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Judith N. Shklar lässt in „Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl“ den Opfern Gerechtigkeit widerfahren

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1992 verstorbene Politologin Judith N. Shklar lehrte an der Harvard University und galt als eine engagierte Verteidigerin des Liberalismus. Eine ihr gewidmete Festschrift heißt Liberalism Without Illusion – ein fürwahr programmatischer Titel, denn ihre gesellschaftspolitischen Analysen waren wohl alle auf ihre Art illusionslos, aber nie ratlos. An den jetzt wieder zugänglichen Erkundungen zum Thema Ungerechtigkeit lässt sich erneut erkennen, was illusionslos für sie konkret bedeutete, nämlich ein klarer, begründbarer Blick für richtig und falsch in Fragen sozialer Relationalität und politischer Macht und deren Auswirkungen auf den Menschen. Dass sie dabei oft auf philosophisches und auch literarisches Terrain vorstößt, um sich von Fall zu Fall argumentative Unterstützung oder auch Illustrationen des Gemeinten heranzuziehen, steht für ihren intellektuell weit gezogenen Horizont wie für ihre Tiefgründigkeit. Und dass sie dabei selbst einen angenehm lesbaren literarischen Stil pflegte, fernab von einschüchterndem oder ausschließendem Fachjargon, zeichnet ihre publizistische Arbeit zusätzlich aus. Was sich allerdings bei ihr so angenehm liest, behandelt zumeist Unangenehmes, nämlich beispielsweise die Wahrheit über das eklatante Missverhältnis von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und von unseren Verdrängungen und argumentativen Verdrehungen, die uns Menschen allzu oft im Einverständnis mit Bequemlichkeitslösungen erscheinen lassen.

Die Wiederveröffentlichung von Über Ungerechtigkeit im Verlag Matthes & Seitz ist erfreulich zu nennen wie auch die Tatsache, dass sich der Verlag überhaupt dem Werk von Shklar angenommen hat und mittlerweile fünf Titel im Programm führt. Der hier besprochene Band war ursprünglich 1992 im Rotbuch Verlag erschienen und stellt einen Nachdruck dar, der heute so aktuell und wichtig ist wie vor dreißig Jahren.

Die Kernaussage: Dem Menschen scheint ein Sinn für Ungerechtigkeit angeboren zu sein. Das Gefühl rangiert gleichsam als eine anthropologische Konstante und als ein wesentliches Element menschlicher Sozialität. Aber weder verhindert es Ungerechtigkeit noch klärt es, was denn gerecht sei. Shklars Thema umkreist die persönliche und politische Ungerechtigkeit „und wie wir als Handelnde und insbesondere als Opfer auf sie reagieren“. Am Anfang steht die Erkenntnis über den Abstand zwischen Theorie und Praxis, wo es um das Wissen von Ungerechtigkeit geht. Diesen Abstand gilt es handelnd zu verringern, „anstatt nur Abhandlungen darüber zu lesen, was wir sein und tun sollten“. Denn jedes der üblichen Modelle von Gerechtigkeit hält an dem unbegründeten Glauben fest, „wir könnten einen unveränderlichen und starren Unterschied zwischen einer Ungerechtigkeit und einem Unglück erkennen“. Dem ist keineswegs so. Was hier jedoch helfe, so die Autorin, sei, die alltägliche Opfer-Erfahrung zu beleuchten. Denn auffallend sei, wieviel mehr Aufmerksamkeit die Ungerechten als die Opfer der Ungerechtigkeit erhalten. Die enorme Schwierigkeit, mit den Opfern zurechtzukommen, liege eben am Modell der Gerechtigkeit und seinen bestehenden Regeln, Opfer zu identifizieren.

Abstraktes Denken führt dabei ebenso wenig zum Ziel wie schematische Regeln. Wie ließen sich in einer pluralistischen Gesellschaft, die zu unserem Lebensraum geworden ist, Regeln formalisieren?

Ja, oftmals handeln wir Vergleiche aus, von denen viele alles andre als gerecht sind, einfach um unsere verschiedenen Vorhaben durchführen zu können, und die Opfer, ‚müssen lernen, damit zu leben‘.

