Das Leben ist nicht sehr ernst mit seinen Dingen

Über die „Gesammelten Werke“ von Juan Rulfo

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine wunderbare Ausgabe ist hier zu preisen: die Gesammelten Werke von Juan Rulfo (1917–1986), dem unbestrittenen und einhellig gelobten Giganten der neuen lateinamerikanischen Literatur. Seine beiden schmalen Werke, auf denen sein Weltruhm gründet, der Erzählband Der Llano in Flammen und der Roman Pedro Páramo, erschienen bereits Mitte der 1950er Jahre. „Ohne Pedro Páramo hätte ich niemals Hundert Jahre Einsamkeit schreiben können“, das jedenfalls behauptete Gabriel García Márquez, der den Roman so oft gelesen hatte, dass er ihn seitenlang aus dem Gedächtnis vortragen konnte.

Rulfos Werk ist nur mit anderen Giganten des 20. Jahrhunderts zu vergleichen – mit Borges, mit Kafka. Seine Prosa ist ausdrucksstark, plastisch und hart, jedes unnötige Wort hat er gestrichen und an seinen Texten so lange gefeilt, bis sie seinen Ansprüchen genügten – d.h. sie sind perfekt. Seine Themen darf man als archaisch bezeichnen: sie behandeln Leben und Tod, Liebe und Gewalt, Armut und Hunger, Ungerechtigkeiten, Religion, Kirche oder Korruption, um nur die wichtigsten zu nennen. Obwohl sie mehrheitlich im Mexiko der 1930 und 40er Jahre spielen, sind sie in ihren Aussagen zeitlos, ortlos, allgemeingültig. 

Deshalb ist es eine immense Freude, die Erzählungen jetzt in der Neuübersetzung von Dagmar Ploetz zu lesen, die auf jedes Füllwort verzichtet – Mariana Frenk erachtete dies 1958 noch für notwendig, um die damals so sperrig klingenden Texte lesbarer zu machen. Als Rulfo zwei Erzählungen auf dem Berliner Festival Horizonte ‘82 vorlas und Günter Grass die deutschen Übersetzungen, war ihm aufgefallen, dass das spanische Original härter klang, weniger Worte brauchte. Jetzt liegen die Erzählungen endlich kongenial, knapp und nach letzten Fassungen übersetzt vor – wie zuvor schon der Roman. Außerdem enthält der Band die über Jahre sorgfältig zusammengetragenen und nie zuvor in einem Buch publizierten Skizzen, Miniaturen, postume Texte und die für Pedro Páramo verworfenen Fragmente sowie die ursprünglich als Filmskript vorgesehene Erzählung Der goldene Hahn. Der Herausgeber Benjamin Loy hat alle mit präzisen und überaus hilfreichen Anmerkungen versehen – wie auch den Roman oder Der Llano in Flammen, die einzigen Werke, die Rulfo  wirklich als gelungen akzeptierte. Im informativen Nachwort liest man:

Ich halte auch die Erzählung für eine wichtigere Gattung als den Roman, in den wirklich alles reinpasst; in der Erzählung muss man alles auf einige wenige Wörter reduzieren und zusammenfassen, eine Geschichte erzählen, für die andere zweihundert Seiten brauchen – das ist in etwa die Vorstellung, die ich vom literarischen Schaffen habe.

Über Rulfo schreiben zu wollen, ist ein Unterfangen, das notwendig zum Scheitern verurteilt ist. Mittlerweile gibt es umfangreiche Bibliotheken voller Sekundärliteratur, Dissertationen, Studien zu jeder Erzählung und Monographien. Blass stehen sie neben seinem Werk. Alle Facetten seines Lebens, über das er in seiner Literatur nichts preisgab, werden analysiert – und dennoch bleibt der Autor ein Geheimnis. Er schien aus dem Nichts zu kommen, Vorläufer oder literarische Vorbilder finden sich nicht. Sein Werk hingegen beeinflusst Generationen weltweit.

Am besten liest man ihn selbst, lässt jede einzelne Zeile auf sich wirken, taucht ein in seine Welt. Diese Ausgabe ist eine ringsum gelungene Einladung, ihn wieder zu lesen oder endlich zu entdecken. Dieser Band garantiert immense Lesefreuden, ist ein Juwel.

Titelbild

Juan Rulfo: Unter einem ferneren Himmel. Gesammelte Werke.
Mit einem Nachwort von Benjamin Loy.
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
544 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783446270923

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