Ein Auftrag, eine Fotoschachtel

Mit „Der Auftrag“ und „Das Kind und die Fotoschachtel“ erscheinen zwei neue Bücher von Francesco Micieli

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was der Berner Theaterregisseur, Schauspieler, Hochschuldozent und Autor Francesco Micieli täglich erlebt, notiert er in Form von Gedichten. Das war nicht immer so, und wenn doch, wusste man nichts davon. Seit 1986 war ein beachtliches, vielfach ausgezeichnetes und in zahlreiche Sprachen übersetztes Prosawerk entstanden, darunter Meisterstücke wie Schwazzenbach (2012) oder Hundert Tage mit meiner Grossmutter (2016). Micielis Hinwendung zur Lyrik wurde erst 2018 öffentlich – das Publikum staunte über seine fulminanten, nicht nur für Kinder gedachten Kindergedichte, es gab begeisterte Kritiken und einige Ehrungen mehr.

Gedichte, eher lyrische Notate bietet auch sein jüngster Band Der Auftrag. Hier spricht eine Instanz oder Person, die relativ gesichtslos bleibt: „Man nennt mich Helena / Möglich, dass dies mein Name ist“. Sie glaubt, einen Auftrag zu haben, von dem die Lesenden weder den Inhalt noch den Auftraggeber kennen. Doch sie tut so, als agiere sie als deren enge Vertraute, und ihre Mitteilungen ziehen die Adressaten in ein Geschehen hinein, das einigermaßen rätselhaft bleibt. Man wird quasi gezwungen, über den Auftrag zu spekulieren und zum Komplizen des lyrischen Ichs zu werden. „Ich bleibe auf meinem Posten / mit dem Willen, zu verteidigen / auch wenn ich nicht weiss, was und warum“, heißt es einmal im Zusammenhang mit dem ominösen Auftrag. Oder: „Ich habe den Auftrag / auswendig gelernt, damit sie / ihn nicht finden, damit sie / nicht wissen, dass es ihn gibt“. Irgendwo da draußen also sind „sie“, und gegen „sie“ hat man sich zu verteidigen. Geht es, wie mehrfach angedeutet, um lebensgefährliche Viren oder um die Autoritäten, die Maßnahmen gegen sie durchzusetzen haben? Oder um beides?

„Die Texte arbeiten am Bericht über die Haarrisse auf den Bildern des Alltags und am Bericht über die leise Zerstörung des Daseins“, sagt Francesco Micieli. Das löst die Rätsel nicht recht auf. Klar ist, dass die Corona-Monate eine zentrale Rolle spielen. Als Schauplatz des Geschehens kann man Bern vermuten („Bundeshaus“), aber das ist nicht zwingend. Geister kommen mehrfach vor, Masken und Abstandsregelungen – „Wir messen den Abstand / die Zeit und die Einmeterfünfzig“. Abstände sind einzuhalten, Ausgangsregeln sind bei Gefängnisstrafe zu beachten, im Café muss man sich registrieren lassen. „Draussen, da sei es weniger gefährlich“. Die Verunsicherung ist allenthalben spürbar: „Noch bleibt ungeklärt / wer wen wie viel ansteckt“. Und die Zwangsisolation macht viele Menschen krank: „Zwanzig Tage war ich nicht mehr draussen / und habe mir die Hände so häufig gewaschen / wie Pilatus spüre ich sie nicht mehr“. Trost oder gar Rettung scheinen fern, selbst die vertrauten Bücher helfen nicht immer weiter – zwischen ihnen, so wird gesagt, hängt jetzt die Maske. Das wird nüchtern und sachlich festgehalten, ohne anklagenden Gestus und ohne politische Parteinahme.

Dennoch wäre Micieli nicht Micieli, wenn nicht immer wieder einige seiner literarischen Säulenheiligen auftauchten, Natalia Ginzburg oder Roland Barthes, Max Frisch oder Gerhard Meier, Ungaretti oder Fontenelle. Nachdenkenswerte, zerbrechlich flirrende lyrische Gebilde werden uns mit dem Auftrag geschenkt, darunter ganz zauberhafte Gedichte wie Meer

Schau das Meer, flüstern mir
die Geister, als ich die Plastikblumen
vor dem Grabstein meiner Mutter
– ach, warst du jung, so jung –
in eine Vase stecke, beim nächsten
Wind werden sie wegfliegen
Schau das Meer vom Friedhof aus
Die Geister nehmen den Schulbus und werden
Kinder mit Masken mit grossen Büchern
unter den Armen, die geschriebenen Wörter
fallen ihnen aus den Seiten.

Ein großartiges Gedicht, das genau jene Prise an poetischem Überschuss bietet, die zum Immer-Wieder- und Immer-Neu-Lesen zwingt. Meer steht hier nur als Beispiel – es gibt mehr als genug gute Poesie in diesem Gedichtband. 

Das Dorf Santa Sofia d’Epiro, in dem Francesco Micieli 1956 geboren wurde, liegt im tiefen Süden von Italien und hat eine ganz besondere Geschichte. Dort wohnen viele Nachfahren von Albanern, die auf der Flucht vor den osmanischen Heeren vor mehr als fünf Jahrhunderten über die Adria geflüchtet sind. Bis heute haben sie ihre Religion, manche Gebräuche und vor allem ihre Sprache bewahren können, ein altertümliches Albanisch, das man „Arberëshe“ nennt. 

„Die doppelte Fremdheit, die sich für solche Menschen einstellte, wenn sie auswanderten“ – darum geht es in Micielis Gesamtwerk und darum geht es auch in seinem zusammen mit Markus Baumann verwirklichten Buch Das Kind und die Fotoschachtel. Voraus ging ihm das Auffinden einer Archivschachtel voller Fotografien aus den 1950er-, mehr noch aus den 1960er-Jahren. Es sind unglaubliche, faszinierende Fotos, die ein ganz besonderes Licht haben, „ein Licht, das erst jetzt bei uns ankommt“, wie der Autor schreibt. „Die Fotografien sind Küchenschaben. / Sie kriechen in alle Ritzen / und Winkel der Erinnerung. / Untermieter ohne Vertrag“. Man kann, ja, man muss mit ihnen auf eine Traumreise gehen, in ein anderes Land und eine andere Zeit. Francesco Micieli hat passende Zeilen für jedes dieser Fotos gefunden, und weil sie seine eigene Kindheit evozieren und umspielen, betrachtet er sie mit den Augen des Kindes, das er einmal war – und zugleich mit denen eines gereiften Dichters: „Die Gesichter der Menschen / seien nicht wie echte Gesichter, sagt das Kind. / Sie sind aus einer anderen Zeit, / sagt die Schachtel“. Derart markante Gesichter wie auf diesen Fotografien gibt es heute nicht mehr, auch solche Friseurläden, solche Musikanten, solche Marienprozessionen und solche Dorfszenen gibt es nicht mehr. Und von harter Arbeit geformte wunderschöne Kulturlandschaften wie die um Santa Sofia d’Epiro herum vielleicht auch schon nicht mehr. 

Dem Autor war es wichtig, seine lyrischen Bildunterschriften in zwei Sprachen zu veröffentlichen, auf Deutsch und eben auch in seiner ersten Muttersprache. Über seine Schwierigkeiten, dieses Arberëshe adäquat zu verschriftlichen, berichtet er kurz in der Einleitung: „Was tun, wenn mir die Wörter fehlen? […] Was Sie hier an Arberëshe-Texten vorfinden, ist eine Mischung. 85% sind aber Muttersprache, und das ist schon nicht so schlecht“. Inwiefern das Verschriftlichen einer nur gesprochen existierenden Sprache gelungen ist, kann der Rezensent nicht beurteilen. Der Versuch jedenfalls ist äußerst sympathisch, und er passt genau zum Lebensthema dieses hauptsächlich im Emmental aufgewachsenen Albano-Italieners, der zu einem bedeutenden Schweizer Dichter wurde: Fremdheit, doppelte Fremdheit, und der schwierige Umgang mit ihr. Eine wunderbare, eine bestechende, eine grandiose Buchidee! Bedauerlich ist nur, dass der Verlag auf genaueres Korrekturlesen verzichtet hat, was naturgemäß die Lesefreude nicht erhöht. Doch es bleiben sensible lyrische Notate und über neunzig gut reproduzierte Fotos. Beeindruckende, irritierende, verzaubernde Fotos, die man nicht vergisst.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zuerst in viceversaliteratur.

Titelbild

Francesco Micieli: Der Auftrag. Gedichte.
verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2021.
96 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783038670346

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Francesco Micieli: Das Kind und die Fotoschachtel.
Mäd Book Verlag, Basel 2021.
96 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783906172132

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