Dreizehn Literaten von gestern für heute

Kurt Oesterles „Eine Stunde ein Jude“ beinhaltet Geschichten gegen Antisemitismus von Johann Peter Hebel bis Ricarda Huch und Franz Fühmann

Von Christa HagmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christa Hagmeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein neuestes Buch legt uns der Tübinger Autor und Journalist Kurt Oesterle vor: Eine Stunde ein Jude. Oesterle, Jahrgang 1955, greift in seinen Romanen und Essays gerne Themen auf, die sich manche am liebsten ersparen möchten. Er lenkt dabei nicht nur den Blick, sondern steuert auch seine eigene Haltung zu dem jeweiligen Tun und Lassen bei, schlägt Brücken von unserer Zeit zu deren Wurzeln in der Vergangenheit. In Eine Stunde ein Jude gibt er anhand literarischer Beispiele aus gut zweihundert Jahren einen Einblick in das Zusammenleben nichtjüdischer mit jüdischen Mitbürgern. Die hier getroffene Werkauswahl deckt für Oesterle „das Thema Antisemitismus in größtmöglicher Breite ab“. Dabei möchte er zu Empathie anregen, wie es schon Johann Peter Hebel mit seiner Kalendergeschichtebeabsichtigte: Eine Stunde sich in das Schicksal des andern einzufühlen, würde so manches Verhalten korrigieren. 

Wenn Oesterle Passagen aus Werken von dreizehn Autoren*innen vorstellt, von Johann Peter Hebel, Annette von Droste-Hülshoff, Gotthold Ephraim Lessing und anderen bis Friedrich Dürrenmatt, so bettet er dies in seinen anschließenden Essays in die jeweilige Zeitgeschichte ein. Er verrät dabei eine umfassende Werkkenntnis und kann deshalb schlüssig die persönliche Haltung seiner Autoren*innen benennen und von der Wirkung der Werke in ihrer Zeit und für die Nachwelt berichten. Außerdem erschließt Oesterle kulturelle Hintergründe. Da wird offengelegt, worin die Auswüchse des Antisemitismus wurzeln, so zum Beispiel in alten Legenden, die im Interesse der nichtjüdischen bzw. christlichen Mehrheitsgesellschaft zu verhängnisvollen Vorurteilen mutierten. 

Offensichtlich hat Oesterle zur Vorbereitung Bibel, Talmud, die Apogryphen gelesen, kennt die Inhalte des Chaissidismus, mutete sich christliche Hetzschriften zu und hat außerdem die Korrespondenz und Rezeptionsgeschichte seiner dreizehn Autoren*innen durchforscht. Bewusst beschränkte er sich auf nichtjüdische Autoren*innen; damit wird deren Wahrnehmung und Wirkungsabsicht im eigenen kulturellen Umfeld deutlich. Hier wird ein in der Welt einmaliges Phänomen aufgeblättert, der Judenhass, der unter dem wissenschaftlich klingenden Begriff „Antisemitismus“ eher abgeschwächt aufzutreten scheint.

Johann Peter Hebel (1760–1826) aber hielt seine Umwelt der Einsicht für fähig, als er mit seiner Kalendergeschichte Glimpf geht über Schimpf dem einfachen Volk dessen gedankenlose Judenfeindlichkeit vorführte. Oder ist die Gesellschaft als Ganzes unbelehrbar, ist das Böse „im Holz“ unseres Wesens, wie die (sprachmächtige) Kinderfantasie Das Judenauto von Franz Fühmann (1922–1984) und Fühmanns Selbstanalyse an anderer Stelle erwägen lassen? Oesterle: „Radikal und ehrlich wie kein zweiter Autor in Ost und West hat Fühmann gewissermaßen erzählend das Unmenschlichkeitspotential herauspräpariert, das durch Prägung und Neigung einst in ihm angelegt war.“ Ein Beispiel, wie Oesterle für seine persönliche Stellungnahme das Gesamtwerk seiner Autoren*innen heranzieht und so Entwicklungen aufzeigen kann.

Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), wer hat sie in der Schulzeit nicht gelesen, diese düstere, tragische Geschichte. In der Novelle wird Friedrich des Mordes an dem jüdischen Händler Aaron verdächtigt. Er flieht, kommt nach Jahrzehnten unter falschem Namen zurück, aber etwas zieht ihn doch an den Ort seines Verbrechens. Die Dichterin lässt die Tatbestände bis zum Schluss in der Schwebe; sie scheint sich einer Wertung zu enthalten, ihre atmosphärische Schilderung ergibt jedoch ein detailliertes Zeitgemälde. Wenn es sich beim Opfer um einen Juden handelt, besteht gesellschaftlich offensichtlich kein großes Interesse an einer Aufklärung. Weder Friedrichs Lebensstil noch seine Schulden geben Friedrich zu denken; den legitimen Anspruch seines jüdischen Gläubigers empfindet er als „große unerträgliche Schmach“. Aber die Dichterin lenkt das Augenmerk nicht einseitig auf ihren Protagonisten; es wird deutlich, dass dieser jugendliche Täter geprägt war von seinem gesellschaftlichen Umfeld, wo Wilderei, Holzdiebstahl gang und gäbe waren, auch öffentliche Spottrufe wie: „Packt den Juden, wiegt ihn gegen ein Schwein!“ Auch bei den direkten Bezugspersonen konnte der junge Mann keine gute Orientierung finden, wenn die eigene Mutter eine Untat gegen Juden verharmlost: „Die Juden sind alle Schelme.“

Die humane Haltung der Dichterin macht Oesterle an Drostes Gedichten fest, an der „Kraft der Poesie als Gegenentwurf zur Wirklichkeit“. Aber trotzdem urteilt Oesterle: „Ja, die Droste scheint den christlichen Antijudaismus als Wurzel sämtlicher judenfeindlicher Übel der neueren Geschichte gar nicht durchschaut zu haben!“ Dann ist da noch dieser in die Buchenrinde geschnittene, orakelhafte Satz, den die Dichterin in hebräischen Schriftzeichen in ihren Text eingefügt hatte (dt.: „Wenn du an diesem Ort stehst, wird dich treffen, was du mir getan hast.“) Dazu Oesterle: „Allein schon mit deren Einblendung erweist die Droste dem Judentum einen ganz besonderen Respekt. Ihr Lesepublikum aber überrascht sie bis heute damit, weil sie es zur Konfrontation mit dem Fremden im Vertrauten zwingt…“ Dies sei nach Oesterles Einschätzung nur dank einer engen Verbindung der Dichterin zur jüdischen Minderheit möglich gewesen. Die Dichterin stand in brieflichem Kontakt mit dem jüdischen Arzt und Psychiater Alexander Haindorf, einem Vordenker der Judenemanzipation im Rheinland und in Westfalen, erklärt uns Oesterle.

Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) – hier wählt Oesterle mit dem Blick auf das Theater jener Zeit nicht den Nathan, sondern ein Jugendwerk des Aufklärers, das Lustspiel Die Juden. Erstmals führt der erst zwanzigjährige Lessing einen Juden als gleichberechtigte, sogar überlegene Bühnenfigur vor und tradiert nicht die damals übliche Verspottung. Oesterles Analyse hierzu mit einem vergleichenden Seitenblick auf diese Epoche: „Aufklärung geht ohne eine Basishumanität in die Irre“. Auch Friedrich Hebbel (1813–1863) besetzt in seiner Tragödie Judith erstmals eine Heldenrolle mit einer Jüdin. Oesterle sieht in der apogryphischen Geschichte mehr als Interpretationen, die lediglich psychoanalytische und feministische Impulse benennen (Judith rettet ihr Volk, indem sie den assyrischen Feldherrn Holofernes tötet).

Die Rolle des Christentums darf in diesem Kanon nicht fehlen, und dafür steht in Oesterles Reihe der Historiker und Schriftsteller Ferdinand Gregorovius (1821–1891) mit Der Ghetto und die Juden in Rom. In dem „Judenzwinger“ (Bez. v. Gregorovius) am Tiber wohnten demnach bis in die Neuzeit die Nachkommen jener jüdischen Sklaven, die von den Römern nach der Zerstörung von Jerusalem um das Jahr 70 nach Rom verschleppt worden waren. Jahrhundertelange Entrechtung folgte auch im Zeichen des Kreuzes – Gregorovius dokumentiert sie, die Machtspiele des Klerus, die Zwangstaufen und Berufsverbote für Juden, hält diese Leiden aber für überwunden. Welcher Irrtum! Oesterle schlägt den Bogen zu den „deutschen Judenjägern und ihren Kollaborateuren“, die um die Jahreswende 1943 mehr als zweitausend Juden Roms einsperrten und in die KZ-Lager nach Osten deportierten. Wie nahe rückt Geschichte, wenn man nachgräbt. Oesterle legt offen, dass der Hauptverantwortliche der „Judenrazzien“ von Rom, der junge SS-Offizier Theodor Dannecker, 1913 in Tübingen geboren, als „geschätzter Mitarbeiter Adolf Eichmanns“ galt. 

