Jack im Land der Verlorenen

J.K. Rowlings magisches Weihnachtsmärchen „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein“ macht „Harry Potter“ Konkurrenz

Von Laura HarffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Harff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes Kind hat dieses eine Kuscheltier, das wichtiger ist als alle anderen Spielsachen zusammen. Ein Kuscheltier, das Mut schenkt, Trost spendet und in dessen Fell schon so manche Träne versickert ist. Für Jack, den sechsjährigen Helden in J.K. Rowlings Weihnachtsmärchen „Jack und die wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein“ (Oktober 2021), ist es „das Swein“, kurz DS. Ein ausgeblichenes „Kuschelschwein aus weichem Frotteestoff“, dessen Perlenaugen irgendwann abgefallen und von Jacks Mutter durch zwei glänzende schwarze Knopfaugen ersetzt worden sind.

Doch Jacks kleine friedliche Welt, in der es nur Mum und Dad und DS gibt, gerät aus den Fugen, als seine Eltern sich dazu entscheiden, getrennte Wege zu gehen. Nicht nur das: Sein Vater ist berufsbedingt plötzlich kaum noch im Land, seine Mutter zieht mit ihm in die Nähe der Großeltern. Und so findet sich Rowlings kindlicher Held plötzlich in einer völlig neuen Stadt wieder, mit einer neuen Schule und neuen Kindern. Und dann verliebt Mum sich auch noch, Brendan zieht bei ihnen ein und jedes zweite Wochenende kommt Holly, das coolste Mädchen der Schule, die Jack eigentlich für eine Freundin gehalten hat.

Diesem ersten Teil der Handlung, der sich mit den Sorgen eines Kindes auseinandersetzt, widmet Rowling knapp vierzig Seiten. Es ist eine Exposition, die umso deutlicher macht, welche Rolle DS in Jacks Leben einnimmt. Die einzige Konstante, eine Brücke aus Frottee und Plastikbohnen, die an das gewohnte alte Leben erinnert und das neue erträglicher macht. Ein Freund eben, der alles versteht, für einen da ist und noch immer einen Hauch dieses so vertrauten Zuhausegeruchs in seinem Fell trägt.

Geübte Leser*innen ahnen schon, dass etwas Schreckliches vorprogrammiert ist. Ein Unglück, das sich schon früh im Buch ankündigt, immer dann, wenn Mum Jack ermahnt, DS zu Hause zu lassen, weil er ihn unterwegs ja verlieren könnte. Kluge Mutter. Doch beim weihnachtlichen Ausflug in die Stadt, bei dem sich Holly mal wieder vollkommen danebenbenommen hat, überwiegt der Wunsch, seinen besten Freund an der Seite zu haben. Es kommt, wie es kommen muss: Während der Rückfahrt wird das Kuschelschwein von der boshaften Stiefschwester aus dem Fenster geschleudert. Mitten auf die Autobahn.

Für Jack kann das nur eines bedeuten. Er muss sich zurück auf die Autobahn schleichen und DS ausfindig machen. Doch in der Heiligen Nacht vom 24. auf den 25. Dezember erwachen die Spielsachen und Gebrauchsgegenstände im Haus plötzlich zum Leben. Und Jack sieht sich DS’ Ersatz, dem Weihnachtsschwein, gegenüber. Einem vollkommen lebendigen Weihnachtsschwein, das ihm verspricht, ihn ins „Land der Verlorenen“ zu begleiten und ihm bei der Suche nach DS zu helfen.

Gemeinsam verlassen die beiden die fiktiv-reale Primärwelt und begeben sich in die magische Sekundärwelt, eine Art Zwischenwelt oder Limbo, in der die Zeit anders vergeht, in der verlorene Gegenstände und Spielsachen ihr Dasein fristen, sehnsüchtig darauf wartend im Land der Lebenden wiedergefunden zu werden. Auf der Suche nach DS durchforsten Jack, der sich als Actionfigur ausgibt, und sein lachsfarbener Reiseführer das gesamte Land. Die Leser*innen begleiten sie zunächst nach „Verschusselt“, eine „Raum-der-Wünsche“-ähnliche Lagerhalle, in der die Dinge kategorisiert werden, ehe es weiter ins Land der Verlorenen geht. Nach „Ausgedient“, wo sich Gegenstände aufhalten, die von ihren Besitzer*innen nicht vermisst werden, in das gemütliche verschneite Winterstädtchen „Leider-weg“, in dem Dinge leben, die zumindest mit geringem Aufwand gesucht werden. Und in „die Stadt der Vermissten“, eine Art Parallel-Venedig, in der die Verlorenen zum Teil wie Könige leben.

