Dante lesen

Zur Neuübersetzung von Dantes „Commedia“ durch Bernhard Christ

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Heidelberger Philologe Karl Bartsch (1832–1888) hatte seiner Übertragung von Dantes Divina Commedia 1876 ein knappes Vorwort vorausgeschickt, in dem er die Prinzipien seiner Übersetzertätigkeit erläutert. Dem Mediävisten war es wichtig, Literatur und Philologie zu versöhnen. Seine Übertragung sollte zwar wortmächtig sein, dabei das Original aber nicht aus den Augen verlieren. Deshalb sprach er sich vehement gegen eine Übertragung von Lyrik in Prosa aus, um die dichterische Ausdruckskraft des Originaltextes zu erhalten. Bartsch orientierte sich an seinen Vorläufern Kannegießer und Streckfuß, und seine Terzinen-Übersetzung fügt sich heute ein in die ganze Palette der mittlerweile ca. sechzig vorliegenden Gesamtübersetzungen und zahlreichen Teilübersetzungen der Divina Commedia in deutscher Sprache.

2010 hatte der mittlerweile verstorbene Romanist Hartmut Köhler eine vielbeachtete und umfassend kommentierte Prosaübersetzung vorgelegt, 2011 folgte die von vielen „Dantisten“ jedoch zwiespältig beurteilte Prosaübertragung des Philosophen Kurt Flasch. Damit hatten sich Köhler und mit ihm große Teile der Dante-Philologie vom Prinzip „Reim dich oder ich fress dich“ konsequent verabschiedet. Köhler stellte dem italienischen Text seine Übertragung jeweils auf einer Doppelseite gegenüber, um einen zeilengenauen Vergleich zu ermöglichen, ergänzt um den Kommentar, orientiert an der Zeilenzählung des originalen Textes.

Der Basler Jurist und passionierte Dante-Leser Bernhard Christ hat nun, passend zum Dante-Jubiläumsjahr 2021, seine Neuübersetzung vorgelegt, in einer einbändigen Hardcoverausgabe im Basler Schwabe Verlag. Den Schutzumschlag ziert eine halbseitige Reproduktion des „Initiale Purgatorium“ aus dem Dante-Kommentar des Christoforo Landino (1424–1498; Wiegendruck von Ottaviano Scotto, Venedig 1484). Drei weitere Illustrationen, die den schematischen Aufbau von Inferno, Purgarorio und Paradiso zeigen, hat der Autor selbst gezeichnet. Weitere Zeichnungen (in Par. XIV, Anm. 102 und Par. XVIII, Anm. 116 hat Christ ebenfalls bereitgestellt: das Kreuz und die Endgestalt des Adlers folgen Kreuz und Reichsadler auf Veroneser Münzen aus der Zeit von Dantes Aufenthalt am Hof Cangrande Scaligers. 

Christs knappe, 16-seitige Einleitung verzichtet ausdrücklich auf eine eingehende Darstellung des Inhalts und des Aufbaus der Commedia; auch Dantes Leben, der geschichtliche Kontext seines Werks sowie die theologischen, philosophischen und politischen Quellen seines Denkens werden nicht referiert. Stattdessen beschränkt sich Christ „auf einige Umrisse, die den Einstieg in den Text der Übersetzung erleichtern sollen“ und stellt seiner Übertragung eine Chronologie zu Dantes Leben voran, die wesentliche Stationen des dichterischen Schaffens Dantes verdeutlicht und auf Textstellen seiner Übertragung vorausweist. Und anders als Köhlers Übertragung der Göttlichen Komödie bringt Christ den neu übertragenen Text „pur“, d.h. nur den deutschsprachigen Fließtext, ergänzt durch Fußnoten. „Fließtext“ ist hier wörtlich zu nehmen: Zwar gibt es Absätze, welche die Gesänge der Commedia typografisch unterteilen, aber vom Dante’schen Original bleibt deshalb wenig erhalten, und so es ist nicht erkennbar, dass es sich ursprünglich um eine Dichtung in Terzinen handelte. Leserinnen und Leser bekommen so den Eindruck vermittelt, einen historischen Prosaroman zu lesen.

Bei Köhler liest es sich auf S.8/9 folgendermaßen:

Canto I                                                  
Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura
chè la diritta via era smarrita.

Erster Gesang
Auf der Hälfte unseres Lebens fand ich mich
in einem finsteren Wald wieder, denn der gerade Weg war
verloren.   

Bei Christ lautet die gleiche Stelle auf S. 35:

I.Gesang
Verirrung im Wald, Begegnung mit Vergil
Auf halber Stecke unseres Wegs durchs Leben1 fand ich mich in einem finstern Wald, sowie die rechte Straße mir verloren ging.

Bei Köhler ist das höchstens eine Paraphrase, etwa: „Unser Leben gleicht einem Weg. Als ich meinen Weg zur Hälfte zurückgelegt hatte, da geriet ich eines Tages in große Nöte“ (S. 8). Die Köhler’sche Fassung verzichtet auch auf Fußnotenzeichen im Text und orientiert sich (wie in der Forschungsliteratur üblich) an einer Zeilenzählung der Verse. Der Gegenüberstellung von Original und Übersetzung folgt im obigen Beispiel eine fast ganzseitige Anmerkung zum übersetzten Wort „Hälfte“. 

