleichzeitig mit einem Aufruf zum Humanismus und der Wahrung der Menschenrechte in seiner Heimat.

Diese Botschaft ist umso wichtiger, als sie angesichts von Chinas wirtschaftlicher Stellung in der heutigen Welt nur allzu leicht vergessen zu werden droht. Weiweis überstürzte Abreise aus Berlin vor einigen Jahren belegt in diesem Zusammenhang, dass er sich von keiner Seite vereinnahmen lassen möchte und bereit ist, den Finger überall in die Wunde zu legen, um so mehr als sein Wort Gewicht hat. Seine Botschaft verdient es, gehört zu werden.

Titelbild

Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Elke Link.
Penguin Verlag, München 2021.
416 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783328602316

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