Ist Leben denn eine gewaltige Lichtexplosion?

Jamaica Kincaid und ihre Liebe zur Heimat Antigua

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jamaica Kincaid (Pseudonym), wurde 1949 auf der Karibikinsel Antigua geboren. Als Siebzehnjährige emigrierte sie nach Beendigung der Schule nach New York, wo sie zunächst als Au-pair-Mädchen arbeitete, bevor sie studieren konnte. Ihre erste Erzählung erschien 1978 im New Yorker und machte sie sogleich berühmt, die Stadt jubelte über diese neue literarische Stimme. Schon im gleichen Jahr erschien der Erzählband Am Grunde des Flusses. Sie legte sich das Pseudonym zu, damit sie über ihre Familie schreiben könne, ohne jemanden zu verletzen.

Fast ihr ganzes Werk kreist nämlich um ihre familiären Bindungen: sie schrieb über sich selbst, die Mutter, den Bruder, den Vater, ihre Ehe. Alle Texte stützen sich weitgehend auf persönliche Erfahrungen und Erinnerungen, alle sind autobiographisch geprägt. Ein weiteres Thema ist ihre Leidenschaft für die Gärtnerei und so publizierte sie Bücher über Bäume, Sträucher und Blumen.   

Bislang sind neun Bücher der Autorin auf Deutsch erschienen, in verschiedenen Verlagen und mit wechselnden Übersetzern. Sarah Kirsch übertrug z. B. die Erzählungen Am Grunde des Flusses (1978), von denen Susan Sonntag behauptete, sie gehörten zum aufregendsten, „was ich an Prosa in den letzten Jahren gelesen habe“. Es überrascht daher, dass die Autorin noch immer als ein Geheimtipp für Literaturliebhaber gilt. Daher ist die Initiative des Kampa-Verlags, der Autorin zu neuer Aufmerksamkeit zu verhelfen, notwendig und lobenswert. Vier Titel sind bislang erschienen: der Roman Annie John (1985) über ihre Kindheit, der über ihren Vater Mister Potter (2002), die Erzählungen Am Grunde des Flusses. Hinzu kommt der einzige Essay, Nur eine kleine Insel (1988), der eine prägnante Bestandsaufnahme der Geschichte und Gegenwart ihrer Heimatinsel liefert.  

„Antigua ist ein kleines Fleckchen Erde, eine kleine Insel. Sie ist neun Meilen breit und zwölf Meilen lang“. Aber ihre fünf Jahrhundert währende Geschichte fängt wie ein Brennglas die Probleme der „Entdeckung“, Eroberung und der Kolonialzeit ein, zeigt quasi stellvertretend und en miniature die gewaltigen Übel auf, die die Karibik und ganz Lateinamerika unverändert plagen. Eine Aufarbeitung der Jahrhunderte währenden Fremdbestimmung durch europäische Imperien muss dringlich geleistet werden.  

Die Analyse von Kincaid ist hart und deutlich: 

Die Insel wurde im Jahr 1493 von Christoph Kolumbus entdeckt. Nicht lange danach wurde sie von menschlichem Abfall aus Europa besiedelt, welcher unterjochte, aber edle und erhabene Menschen aus Afrika benutzte (alle Gebieter sind ohne Unterschied Abfall, und alle Sklaven sind ohne Unterschied edel und erhaben, das steht außer Frage), um sein Verlangen nach Reichtum und Macht zu befriedigen.

Die Autorin wendet sich an die Touristen, die einfach nur die Schönheit der Strände und die üppige Vegetation genießen wollen und die Dienstleistungen der Schwarzen für selbstverständlich halten. Das aber erlaubt die Autorin nicht, sie stellt die oft verstörenden Fakten für ein besseres Verständnis dar.  

Der Westen ist nicht durch die freie (frei bedeutet in diesem Fall: umsonst zu haben) und damals über Generationen hinweg unterbewertete Arbeitskraft von Leuten meinesgleichen reich geworden, die sie in Antigua herumlaufen sehen, sondern durch die Findigkeit kleiner Ladenbesitzer in Sheffield und Yorkshire und Lancashire und wo auch immer.    

Dieser brillante Text ist eine Generalabrechnung mit dem Kolonialismus, in Worten von Salman Rushdie „ein Klagelied von großer Klarheit und einer Kraft, die man wild nennen würde, wäre nicht die Sprache so überaus beherrscht“. Über ihre Schulzeit schreibt sie: 

Dann gab es die Rektorin einer Mädchenschule. Sie war über das Kolonialamt in England angestellt worden, um in Antigua diese Schule zu leiten … Diese Frau war sechsundzwanzig Jahre  alt, noch nicht lange von der Universität abgegangen; sie stammte aus Nordirland. Sie herrschte die Mädchen fortwährend an, sie sollten gefälligst aufhören, sich wie frisch aus dem Urwald gekommene Affen aufzuführen.

Ja, und so geht es weiter, die Demütigungen scheinen nie aufzuhören. Über einen Engländer, also einen der „klugen Leute, die wissen, wie man die Dinge anpackt“, befindet sie: „jetzt, nachdem das Empire untergegangen ist, haben sie nichts zu tun; sie bieten einen traurigen Anblick, wie sie so auf dem Abfallhaufen der Geschichte sitzen“. Aber vorher haben sie ihre Kolonien in der ganzen Welt aufgebaut. 

Ich möchte Ihnen mal zeigen, wie das aus unserer Perspektive aussah: Sie kamen. Sie nahmen Dinge, die Ihnen nicht gehörten, und sie haben nicht einmal, um die Form zu wahren, zuerst darum gebeten … Sie haben Menschen umgebracht. Sie haben Menschen eingesperrt, Sie haben Menschen ausgeraubt. Sie haben Ihre eigenen Banken eröffnet, und Sie haben unser Geld reingesteckt.

Der nur hundert Seiten lange Essay ist von brennender Aktualität, er konfrontiert die Leser mit dem Kolonialismus aus der Sicht einer Betroffenen, d. h. er zeigt die Wirklichkeit und das Empfinden der Nachkommen von Sklaven, von den Besiegten. Und kritisiert auch die Emporkömmlinge, die die alten Strukturen und Hierarchien übernehmen, um sich ungehindert zu bereichern. Entlarvend. Das Buch sollte in keiner Debatte um Dekolonisierung, Postkolonialismus und Rassismus fehlen.

In ihren Romanen schildert Jamaica Kincaid die alltäglichen Erniedrigungen, die sie und ihre Familie erfahren haben, und auch die kleinen Freuden und Erfolge, die Bemühungen vor allem der Frauen, um ein besseres Leben zu führen – sie sind das Narrativ, das den Aufschrei von Nur eine kleine Insel ergänzt. Unbedingt lesen!

Titelbild

Jamaica Kincaid: Nur eine kleine Insel.
Aus dem Englischen von Ilona Lauscher.
Kampa Verlag, Zürich 2021.
112 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783311100683

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Titelbild

Jamaica Kincaid: Am Grunde des Flusses. Erzählungen.
Aus dem Englischen von Sarah und Moritz Kirsch.
Kampa Verlag, Zürich 2021.
144 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783311100669

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