Brücken bauen – mit Nepomuk
Barbara von Schnurbein gibt mit „Nepomuk auf der Brücke“ Siegfried von Vegesacks letzten Roman heraus
Von Klaus Hübner
Siegfried von Vegesack (1888–1974) hinterließ ein gewaltiges literarisches und journalistisches Werk und war zu seinen Lebzeiten durchaus nicht unbekannt. Leider zählt auch er zu den allzu vielen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, die heute kaum noch gelesen werden. Von 1918 bis zu seinem Tod lebte der Literat im Turm neben der Burg Weißenstein bei Regen im Bayerischen Wald. Weit über den „Woid“ hinaus kennt man immer noch wenigstens den Titel seines lesenswerten Romans von 1932: Das fressende Haus. So nennt man den Turm noch heute, und deshalb taucht im Namen des in Regen ansässigen Fördervereins Weißensteiner Burgkasten auch der Zusatz „Rettet das fressende Haus“ auf. Dieser Verein gibt seit 2017 eine interessante Buchreihe heraus, die Weißensteiner Miniaturen. Sie dokumentiert das Werk des Siegfried von Vegesack und seiner ersten Frau Clara Nordström, macht unveröffentlichte Texte und Dokumente aus dem Vereinsarchiv bekannt und führt das abwechslungsreiche Leben im alten Burgturm plastisch vor Augen.
Dachte man bisher, der Autor habe mit dem 1967 publizierten Roman Die Überfahrt sein reichhaltiges literarisches Schaffen abgeschlossen, ist man nun mit der Erstveröffentlichung eines 2019 entdeckten Romanmanuskripts konfrontiert, das einige Überraschungen bietet und den alten Dichter noch einmal in Höchstform zeigt: Nepomuk auf der Brücke. Dreizehn Kapitel und ein kurzes Nachwort. Ein zeittypischer Roman, getragen von der eher melancholischen Kulturkritik der 1950er-Jahre, mit pazifistischen und ökologiebewussten Passagen, in erster Linie aber ein religiöser Roman eines Gottsuchers, von Wiederholungen nicht frei und dennoch im Kern überzeugend. Und souverän erzählt.
Die Geschichte spielt in Zwiestadt. Und weil die Stadt Regen hinter diesem fiktiven Namen leicht zu erkennen ist, sind dem Buch eine ganze Menge historischer Fotos beigegeben. Zwiestadt ist geteilt, durch den Fluss und durch einen bewachten Schlagbaum auf der Brücke – wie auch Europa bis 1990 geteilt war. In Sichtweite des Brückenheiligen lebt der Erzähler, der Apotheker Johannes, genannt Nepomuk, ein kluger Kopf und feinfühliger Mensch, der sich in seiner Gegenwart nicht mehr so ganz zurechtfindet und über Gott, Glauben, Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden, vor allem aber über Tod und Sterben nachdenkt. „Ich sitze da, rauche meine Pfeife, blinzle in die Sonne, denke dies und das, und manchmal auch gar nichts. Was soll man denn immerzu denken? Warum soll man nicht einfach so dasein?“.
Einfach so jedoch geht nicht, auch weil da stets die Erinnerung ist, vor allem an den im Krieg vermissten Sohn – ein autobiografisch motiviertes Grundmotiv bei Vegesack. Und, damit zusammenhängend, das Nachdenken über die zwölf dunklen Jahre: „Wer ist nicht schuld? Wir alle haben geschwiegen“ – Romansätze, die ähnlich klingen wie Vegesacks Brief an Thomas Mann vom 17. Juli 1947, den Barbara von Schnurbein in ihrem sehr instruktiven Editionsbericht zitiert:
Von der großen allgemeinen Schuld aller Deutschen, geschwiegen zu haben, möchte ich mich keineswegs ausnehmen. Ich erkenne diese Schuld vor Gott und vor meinem Gewissen an, nicht aber vor einem selbsternannten Richter wie Thomas Mann.
Im Laufe der durchaus vorhandenen Romanhandlung – beeindruckend das neunte Kapitel, in dem die „Leichen-Leni“ ihren Auftritt hat, und das zehnte, das Bahnhofs-Kapitel – stellt sich immer deutlicher heraus, dass die Frage, wie man heutzutage ein „guter Christ“ sein kann, für Nepomuk entscheidend ist. Was er darüber äußert, in Rede und Gegenrede, ist nach wie vor aktuell – und spannend zu lesen. „Früher, zu deiner Zeit, war die Welt noch heil und ganz“, sagt der Apotheker zum Heiligen. „Es gab nur eine Wahrheit, nur einen Glauben. Jetzt aber hat man auch die Wahrheit gespalten, sodass es nur noch Halbwahrheiten gibt – hier die eine, und drüben die andere“.
Dass es auch früher nicht so einfach war mit der Wahrheit und dass gerade die Figur des 1393 in der Moldau versenkten Prager Generalvikars Johannes Welflin, der erst 1729 von Papst Benedikt XIII. heiliggesprochen wurde, von Fiktionen, Legenden und Halbwahrheiten umstellt ist, war kürzlich Schwerpunktthema der wunderbaren Kulturzeitschrift Sudetenland (1–2/2021). Der Patron der Beichtväter und der Schiffer, der auch vor übler Nachrede schützen soll – vor Klatsch und Tratsch, Mobbing und Shitstorm –, ist eine historisch höchst umstrittene Gestalt. Dass die Geschichte vom verschwiegenen Beichtvater der Königin höchstwahrscheinlich falsch ist, tat allerdings der Nepomuk-Verehrung keinen Abbruch, wie der tschechische Historiker Vít Vlnas feststellt:
Der Nepomuk-Kult entwickelte sich zu einem bedeutenden kulturellen Phänomen des Hoch- und Spätbarocks, das die Grenzen Mitteleuropas überschritt. Eine charakteristische Manifestation dieses Kultes war die Einrichtung von Heiligenstatuen auf Brücken und in der Nähe von Wasserläufen und -flächen. Die Statue auf der Prager Karlsbrücke aus dem Jahr 1683 diente hier als Vorbild.
Womit wir wieder in Zwiestadt wären und bei Siegfried von Vegesack, dem es nach dem Zweiten Weltkrieg ein Anliegen war, die „Spaltung der Erde und des Menschen“ zu überwinden und Brücken zu bauen, Brücken zwischen den Völkern, Brücken zwischen den Herzen. Mit seinem späten Nepomuk-Roman hat er das noch einmal versucht. Zum Glück.
![]() | ||
|
||
![]() |