Christ dagegen verwendet Fußnotenzeichen, die sich auf die entsprechende Zeile der Dante’schen Terzinen beziehen, beispielsweise auf Canto I, 27 in der folgenden Form:

[…] so wandte sich, noch immer auf der Flucht, mein Geist zurück, um den Durchgang zu mustern, der noch keinen Lebenden durchgelassen hat27

In der Konsequenz bedeutet dieses Verfahren, dass im Fließtext der Bezug auf den Text Dantes nicht sofort ersichtlich wird – wären da nicht die Fußnoten. Ein Vergleich mit anderen Fassungen (beispielsweise mit Streckfuß, Bartsch, Vossler oder der älteren, auch sehr verlässlichen Philalethes-Übersetzung), der für weitergehende Textanalysen notwendig und geboten ist, wird also wesentlich erschwert. In der Anmerkung zu seiner obigen Übersetzung bringt Christ auszugsweise das italienische Original („lo passo che noch lasciò già mai persona viva“), klärt die grammatikalische Struktur und erläutert den forschungsgeschichtlichen Hintergrund. Für den „Normalleser“ dürften die meist knappen Anmerkungen für das Verständnis der Commedia hinreichend sein und die nötigen Nachweise auch liefern. 

Anders als Köhler, der unterschiedlichste Belege anführt (Dantes biblische Bezüge und andere seiner Quellen, dazu Nachweise aus der internationalen Sekundärliteratur) und damit ein breites Abbild der aktuellen Dante-Forschung vermitteln kann, ist dies von Christ gar nicht beabsichtigt: Er orientiert sich an den Quellen Dantes (oft Vergils Aeneis), bringt ansonsten hauptsächlich eigene Erläuterungen und Querverweise zu seiner Übertragung der Commedia und bezieht sich vorwiegend auf die italienische Dante-Forschung. Seine Erläuterungen wollen die Dante-Forschung nicht weiterführen, ergänzen oder gar berichtigen. Sie sind als Erklärungen für eine, vor allem auch jüngere, Leserschaft gedacht, bei der heute nicht mehr die gleichen Vorkenntnisse der Bibel, der christlichen Theologie, der klassischen Mythologie und der Geschichte des Altertums und des Mittelalters vorausgesetzt werden können, wie das noch bei früheren Generationen möglich gewesen sein mag. Es ist ohnehin davon auszugehen, dass ein Werk wie die Commedia nicht unbedingt in einem Durchgang gelesen wird, sondern dass man sich einen einzelnen Gesang oder eine Reihe von Gesängen vornimmt. Wohl deshalb hat Christ Erklärungen, die ihm für das Verständnis wichtig erschienen, auch manchmal wiederholt, um mühsames Hin- und Herblättern entbehrlich zu machen.

Der Köhler’sche Text folgt der von Giuseppe Vandelli besorgten kritischen Ausgabe La Divina commedia (Mailand 1974), herausgegeben von der Società Dantesca Italiana, Christ bezieht sich lt. Einleitung auf die von Giorgio Petrocchi besorgte Ausgabe La Commedia secondo l’antica vulgata (Mailand 1966–1967).

Die Ausgabe des Schwabe-Verlags weist keinen Literaturanhang auf, Christ führt seine Quellen jedoch in der Einleitung auf: im Wesentlichen sind dies italienischsprachige Werke und die bewährten Übertragungen von Philaletes und von Karl Witte aus dem 19. Jahrhundert. Den Verzicht auf Verse begründet Christ folgendermaßen: Sein Verfahren bedürfe – „anders als vor siebzig Jahren, als Wolfgang Schadewaldt seine Übersetzung der Odyssee veröffentlichte – heute wohl keiner Rechtfertigung“ mehr. 

Karl Vossler hat in der Einleitung seiner in flüssigen, aber ungereimten Versen verfassten Übersetzung von 1941 treffend bemerkt, dass die Nachbildung von Dantes terze rime in deutschen gereimten Terzinen eher eine ‚akrobatische als eine künstlerische Aufgabe‘ sei. Die Übertragung in reimlose fünfhebige Jamben läuft dann freilich auf den aus der deutschen Klassik vertrauten Blankvers hinaus, und dann verfällt der deutsche Versfluss allzu leicht in deren Ton und versetzt damit Dantes Gedicht in einem ihm fremde Atmosphäre. Solcher Gefahr entgeht die Prosaübersetzung, und dies umso sicherer, je ‚prosaischer‘ sie ist.

Christ möchte mit seiner Neuübersetzung Klang und Rhythmus des Originals mit den Möglichkeiten der Zielsprache vereinen, den „von der lateinischen Periode beeinflussten Satzbau“ zwar in eine „geläufige Gegenwartssprache“ transformieren, jedoch nicht „einfach in ein gleichmäßiges ‚gutes, leicht lesbares Deutsch‘“ übertragen, da dies auf Kosten der Genauigkeit der Übersetzung gehen würde. Ob dieses Ansinnen gelungen ist und ob Christs Übertragung sich gegenüber früheren Prosa-Neuübersetzungen bewähren kann, müssen folglich die Leserinnen und Leser entscheiden: Diese neue Ausgabe der Commedia, verfasst von einem ambitionierten „Autodidakten“, wendet sich nicht unbedingt an ein Fachpublikum. Vielleicht könnte es gerade deshalb gelingen, einer Jahrtausenddichtung neue und breitere Leserkreise zu erschließen.

Titelbild

Bernhard Christ: Dante Alighieri: Commedia. Übertragen und erläutert von Bernhard Christ.
Schwabe Verlag, Basel 2021.
505 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783796544200

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