Formen der Moderne in Großstadtromanen

Eine interkulturelle Studie von Yoko Suginaka vergleicht Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ mit „Die Rote Bande von Asakusa“ von Kawabata Yasunari

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der japanische Schriftsteller Kawabata Yasunari (1899–1972), im Folgenden gemäß der Namensschreibung der vorzustellenden Studie, ist heute sicherlich nur mehr einem kleinen Leserkreis in Deutschland ein Begriff, viele deutschsprachige Textausgaben sind vergriffen. Dabei erhielt er 1968 als erster japanischer Autor den Nobelpreis für Literatur und galt zu Lebzeiten als literarischer Rebell, der besonders in seiner frühen, experimentellen Schaffensperiode einer der wesentlichen Wegbereiter des japanischen Modernismus war. Die geringe Präsenz im aktuellen deutschsprachigen Literaturbetrieb ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass seine literarischen Werke als schwer zu übersetzen gelten sowie durch genuin japanische Themen, Motive und Sujets bestimmt sind. 

Allerdings zeigt die Studie der 1960 in Osaka geborenen Komparatistin Yoko Suginaka, dass in Japan in den 1920er Jahren die literarischen Impulse aus Europa intensiv rezipiert und für neue Schreib- und Gestaltungsverfahren genutzt wurden. Erschienen als zweiter Band der neuen Reihe Studien zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft des Aisthesis Verlages, liefert Suginakas Buch einen interkulturellen Vergleich unterschiedlicher Modernitätskonzepte in Japan und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Beispiel der fast zeitgleich entstandenen Großstadtromane Die Rote Bande von Asakusa (1929/1930 erstveröffentlicht) von Kawabata Yasunari und Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929) des ebenfalls vielfach ausgezeichneten Schriftstellers Alfred Döblin zeigt die Studie, eine Dissertationsschrift an der Universität Bonn unter Betreuung des Germanisten Jürgen Fohrmann, wie Modernisierungsprozesse in Deutschland und Japan abgelaufen sind und wie „unterschiedliche Verhältnisse zwischen Altem und Neuem sichtbar“ werden in literarischen Texten.

Im Fokus der Arbeit steht die Frage nach dem spezifischen Verständnis eines vielfältigen Moderne-Konzepts, was auch die Wahl der verglichenen literarischen Texte plausibel motiviert. In vier Kapiteln geht die Wissenschaftlerin einer präzisen Forschungshypothese nach: 

Denn wenn Autoren als zeitgenössische Beobachter die moderne Gesellschaft in ihren literarischen Texten darstellen, spiegeln sich in ihnen die Modernisierungsprozesse der Gesellschaft wider. Wenn sich die Moderne in Europa und in nicht-europäischen Ländern wie Japan verschiedenartig ausgeprägt hat, werden die Unterschiede anhand der exemplarischen Texte der literarischen Moderne sichtbar.

Dazu werden im Einleitungskapitel konzis Unterschiede zwischen der deutschen und japanischen Moderne herausgearbeitet. Unter Rückgriff auf sozialgeschichtliche und kulturtheoretische Modelle, etwa von Reinhart Koselleck oder Hans Ulrich Gumbrecht, wird das europäische Verständnis der Moderne als Entwicklungskonzept beschrieben, wobei es im entsprechenden Modernisierungsprozess zu einer sukzessiven „Absetzung des Alten durch das Neue“ gekommen sei. Hingegen sei in Japan von einem „Nebeneinander von Altem und Neuem“ auszugehen, da die dortige Modernisierung seit der Meiji-Restauration im 19. Jahrhundert oftmals als „schmerzhafte“ Verwestlichung und „von außen“ dem Land aufoktroyierte Entwicklung interpretiert werde. Gerade die Wahrnehmung und Literarisierung des Lebens und der Kultur (in) der modernen Großstadt mache entsprechende Facetten besonders greifbar.

Das zweite und dritte Kapitel bilden den Hauptteil der Studie, sie sind mit annähernd paralleler Struktur der detaillierten Analyse der einzelnen Texte Döblins und Kawabatas mit Fokus auf die Relation von „Altem und Neuem“ im Kontext eines Modernisierungsprozesses gewidmet. Dazu findet sich im zweiten Kapitel eine umfassende Relecture und Neuinterpretation von Döblins Essay Der Geist des naturalistischen Zeitalters (1924), welchen Suginaka nutzt, um Epochenmerkmale abzuleiten, da der Text „bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren“ habe als Beitrag zum Modernediskurs. Zugleich grenzt sie sich von Forschungspositionen ab, die Döblins Einstellung zur Technik einseitig deuten, und plädiert hingegen für eine Lesart, die um eine vermittelnde Formel kreist: „Nicht totale Zerstörung des Alten, sondern Reform zum Neuen“. Döblin habe gerade den sozialen Auswirkungen der Technisierung und Urbanisierung auf der Basis der Wahrnehmungen in der Großstadt Berlin nachgespürt. 

Literarisch schlägt sich diese Wahrnehmung in Berlin Alexanderplatz und dem darin vertretenden Modernisierungskonzept nieder. Bereits die intendierte Gattungswahl Döblins, ein „modernes Epos“ statt eines „veralteten“ Romans, verdeutliche den besonderen Status des Textes. In differenzierter Detailanalyse wird zunächst der Fokus auf die Gegenwartsdarstellung aus figuraler Perspektive Biberkopfs gerichtet, um die „Gleichzeitigkeit des Heterogenen in der Stadt“ zu betonen. Hingegen wird die Vergangenheit als „Tabula rasa“ interpretiert, was sich im Bereich der Stadtdarstellung vor allem im „Motiv der Baustelle“ artikuliere. In der Figur des Franz Biberkopf zeige sich die ambivalente Wirkung von Gewalt, welche die Verwandlung des alten zum neuen Biberkopf evoziere. Der Schluss des Textes wird gelesen als „Vorschlag für das Leben in der modernen Großstadt“ durch Bejahung der Veränderung und Zukunftsorientierung: Der Erzähler „ist weder pessimistisch noch verzweifelt. Er akzeptiert grundsätzlich die sich stets erneuernde moderne Gesellschaft und sieht sie als Lebensort.“ 

Das dritte Kapitel arbeitet das Verhältnis zwischen Altem und Neuem in den Texten von Kawabata Yasunari auf. Zunächst wird kompakt die eklektische Art und Weise der gesellschaftlichen Modernisierung Japans skizziert, die vor allem in der Industrialisierung und Stärkung der Militärkraft sowie Bildungsreformen und einer neuen Verfassung einerseits, aber auch in Prozessen der Urbanisierung – vor allem des Großraums Tokio – und in der Verwestlichung des Alltagslebens anderseits deutlich werde. Die literarische Modernisierung in Japan hat vor allem zur Adaption europäischer Stile und Schreibweisen im Bereich des Naturalismus geführt, zudem sind sukzessive neue literarische Bewegungen – sowohl proletarische Literatur als auch modernistische Literatur – entstanden, welche in den 1920er Jahren zur Debatte um „Shinkankakuha“ geführt hat: 

Als die erste modernistische Strömung in den 1920er Jahren gilt Shinkankakuha (die Gruppe der Neo-Sensualisten). Diese Gruppe erhob gegenüber der bestehenden Literatur den Anspruch, Neues zu schaffen, da nach ihrer Ansicht die naturalistische Literatur dem modernen Zeitalter nicht mehr entsprach. […] Der Autor Kawabata Yasunari setzte sich als ein wichtiger Vertreter dieser Gruppe für die Erneuerung der Literatur ein.

Programmatisch stellt Suginaka dazu den Essay Neues Leben und neue Literatur (1924) vor, in dem die „Erwartung und Hoffnung auf das Neue“ vorrangig im Bereich der literarischen Ausdrucksformen deutlich werde. 

Dies belegt auch der Roman Die Rote Bande von Asakusa, der nicht ohne Grund den Schauplatz Asakusa wählt: Der in vierundzwanzig Kapitel gegliederte Text schildert den Stadtteil Tokios Ende der 1920er Jahre als ein Zentrum der Massenkultur und der volkstümlichen Unterhaltung, welches Kawabata aus eigener Anschauung als temporärer Bewohner bestens kannte. Der Roman wird in der Studie differenziert und akribisch analysiert mit Blick auf gattungstypologische, narratologische, vor allem aber Kategorien des Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei zeigt die Analyse, dass hier ein kulturelles Grundmuster des Modernediskurses deutlich wird: „das Neue ergänzt das Bestehende“, was vor allem durch eine eklektische Praxis und durch die Darstellung des Stadtviertels Asakusa als spielerischer Raum der Vermischung gelingt. 

Den ausführlichen Einzelinterpretationen schließen sich im vierten Kapitel, der „Schlussbetrachtung“, vergleichende Schlussfolgerungen und ein kompaktes Gesamtresümee sowie recht allgemeine methodische Überlegungen an. Suginaka konstatiert plausibel: 

Obwohl Döblin und Kawabata für das Neue plädierten, kam ihre Zustimmung gänzlich verschieden zum Ausdruck. Während Döblin mittels der Kampf-Metapher polemisch vorgeht, um die Erneuerung zu behaupten, lässt Kawabata die Erneuerung […] als natürlichen Wandel erscheinen.

Recht unspezifisch wird dies methodologisch mit Problemen einer interkulturell vergleichenden Untersuchung verknüpft, die auf wenigen Seiten die Chancen und Herausforderungen einer Analyse kulturspezifischer Muster beleuchtet. 

Insgesamt kann die Arbeit einen mehrfachen Erkenntniswert für Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler beanspruchen: Einerseits gibt es mehrere Studien zu Alfred Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz, aber die europäisch-westliche Perspektive respektive Lesart dominiert. Demgegenüber füllt die vorliegende Arbeit eine Lücke, da sie einem kulturellen Universalismus die „Anerkennung der Differenzen“ entgegenhält. Insoweit leistet die Autorin mit ihrer Untersuchung einen wichtigen Beitrag zum Verständnis einer Pluralität gesellschaftlicher im weiteren und kultureller ‚Modernen‘ im engeren Sinne. Andererseits ruft sie die Gestaltungsoffenheit des Großstadtromans in der klassischen Moderne an ganz unterschiedlichen Schauplätzen und vor dem Hintergrund divergenter kultureller Identitäten in Erinnerung – verbunden mit der intensiven Vorstellung und Analyse eines im deutschen Sprachraum kaum gelesenen Großstadtromans eines bedeutenden japanischen Schriftstellers. 

Titelbild

Yoko Suginaka: Zwei Formen der Moderne. Die Großstadtromane ‚Berlin Alexanderplatz‘ von Alfred Döblin und ‚Die Rote Bande von Asakusa‘ von Kawabata Yasunari.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2021.
226 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783849817435

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch