Gepriesen – verfemt – vergessen
Carola Hilmes und Ilse Nagelschmidt geben ein notwendiges Handbuch über Anna Seghers heraus
Von Hannes Krauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor fünf Jahren legten die beiden Literaturwissenschaftlerinnen Carola Hilmes (Frankfurt am Main) und Ilse Nagelschmidt (Leipzig) mit ihrem Christa Wolf-Handbuch ein Standardwerk zu einer Autorin vor, die unter den deutsch-deutschen Vereinigungswirren in Vergessenheit zu geraten drohte. Jetzt haben sie Vergleichbares über eine andere Schriftstellerin zusammengetragen, der es einst ähnlich ergangen war: Anna Seghers – für die einen Ikone, für die anderen ein rotes Tuch.
Dass sich die 1900 in Mainz geborene, 1983 in Ostberlin gestorbene Autorin nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil in der DDR niederließ (nach einigem Zögern übrigens), hat ihr der westdeutsche Kulturbetrieb so wenig verziehen wie ihre Weigerung, die sowjetische Variante des Sozialismus öffentlich zu kritisieren. Obwohl sie schon 1928 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde und 1948 mit dem Büchner-Preis, kam Anna Seghers in bundesrepublikanischen Schul-Lesebüchern nicht vor, und erst kurz vor ihrem Tod – nach jahrelangem, unwürdigem Gezänk – hat ihr die Geburtsstadt Mainz die Ehrenbürgerwürde verliehen (die Adolf Hitler übrigens erst 2002 formell entzogen wurde).
Wie auch im Falle Christa Wolfs interessierte man sich für Anna Seghers vor allem in der Auslandsgermanistik. Wichtige Monographien stammen von in den USA lehrenden Literaturwissenschaftler*innen (Helen Fehervary, Christiane Zehl Romero oder Alexander Stephan). Hierzulande wurde die Befassung mit Seghers’ Texten oft überlagert von einer ideologisch kontaminierten Verklärung der Autorin auf der einen oder ihrer nicht minder ideologischen Verdammung auf der anderen Seite. Differenzierte Analysen, die dem Werk einer der bedeutendsten deutschen Autorinnen des 20. Jahrhunderts gerecht wurden, waren selten. Zwar gibt es seit 30 Jahren die Anna-Seghers-Gesellschaft und das Jahrbuch Argonautenschiff – allerdings eher für Spezialist*innen. Das vorliegende Handbuch kann also eine Lücke schließen (falls es nicht durch seinen hohen Preis potentielle Nutzer*innen abschreckt).
Erfreulich ist, dass neben ausgewiesen Expert*innen viele jüngere Wissenschaftler*innen mitgewirkt haben. Unbelastet von den Grabenkämpfen aus der Zeit des Kalten Krieges können sie zu einem differenzierteren Urteil beitragen. Die detaillierte Analyse einzelner Werke wird ergänzt durch ein breites Spektrum biographischer, poetologischer, zeit- und kulturgeschichtlicher Hintergrundinformationen. Thematische Artikel (über Seghers’ Einstellung zu Deutschland und zum Judentum, über Geschlechterverhältnisse und die Topographie von Flucht und Exil, über ihr Interesse an China und über die Rezeption ihres Werkes in Ost und West) stehen neben Beiträgen zu Seghers’ Reden, Essays und Korrespondenzen (nicht zuletzt mit Georg Lukács). Das fügt sich zum Bild einer Autorin, deren Schreiben von antiken Mythen und Märchen ebenso beeinflusst war wie vom Expressionismus, von Kafka oder vom Existentialismus. Exemplarisch für Anna Seghers’ wache Zeitgenossenschaft sind die Spuren Franz Kafkas in ihrem Werk – von frühen Texten (wie Die Gefährten oder Der Kopflohn) über berühmte Romane (Das siebte Kreuz, Transit) bis zur posthum erschienenen Erzählung Jans muss sterben. In einer um 1972 entstandenen Erzählung (Eine Reisebegegnung) tritt Kafka neben E.T.A. Hoffmann und Nikolai Gogol sogar als Protagonist auf. Auch der Blick auf Hörspiele und andere Nebenarbeiten zeigt, wie intensiv diese Autorin alte und neue Schreibtraditionen rezipiert hat.
Ein Verdienst des Handbuches ist es, für den Formenreichtum des Seghers’schen Werkes zu sensibilisieren. Manches, was unter Vorurteilen über eine orthodoxe DDR-Literatin verschüttet war, kommt wieder ans Licht, und die These, Seghers habe ihr Talent der politischen Korrektheit geopfert, wird überzeugend widerlegt. Mag sie zwar gelegentlich zwischen ihrer linientreu-sozialistischen Gesinnung und einem sehr viel differenzierteren Verständnis von Literatur laviert haben, so insistierte sie doch stets darauf, dass Literatur mehr sei als Didaktik (und distanzierte sich implizit auch vom Programm des ‚Bitterfelder Wegs‘).
Obwohl die Lesbarkeit mancher Beiträge durch den buchhalterischen Hang ihrer Verfasser*innen zu lexikalischer Vollständigkeit erschwert ist, kann der Wert dieses Buches, das das literarische Werk einer großen Autorin des 20. Jahrhunderts – ungeachtet ihrer diskussionswürdigen politischen Haltung – in den Fokus rückt, gar nicht hoch genug geschätzt werden. Ein Wermutstropfen: der hohe Preis. Die geringfügig billigere E-Book-Version ist keine Alternative, denn sinnvoll nutzbar ist ein solches Werk eigentlich nur in gedruckter Form. Deshalb die dringende Bitte an den Verlag, mit einer preiswerten Studienausgabe nicht – wie beim Christa Wolf-Handbuch – vier Jahre zu warten.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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