Frühes Lehrstück über Rassismus und Identität

William Melvin Kelley erzählt in seinem 1965 erstmals erschienen Roman „Ein Tropfen Geduld“ auf ebenso ergreifende wie selbstbewusste Weise vom Lebensweg und der Identitätsbildung eines blinden schwarzen Jazzmusikers

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Südstaaten der 1920er Jahre wird der fünfjährige Ludlow Washington von seinem Vater ganz unvermittelt in einem Heim für blinde schwarze Kinder abgeliefert. Hier erfährt er den strukturellen gesellschaftlichen Rassismus auf ungeheuerliche Weise gespiegelt – er wird von einem sechsjährigen Jungen in Besitz genommen und muss ihm bedingungslos gehorchen: „Denn du bist ab jetzt mein Sklave. Ich bin dein Herr.“

Um später ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, erlernen die Kinder unter dem gewalttätigen Regiment der Heimleitung verschiedene Musikinstrumente und Ludlow spielt zunächst Klavier und ab neun ein Blasinstrument. Schnell wird sein Talent deutlich und schon mit 16 wird er an einen Jazz-Bandleader verkauft, um in New Marsails in einem anrüchigen Club namens „Boones Café“ zu spielen: „Er war verkauft worden, hatte einen neuen Herren, aber wenigstens war er nicht mehr im Heim.“ 

Der zunehmend selbstbewusste Ludlow macht erste sexuelle Erfahrungen mit einer Prostituierten aus dem Club und heiratet schließlich die Tochter seiner Vermieterin, die bald auch schwanger wird. Doch dann bekommt er ein Jobangebot in New York bei der berühmten Sängerin Inez Cunningham und verlässt seine Familie. Er wird mit seinem Leitstern Norman Spencer als Erneurer des Jazz berühmt und stürzt sich in eine leidenschaftliche Liebe mit der jungen Weißen Regan. Als er sie heiraten will, muss er jedoch auf schmerzlichste Weise einmal mehr die Schranken zwischen Weiß und Schwarz erfahren: „Die Verletzung ging so tief, dass sie Nerven durchtrennte.“ 

Ludlow hat einen Nervenzusammenbruch und tritt mit einem absurden Black-Facing in der Art einer Ministrel-Show vor sein Publikum – und zerstört damit seine glänzenden Karriereaussichten.

Ein Tropfen Geduld ist der dritte Roman des schwarzen Autors William Melvin Kelley gewesen und erschien zu einer Zeit, als das schwarze Amerika und auch die schwarze Literatur dramatische Umwälzungen erlebte. Er war einer der jungen Nachwuchsschriftsteller, die auf Größen wie James Baldwin und Ralph Ellison folgte. 

In Ein Tropfen Geduld besticht er durch eine knappe und lakonische Prosa und skizziert mit wenigen Strichen sowohl die Geschichte des amerikanischen Rassismus wie die Geschichte des Jazz als genuin schwarzer Kunstform. Umso beeindruckender ist der Weg seinen blinden Helden Ludlow, der den Jazz in erster Linie als Broterwerb sieht und dennoch über die Jahre zu seinem Erneuerer wird. Er, der die Welt nur hört, fühlt, schmeckt und riecht und der die Unterschiede zwischen Schwarz und Weiß nicht sehen und daher auch lange nicht verstehen kann, stößt doch immer wieder schmerzhaft vor die Rassenschranken und muss in dramatischer Weise erkennen: „Sie [die Weißen] wollen, dass wir das sind, wofür sie uns halten.“ Diese Erkenntnis hat einen tiefen Riss in Ludlows bis dahin angesichts der Umstände seines Aufwachsens erstaunlich intakten und unhinterfragten Identität als schwarzer Jazzmusiker zu Folge, der nur langsam wieder verheilt.

Titelbild

William Melvin Kelley: Ein Tropfen Geduld.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455012262

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