Wir kennen dieses Denken nur allzu gut als Zweck-Mittel-Rationalität und als Sachzwänge, camoufliert als Pragmatismus. Es ist genau so beliebt wie die Umdeutung von Ungerechtigkeit in Unglück. Und seine Nachbarinnen heißen Gleichgültigkeit und Ignoranz. Das sind die Eigenschaften, die Shklar in Verbindung bringt mit dem, was sie „passiv ungerecht“ nennt und so definiert: „die persönlichen Maßstäbe von Staatsbürgerschaft zu unterschreiten“. Als überzeugte Liberale hält sie aber gerade an der individuellen Verantwortlichkeit fest, mithin an staatsbürgerlicher Verantwortung, die sich nicht damit verträgt, Dinge einfach ihren Lauf nehmen zu lassen. Wegschauen sei das Problem. Wer dies angesichts von Betrug und Gewalt tue, der versage „in seiner Eigenschaft als Bürger“, denn er sei es auch, der ständig betont, das Leben sei nun mal ungerecht, um damit zugleich die Opfer aus der Wahrnehmung zu verbannen. Man will nicht auffallen, verweigert Engagement selbst dort, wo es nichts kosten würde.

Das Fatale daran: „Die meisten Menschen sind sich in einer solchen Situation vollkommen darüber im Klaren, was sie tun: Sie spielen der Ungerechtigkeit in die Hände […].“ Rousseaus Gedankenwelt folgend, erklärt Shklar den Sinn für Ungerechtigkeit als „ein unausrottbares soziales Gefühl“, denn was wir einander antun, sei zugleich der Grund, dass uns dieser Sinn nie verlasse. „Zusammen mit Konventionen und Pflichten entstehen Lug und Trug“, heißt es dazu lakonisch in Rousseaus Émile.

Eher kursorisch behandelt Shklar das Thema Vergeltung und Rache, die aus der Erfahrung von Ungerechtigkeit resultieren können, und ebenso das Thema Anerkennung. Was die Anerkennung betrifft, so ist sie in der Tat mehr als nur eine Genugtuung gekränkter Ehre, denn am Ende stehe das Eingeständnis, „dass es falsch und unrecht ist, jemanden ein Mindestmaß an menschlicher Würde zu verweigern“. Hier sei vor allem auf Axel Honneths bedeutende sozialphilosophische Arbeiten zur Anerkennungstheorie hingewiesen. Und was das Thema der Rache betrifft, liefert Martha Nussbaum mit Zorn und Vergebung eine gedankliche Vertiefung und einen differenzierten Blick auf menschliche Verhaltens- und Verarbeitungsweisen, denen die Erfahrung von Herabsetzung, Gewalt und Ungerechtigkeit vorausgehen. Hierher passt auch Shklars Kritik am Paternalismus, insbesondere wenn er sich weigert zu erklären, warum sich die angeblichen Nutznießer eines paternalistischen Gesetzes den schützenden Eingriffen in ihr Leben fügen müssen, denn hier setzt Paternalismus mal eben „die Inkompetenz der Menschen voraus“.

Der Band beschert alles in allem eine erhellende Lektüre. Sein Wahrheitssinn ist luzide und so von einer Deutlichkeit und Unaufgeregtheit, der mir als Leserin zu verstehen gibt, wie sehr ich als Bürgerin einer Demokratie darin mitgemeint bin. Was nichts anderes heißt, als sich bei dieser oder jener Kritik durchaus ertappt zu fühlen. Das Schlusswort sei Judith N. Shklar gegönnt:

Wann sollten wir unseren Sinn für Ungerechtigkeit freimütig zum Ausdruck bringen und wann den Mund halten? Was ist Pech, was ungerecht? Ich wollte keine Grenze zwischen diesen Begriffen ziehen, denn die These dieses Buches lautet, dass sich eine solche Grenze nicht allgemein und abstrakt ziehen lässt. Welche Entscheidung wir auch immer treffen, sie wird so lange ungerecht sein, wie wir der Perspektive der Opfer nicht uneingeschränkt Rechnung tragen und ihrer Stimme nicht volles Gewicht beimessen. Weniger zu tun ist nicht nur unfair, sondern politisch gefährlich. Bürger eines demokratischen Staates haben die besten Möglichkeiten, zu den erträglichsten Entscheidungen zu gelangen – aber gewiss nicht immer, bedenkt man Ausmaß, Vielfalt und Dauerhaftigkeit menschlicher Ungerechtigkeit.

Titelbild

Judith N. Shklar: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl.
Hg. von Hannes Bajohr.
Aus dem amerikanischen Englisch von Christiana Goldmann.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
250 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783751803380

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