Ein wilder Detektiv

Der portugiesische Surrealist Al Berto erschreibt sich „Ein Dasein aus Papier“ – seine Werkausgabe in deutscher Übersetzung findet mit diesen Gedichten aus den 1980er Jahren ihren Abschluss

Von Maximilian MengeringhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Mengeringhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Curt Meyer-Clason, der Doyen aller deutsch-lusophonen Literaturvermittlung, 1993 die Anthologie Portugiesische Lyrik des 20. Jahrhunderts kompilierte, bekannte er zu Beginn seines Nachworts, dass es durchaus Vorbehalte gegenüber diesem Unterfangen gegeben habe. So verweigerten zwei Autoren, die Meyer-Clason gerne mit Gedichten vertreten gesehen hätte, die Teilnahme an dem Projekt. Denn einen Dichter dürfe man, so die unisone Begründung, niemals auszugsweise, sondern ausschließlich im Kontext seines Gesamtwerks lesen. Nur wer sämtliche Gedichte studiert habe, erkenne die Fülle an Bezügen und wiederkehrenden Motiven, die im einzelnen Versgebilde zusammenlaufen. Welcher Verlag aber nimmt das ebenso kostspielige wie oftmals leider undankbare Unterfangen auf sich, das gesamte Lyrik-Œuvre eines hierzulande gänzlich unbekannten Autors zu publizieren? Antwort: Der Elfenbein Verlag aus Berlin.

Nach über 20 Jahren – und gefördert durch zwei Gastlandauftritte Portugals auf der Frankfurter und Leipziger Buchmesse – beschließt man dort mit Ein Dasein aus Papier die Werkausgabe des spätsurrealistischen Undergroundpoeten Al Berto. In Portugal ein Kultautor, wenn man dem Verlag Glauben schenken mag – wofür tatsächlich spricht, dass er in Meyer-Clasons offiziösem Pantheon fehlte. Mit den Gedichtsammlungen aus den 1980er Jahren liegt nun das lyrische und epische Hauptwerk ins Deutsche übertragen vor. Manch Verstreutes also mag fehlen, auf Vollständigkeit wurde verzichtet, wie zwischen den Zeilen zu lesen ist. Um einen differenzierten Eindruck vom Schaffen Al Bertos zu gewinnen, reichen die vier Bände – ein (Schlüssel-)Roman und drei Kollektionen Lyrik – allemal. Schließlich hat der Verlag sich entschieden, keine eigene Auswahl zu treffen und eine solche nach Gutdünken zu arrangieren. Stattdessen wurden die von Al Berto autorisierten Bücher als Ganze bestehen gelassen und derart im ursprünglichen Zusammenhang übersetzt. Alles andere wäre bei diesem Dichter, der bevorzugt in Zyklen schrieb, auch der Werkverstümmelung gleichgekommen. Erst Al Bertos letzte Gedichte aus dem Band Garten der Flammen, in seinem Todesjahr 1997 erschienen, tragen durchweg Einzeltitel; zuvor setzte er all seine Energie in kleine Komplexe von fünf bis zwölf Texten.

In Ein Dasein aus Papier hören diese auf Kapitelüberschriften wie Einsiedelei, Die Tage ohne jemanden oder auch Mein einziger Freund. Fremdbestimmte wie selbstgewählte Einsamkeit – und aus diesem ambivalenten Refugium heraus immer wieder der Versuch, dichtend über sich selbst Klarheit zu erlangen – deklinieren die Gedichte, die nicht selten weit in die Kindheit ausholen, freilich ohne jemals konkret im Sinne einer Autobiographie zu werden:

komm mit mir
die gedächtnislose kunst dessen zu pflegen der wartet
auf man weiß nicht was neben dem fenster
ich ziehe mich in mich zurück
als schlösse ich eine schublade für immer
ginge dort entlang wo ein taschentuch fiel
doch ich hebe den blick
wenn der sommer ins zimmer kommt und
dieses bescheidene dasein aus papier offenbart

Als Al Berto an Lymphdrüsenkrebs starb, war er gerade einmal 49 Jahre alt. In gut betuchter Familie aufgewachsen, ging er zwanzigjährig ins Exil nach Brüssel und kehrte nach der Nelkenrevolution zunächst nach Sines an der südlichen Westküste Portugals, wo er Kindheit und Jugend verbracht hatte, zurück. Er hatte Malerei studiert, wandte sich von dieser zugunsten der Dichtung aber bald ab. Ein durchwachsen-kitschiges Biopic von 2017, das seinen Namen trägt, beleuchtet immerhin recht eindrücklich die schwierigen Umstände eines anhaltenden Konservativismus repressivster Couleur, mit denen sich der offen homosexuell lebende Bohemien auch nach dem Ende des Estado Novo konfrontiert sah.

Für die Übertragung ins Deutsche zeichnet der umtriebige Michael Kegler verantwortlich. Ihm gelingt es, einen spezifischen Sound zu finden, ohne die Tonalität des Portugiesischen zwanghaft kopieren zu wollen. So viele „a“s und „o“s hätte das Deutsche auch gar nicht zu bieten. Was derweil nichts macht, denn wie auch der Rest der Werkausgabe präsentiert sich das Buch löblicherweise zweisprachig. Allein die Gegenüberstellung von Ausgangs- und Zielsprache macht viele Entscheidungen transparent:

todos os cânticos no gume lunar da água
recolhes a noite da remota língua

alle gesänge auf der mondenen schneide des wassers
holst du die nacht zurück aus der fernen sprache

Kegler steuert zudem ein recht informatives Nachwort bei und behebt damit den winzigen Makel der Werkausgabe, deren Begleitschreiben bislang schonmal kryptischer klangen als Al Bertos Dichtung selbst.

Ein Dasein aus Papier versammelt die lyrische Produktion der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Gedichten aus dem Band Salz wird deutlich, dass Al Berto sich um Raffung bemüht. Die bildliche Opulenz und Sprunghaftigkeit der frühen Gedichte weicht zunehmend der Komprimierung und auch Fokussierung im Sinne eines surrealistisch geprägten Programms psychischer Tiefenbohrung. Auf das Gesamtwerk bezogen dokumentiert Ein Dasein aus Papier den dichterischen Reifungsprozess und markiert zugleich eine Übergangsphase zum opus magnum posthumum, dem Band Garten in Flammen. Dessen Gedichte zeigen Al Berto im Vollbesitz seiner Kräfte, mit punktgenauem Timing für den maximalen Eindruck einer Stimmung oder Szene. Aber auch Ein Dasein aus Papier enthält bereits Beispiele, die im Sinne der poetologischen Überzeugungen Al Bertos an Perfektion gemahnen, namentlich die Sektion Zurück zu den einfachen Geschichten. Hier blitzt sogar eine Qualität auf, die Al Bertos Dichtung ansonsten nicht unbedingt auszeichnet, nämlich Humor. Fragt man sich als Leser seines Romans Mondwechsel durchaus, worüber seine Protagonisten lachen, wo sie doch rein gar nichts zu lachen haben, spielt Zurück zu den einfachen Geschichten durchaus mit der Tragikomik der eigenen Persona:

hör zu
von heute an werde ich dich für immer verlassen
süß und leise wie einer der verse schreibt
in Portugal
du bist siebenunddreißig jahre alt wie Rimbaud
vielleicht ist es zeit anzufangen zu sterben

Das 20. Jahrhundert ist bis oben hin vollgestopft mit Poeten, die sein wollten wie Arthur Rimbaud. Al Berto, der sich oft mit ihm verglich und scheinbar noch öfter mit ihm verglichen wurde, hat vielen dieser Trittbrettfahrer voraus, dass er das Schreiben ähnlich ernst nahm wie das Junggenie aus Charleville. Wer sich davon überzeugen will, greife zur stimmig gestalteten Werkausgabe des Elfenbein Verlags, hole sich am besten alle vier Bände und lese Al Berto in seiner Entwicklung und Fülle. Zu entdecken ist, in Anlehnung an den Titel eines Romans von Roberto Bolaño, ein wilder Detektiv: ein Dichter aus innerster Überzeugung, stets auf der Suche nach dem letztlich unauslotbaren Geheimnis der Sprache.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Al Berto: Ein Dasein aus Papier. Gedichte. Portugiesisch – Deutsch.
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
Elfenbein Verlag, Berlin 2021.
200 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600335

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch