Über den schalen Tod

Der Literaturtheoretiker Fredric Jameson schreibt über „Raymond Chandler“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chandler mit Heidegger lesen? Mit Barthes Chandler besser verstehen? Die Anwendung moderner Literaturtheorien auf das moderne Krimigenre und auf einen seiner vornehmsten Vertreter, Raymond Chandler, verspricht einerseits kaum Überraschungen, weil der Krimi als Genre ästhetisch als zweitrangig, weil mit geschlossener Form und festen Grundmustern versehen, gilt. Das stimmt für Chandler, der mit Romanen wie The Big Sleep (1939), The High Window (1942) oder The Long Good-Bye (1953) zu den Mitbegründern des Hard boiled-Krimis gehörte, nur bedingt. Denn immerhin sind die Modifikationen, die er dem Genre hat angedeihen lassen, mehr als nur marginal. Was eben auch bedeutet, dass sich andererseits doch weitreichende Erträge erwarten lassen, ist eine thematische Korrespondenz des Krimis mit der Moderne doch offensichtlich. Gerade seine Hard boiled-Fassungen, deren Hochphase in den 1930er bis 1950er Jahren liegt, werden habituell als adäquate Reaktionen auf Modernität insgesamt verstanden – der kalte Habitus als soziale Passform ist etwa zentrales Thema in Helmut Lethens Studien in den Verhaltenslehren der Kälte aus dem Jahr 1994, die nicht zuletzt den Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft weg von der Ideologiekritik anzeigt (zu deren wichtigsten Repräsentanten Lethen selbst gehört hatte).

Wenn nun Fredric Jameson seine bereits früher niedergelegten Ansichten zu Chandler aktualisiert, mag man das als späte Reaktion auf das sich verstärkende Interesse der Literaturwissenschaft auch an vermeintlich ästhetisch nachrangigen Texten wahrnehmen. Der ewigen Goethe-, Kafka-, Hölderlin- und Brechtstudien müde geraten populärliterarische Größen wie Chandler oder Hammett in den Fokus. Andererseits gehört der 1934 geborene Jameson zu den profiliertesten Literaturwissenschaftlern der jüngeren Vergangenheit: Er ist einerseits marxistisch geprägt, hat sich aber andererseits früh intensiv mit dem, was Postmoderne heißt, beschäftigt, was eine gewisse Affinität zur Unterhaltungsliteratur nahelegt.

Dass er dabei schon früh eine ambivalente Position zur Postmoderne einnahm, macht sich nun auch in diesen Studien bemerkbar, die sich als nichts minderes denn als „Ermittlungen der Totalität“ verstehen. Es geht Jameson mithin um nicht weniger als das Große und Ganze, wenn auch indirekt über Chandlers Romane.

Dabei wird man die grundlegend kritische Haltung Jamesons zur kapitalistischen Gesellschaft in Rechnung stellen, der er, vermittelt über eine mehrfach gebrochene marxistische Theorie, eine grundsätzlich enthumanisierende, unterdrückende Qualität zuschreibt. In diesem Kontext ist es nicht erstaunlich, dass er ‚kein richtiges Leben im falschen‘ erkennen kann (auch wenn er in den einschlägigen Abschnitten zum Leben in der kapitalistischen Moderne, die er in seiner Modernestudie als identisch verstanden hat, den fast zwingenden Adorno nicht zitiert). Mehr noch, ihn scheint es vor den Versuchen, sich irgendwie in den bestehenden Verhältnissen einzurichten, im allgemeinen wie im konkret möblierten Sinne, geradezu zu ekeln. Die Vitalität dessen, was sich als Kapitalismus stets schon und das seit Jahrzehnten in der Krise und im Niedergang befindet, muss deshalb den Theoretiker zugleich nachhaltend befremden. Allerdings mit aufschlussreichen Folgen für seine Durcharbeitung des Chandler‘schen Materials.

Denn statt sich an den irritierenden bis befremdenden sozialen Einrichtungen abzuarbeiten, entwickelt er auf rund 150 handlichen Seiten ein soziales Raumkonzept in Chandlers Erzählungen und Romanen, das Kernembleme der Moderne- wie Postmodernediskussion aufnimmt und weiterentwickelt. 

Und da steht der Schaucharakter des modernen Lebens – in der Fassung der späten 1930er bis 1950er Jahre bei Chandler – im Vordergrund. Die Künstlichkeit der sozialen Ordnung Südkaliforniens, schreibt Jameson, werde in jedem Augenblick unterstrichen. Niemand käme mithin auf die Idee, sie für „natürlich“ zu halten oder als gegeben hinzunehmen. Was weit reichende Folgen für ihren Bestand hat, zumal wenn man konzediert, dass die sozialen Einrichtungen und Muster Chandlers eine Reihe von Friktionen und Extreme enthalten, die aus heutiger Sicht kaum tolerierbar sind: die Macht einer sich kaum camouflierenden Elite, die chauvinistischen Tendenzen oder das kaum verhohlene Geschlechtergefälle etwa. 

An anderer Stelle weist er darauf hin, dass die Romane sich an der Verschiebung materieller Bedürfnisse und Interessen auf deren symbolische Aushandlung abarbeiten, was den vorgeblich realistischen Duktus der Chandlerschen Prosa suspendiert. 

In dessen Zentrum steht deshalb mit gutem Grund das Skandalon des Todes, das eben aus seiner extraordinären Position zu einem beiläufigen, sinnentleerten Faktum reduziert wird. Auf diese existenzielle Lektüre lässt sich anscheinend denn Jamesons Lektüre Chandlers (sicherlich verkürzt) zuspitzen, eben nicht nur, weil Jameson mit einigen Bemerkungen endet, in denen der „schale Tod“ „die Hand nach dem Lebendigen ausstreckt, um es an den Moder seiner eigenen Ruhestatt zu erinnern“. Wer es sich zu gut sein lässt, wird daran erinnert, dass es eben doch das Falsche ist, in dem er lebt. Das Richtige mag da noch kommen – oder eben nicht, wie resigniert einzuräumen ist.

Titelbild

Frederic Jameson: Raymond Chandler. Ermittlungen der Totalität.
Aus dem Englischen von Horst Brühmann.
Konstanz University Press, Konstanz 2021.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835391406

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