Doch es gibt auch weniger schöne Ecken – die „Ödnis der Unbeweinten“ zum Beispiel, über die der unheimliche Verlierer herrscht. Ein Monster, das sich von Gegenständen ernährt und entfernt an Cornelia Funkes Schatten in „Tintenherz“ erinnert. Der merkt natürlich sofort, dass Jack und das Weihnachtsschwein im Land der Verlorenen nichts zu suchen haben und schickt ihnen seine Untergebenen auf die Spur. Indessen lässt Jack auf der Suche nach seinem Lieblingskuscheltier die eigene Kindheit Stück für Stück hinter sich zurück, während die erwachsenen Leser*innen ihre eigene wiederentdecken. Und die Dinge und Kinderspielzeuge aus längst vergangenen Zeiten plötzlich in einem anderen Licht zu betrachten beginnen.

Neben den niederträchtigen Verlustbeamten, meist Nutzgegenstände wie Büroartikel, Rasierer oder Werkzeuge, die sich durch ihren Dienst beim Verlierer ein längeres Leben erkaufen, trifft man auch auf freundliche Figuren: das Gedicht, das nur in Reimen spricht, das schäbige blaue Häschen, das am Ende sein Happy-End bekommt oder den Kompass, der Ausgestoßene durch die Ödnis der Unbeweinten führt. Und natürlich Glück und Hoffnung, die ihre ganz eigenen Rollen spielen.

Rowling flicht dabei liebevolle Details in die Handlung ein. So muss das Weihnachtsschwein beim Gehen immer seinen Bauch festhalten, damit die Bohnen im Inneren nicht so laut rasseln. Eine Geschenkpapierrolle ist schon zum wiederholten Mal verlorenen gegangen und beschwert sich lauthals über ihre chaotische Besitzerin, die erst in letzter Sekunde Geschenke einpackt. Und ein Paar Diamantohrringe empören sich, dass es keine Extrabehandlung für Wertsachen gibt.

Gerade Letzteres macht Rowlings Geschichte besonders aus. Denn der Wert eines Gegenstandes wird im Land der Verlorenen keineswegs an seinem materiellen Wert gemessen, sondern einzig und allein am Verlustgefühl der Besitzer*innen. Gefühle sind es letztlich auch, die einen Gegenstand überhaupt erwecken, wie das Weihnachtsschwein zu verstehen gibt: „Die Gefühle dringen in uns ein. Die Erweckung verwandelt uns von Stoff und Bohnen und Flaum, von Metall, Holz und Plastik in etwas … das mehr ist. Es kann Jahre dauern bis ein Ding vollständig erweckt ist – aber es kann auch ganz schnell geschehen. So war es bei mir, heute im Spielwarenladen. Holly und dein Großvater sprachen darüber, welches Schwein sie dir mitbringen sollten, und als sie mich ausgesucht haben, wurde ich erweckt. Ab diesem Moment bedeutete ich etwas. Erweckung ist, wenn wir wirklich verstehen, wozu wir da sind.“

„Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein“ ist ein Kinderbuch in neun Teilen, eine bittersüße Heldenreise über Freundschaft und Mut, die daran erinnert, dass Verlust und Veränderung zum Leben dazugehören. „Alice im Wunderland“ trifft „Weihnachten mit Thomas Müller“ mit einer Prise „Tintenherz“, „Die Chroniken von Narnia“ und „Aschenputtel“ und natürlich wohnt der Geschichte auch der ganz eigene Rowling-Charme inne, wie man ihn aus „Harry Potter“ und dem „Ickabog“ bereits kennt. Jedenfalls stellt Rowling einmal mehr unter Beweis, dass Kindergeschichten, die auch Erwachsene verzaubern, einfach ihr Ding sind.

Titelbild

Joanne K. Rowling: Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein.
Mit Illustrationen von Jim Field.
Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger.
Carlsen Verlag, Hamburg 2021.
336 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783551557513

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