Diese Haltung Oesterles, sich einzubringen, Stellung zu beziehen, durchzieht sein Werk. Neben den teils positiven Impulsen und Wirkungsgeschichten der behandelten Autoren stellt Oesterle auch den schwäbischen Romantiker Wilhelm Hauff (1802–1827) vor, dessen Novelle Jud Süß über hundert Jahre lang viel gelesen wurde, dann nazistisch instrumentalisiert wurde. Oesterle verweist auf die historische Quelle zu Jud Süß (Hoffaktor Joseph Süß Oppenheimer, 1698–1738) und schildert den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund von Hauff. Oesterle benennt die damals zwar neuen, aber weiterhin sehr dürftig gestalteten Bürger- und Menschenrechte für Juden. Und er wählt absichtsvoll eine sehr poetische Passage aus – die Szene von einem unglücklichen Stelldichein der hübschen Jüdin Lea mit dem Christen Gustav. Oesterle konstatiert, dass ein Dichter auf den Pfaden der Poesie ein ungetrübtes Urteilsvermögen haben kann („ein ausgezeichneter Epiker, wenn er seinem Instinkt vertraut“), selbst wenn er in der Hauptsache und im Alltag ein Kind seiner Zeit bleibt. Oesterle ist überzeugt: „Lea ist eine Kontrastfigur, und wird von ihrem Schöpfer ohne jede Dämonie gezeichnet, ja, fast in pathetischer Überhöhung. An ihr soll der Typus hervortreten, der harmonisch mit der Mehrheitsgesellschaft zusammenleben kann…“ Aber Oesterle beurteilt doch klar Hauffs Haltung:

Die zentrale Botschaft dieser Novelle ist denn auch eine Warnung und lautet: Lasst einen wie Süß-Oppenheimer nicht in Staat und Gesellschaft aufsteigen und haltet ihn fern von der Macht. Zur Abschreckung eröffnet Hauff ein Sündenregister, das nur monströs zu nennen ist und den Jud Süß hemmungslos antisemitisch verzerrt…. Auf derartigen Vorwürfen konnte das Goebbels-Kino mühelos weiterbauen … [Anm.: Film Jud Süß des NS-Star-Regisseurs Veit Harlan, bei der Biennale Venedig 1940 uraufgeführt]

Den über seine Zeit hinaus gefeierten, patriotischen Unterhaltungsautor Ludwig Ganghofer (1855–1920) lernen wir in Der laufende Berg überraschenderweise als sensiblen Judenfreund kennen. Der aus Ostpreußen stammende, später in der DDR lebende Autor Johannes Bobrowski (1917–1965) hält in Lewins Mühle entgegen der Alltagserfahrung an der Utopie fest, die Gemeinschaft sei zur Solidarität fähig. 

Oesterles Autor*innen (außer den oben Erwähnten noch Adalbert Stifter, Ricarda Huch, Gertrud von le Fort, Friedrich Dürrenmatt) brachten sich ein mit Zeugnis oder Fiktion, im Zeitgeist oder mit Utopie, mit der Kraft der Poesie, und doch konnte Literatur die Shoa nicht verhindern, und die böse Saat geht immer noch auf. Deshalb ist Oesterles Buch nötig! Oesterle zeigt zum einen auf, wie unsinnig, menschenverachtend der Judenhass ist. Österles intensive Auseinandersetzung bietet auch Hinweise, wie diese Werke heute zu lesen sind, um zu einer unserer Zeit dienlichen Bewertung zu kommen.

Wann hat Oesterle eigentlich mit diesem Werk begonnen? Inzwischen ist es noch in eine weitere Dimension hineingewachsen, denn unsere Gegenwart hat den historischen fanatischen Ausschlägen nun den sich über alles erhebenden, selbstgerechten und konsumorientierten Individualismus hinzugefügt. Die Gesellschaft wird gespalten, hört man; in diffusen Ängsten ist sie nicht gefeit gegen Verblendung und Fanatismus. Oesterle hält dagegen mit „Sympathie ist positive Unvoreingenommenheit gegen jedermann“ – und dies ist die notwendige Grundhaltung, um jedwede Ausgrenzung zu erkennen und ihr entgegenzuwirken, wenn „eine unbewusst gebliebene Judenfeindschaft hervorblitzt“. In seinem Vorwort erörtert er, Antisemitismus habe „inzwischen in einer Breite wie noch nie seit der Wiedervereinigung die gesellschaftliche Mitte erreicht“. Oesterle beschreibt den neu aufgekommenen Empathie-Mangel der „Gelegenheitsantisemiten, die Juden gegenüber eher ambivalent und indifferent, eher gehässig als hasserfüllt sind“; diese hofft er mit seinem Buch zu erreichen.

Bei seinen dreizehn Kostproben inklusive seiner Deutung geht es „um Lesen für die Gegenwart“, um „Selbstbegegnung beim Lesen“. Dem Buch sind viele Leser*innen zu wünschen; sie werden nicht nur literarischen Werken (wieder)begegnen und eine zeitliche Zusammenschau gewinnen. Sie können an einer Linie engagierter Auseinandersetzung teilhaben. Sich selbst einzubringen – dazu kann Oesterle anregen. ‚Eine Stunde‘ kann dabei schon viel verändern.

Titelbild

Kurt Oesterle: 'Eine Stunde ein Jude'. Geschichten gegen Antisemitismus von Johann Peter Hebel bis Ricarda Huch und Franz Fühmann.
Hirzel Verlag, Stuttgart 2021.
292 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783777629216

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